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Kampf um Kreuzberg
Im Berliner Szenekiez sorgen zwei Grossprojekte für Aufruhr. Die Anwohner fürchten, verdrängt zu werden. Ist das nur gerechtfertigt? Oder auch ein wenig selbstgerecht?
28. Mai 2018 - Alexandra Rojkov
Die Spuren des Gefechts sind noch nicht beseitigt. Dort, wo die Steine ins Fenster flogen, haben die Scheiben kreisrunde Sprenkel. «Wir haben es noch nicht geschafft, das Glas zu tauschen», sagt Dietmar Mueller-Elmau. Deshalb bleibt es vorerst kaputt, auch wenn das nicht zum Ambiente passt. Denn die beschädigten Fenster gehören zu einem Nobelhotel. Dieser betuliche Ort ist gleichzeitig Schauplatz eines Kampfes; eines Gefechts, das nicht nur das Hotel betrifft, sondern die ganze Gegend.
Es geht um die Frage, wem eine Stadt gehört. Denen, die sie sich leisten können? Oder denen, die zuerst dort waren? Gibt es ein Vorrecht auf öffentlichen Raum? Die Debatte beschäftigt in Berlin Bürger, Politiker – und Dietmar Mueller-Elmau, Geschäftsführer des Hotels «Orania» in Berlin-Kreuzberg.
Im August 2017 eröffnete Mueller-Elmau das «Orania». Es liegt in einem Eckhaus mit Jugendstilfassade an einer beliebten Strasse des Viertels. Im Inneren: dunkle Holzmöbel und fliessende Stoffe, eine offene Hotelküche und ein Kamin. Viele Jahre stand das Gebäude leer, nun beherbergt es 41 Zimmer. Die günstigste Übernachtung kostet 145 Euro, eine Nacht in der Suite aber mindestens 390 Euro. Zu viel, finden viele Kreuzberger. Sie wollen nicht akzeptieren, dass ihr einst günstiges Viertel nun von Menschen bewohnt wird, die solche Preise bezahlen können. Denn wo ein teures Etablissement eröffnet wird, zieht das nächste bald nach.
Sehnsuchtsort des Kulturproletariats
Gentrifizierung ist ein Problem, das viele europäische Städte betrifft: Weil die Mieten steigen, werden alteingesessene Bewohner verdrängt. In Paris oder London haben sich die Anwohner schon zurückgezogen – die Innenstädte dieser Metropolen sind für Normalverdiener heute unbezahlbar. In Berlin-Kreuzberg wollen es manche so weit nicht kommen lassen.
Das Viertel im Zentrum der deutschen Hauptstadt war lange Zeit der Inbegriff der Berliner Subkultur: einerseits zerschlissen und kriminalitätsbelastet, andererseits günstig und gut gelegen. Dieser Kontrast zog mit den Jahren immer mehr Menschen an: Studenten, Künstler – das Kulturproletariat auf der Suche nach dem Puls der Zeit. Kreuzberg wurde ein Sehnsuchtsort, jeder wollte etwas von der Coolness des Viertels abhaben. So auch Dietmar Mueller-Elmau.
Der Hotelchef stammt aus Bayern und ist Erbe des Schlosses Elmau; jenes Ortes, an dem einmal der G-7-Gipfel stattfand. Als ein befreundeter Anwalt das Haus des «Orania» in Berlin kaufte, bat er Mueller-Elmau, Geschäftsführer des künftigen Hotels zu werden. Seit dem Spätsommer 2017 ist es für Gäste geöffnet. Wenige Wochen danach wurden die Scheiben des «Orania» eingeworfen.
«Wir waren ein dankbares Objekt für die Proteste», sagt Mueller-Elmau. Für viele ist er das perfekte Feindbild: mit den Mächtigen verbandelt und reich genug, um sich in jeden Ort der Welt einzukaufen. Dabei, sagt der 63-Jährige, sei er nicht des Geldes wegen nach Kreuzberg gekommen. «Ich liebe Literatur und Musik. Und das alles findet man hier.»
Gentrifizierung ist nicht nur schlecht
Mueller-Elmau erzählt, er habe mit dem «Orania» ein «Wohnzimmer für Künstler» schaffen wollen, eine Art modernen Kultursalon. Tatsächlich treten im Restaurant regelmässig Berliner Musiker auf, in den oberen Etagen des Hotels werden Lesungen angeboten. Das Interieur wurde von Handwerkern aus dem Kiez geschaffen, am glänzenden Steinway-Flügel im Restaurant spielen ausschliesslich Pianisten aus Berlin. Ausserdem beschäftigt das «Orania» Flüchtlinge, die sonst vielleicht nur schwerlich eine Anstellung fänden.
Geld verdiene er mit dem Hotel nicht, eher sei es ein Verlustgeschäft, sagt Mueller-Elmau. Auch weil er wolle, dass die Kreuzberger etwas vom «Orania» hätten. Mueller-Elmau schuf 50 Arbeitsplätze, die er – genauso wie die auftretenden Künstler – gut bezahlt. Er wolle niemanden aus dem Kiez verdrängen, sagt der Hotelier, im Gegenteil. «Fast alle Hotelgäste besuchen die Buchhandlung gegenüber oder gehen in den Töpferladen in der Strasse», sagt Mueller-Elmau. Das Hotel schade den Anwohnern also nicht, im Gegenteil. «Gentrifizierung ist nicht nur etwas Schlechtes.»
Tatsächlich bemühte sich Berlin jahrelang, seine Kieze aufzuwerten und attraktiver zu machen. Weil viele Stadtviertel von Kriminalität und Verwahrlosung geprägt waren, pumpte der Senat Millionen in Sanierung und Nachbarschaftsprogramme. Gleichzeitig lockte die Politik Firmen in die Hauptstadt. So sollten Arbeitsplätze geschaffen und die Lebenssituation der Bewohner verbessert werden.
An vielen Stellen ging der Plan auf. Der Wrangelkiez beispielsweise, ein Kreuzberger Areal an der Spree, galt als Problemviertel. Heute ist es ein Szenestadtteil, in dem junge Berliner sich abends auf ein Bier treffen.
Die Entwicklung frisst ihre Kinder
Doch die Entwicklung frisst inzwischen ihre Kinder. Einige Viertel sind so angesagt, dass die Mietpreise explodieren. Das schafft Wut und Unverständnis. In Kreuzberg kommt eine Art Kränkung dazu: Viele Alteingesessene haben den Stadtteil durch ihren alternativen Lebensstil erst interessant gemacht. Nun werden sie an den Rand gedrängt, obwohl sie das Kreuzberger Lebensgefühl einst aufbauten.
Dieses Gefühl kennt auch Magnus Hengge. Der 48-Jährige zog fürs Studium aus Schwaben nach Berlin, seit Ende der 1990er Jahre wohnt er in Kreuzberg. Hengge engagiert sich bei «Bizim Kiez», einer Anwohner-Initiative, die Gentrifizierung bekämpft. Menschen wie Mueller-Elmau, sagt der selbständige Kommunikationsdesigner, wählten Kreuzberg, weil ihre Unternehmen vom Image des Stadtteils profitierten. Das findet Hengge dreist. «Sie schöpfen ab, was jahrzehntelang von der Bevölkerung aufgebaut wurde», sagt er.
Hengge hat selbst erlebt, wie es sich anfühlt, wenn die Miete sich plötzlich verdoppelt: Nachdem sein Mietshaus privatisiert worden war, sollte Hengge plötzlich viel mehr bezahlen. Er hatte Glück und fand eine neue Wohnung im Kiez. Doch für andere geht es um die Existenz.
Vor drei Jahren erfuhr Hengge, dass der Mietvertrag des Gemüseladens, in dem er einkauft, gekündigt wurde: Das Haus war verkauft worden, der neue Eigentümer plante darin offenbar Eigentumswohnungen. Der Gemüsehändler sollte ihnen weichen. Hengge wollte das nicht zulassen und organisierte ein Anwohnertreffen. Daraus entstand ein öffentlicher Protest – der Laden durfte bleiben. Doch an anderen Stellen in Kreuzberg müssen Einzelhändler oder Mieter immer höhere Preise bezahlen. Oder sich den Gesetzen des Marktes beugen und umziehen.
Zwar hat Berlin eine Mietpreisbremse, doch die kann leicht umgangen werden. Für Gewerbe gilt sie gar nicht. «Eine Änderungsschneiderei oder ein Gemüseladen kann sich die Preise schnell nicht mehr leisten», sagt Hengge. Mueller-Elmaus Argument, das Hotel komme auch den Anwohnern zugute, lässt er nicht gelten. «Kann sein, dass die Gäste die Buchhandlung nutzen. Aber eine Änderungsschneiderei oder einen Gemüsehändler brauchen sie nicht. Diese Läden müssen dann schliessen.»
An vielen Stellen in Kreuzberg kämpfen Anwohner und Aktivisten darum, dass ihr Kiez sich nicht weiter verändert. Neben dem Hotel «Orania» entzündet sich der Protest vor allem an einem Projekt von Google. Der Internetgigant plant in Kreuzberg einen «Google-Campus», ein digitales Zentrum, in dem Startups gefördert werden sollen. Im Netz haben sich Gegner zusammengeschlossen, um das Vorhaben zu stoppen. Auf der Website «Fuck off Google» sammeln sie Ideen, um die Firma aus ihrem Viertel zu vertreiben.
«Fuck off Google»
Die Menschen fürchten steigende Mieten im Umfeld des Campus, aber auch Überwachung durch den Konzern. Einige der Ängste sind konkret, andere diffus und überspitzt. Oft mischt sich berechtigte Sorge mit Globalisierungs- und Kapitalismuskritik. Dabei stammt ein Teil der Aktivisten von «Fuck off Google» selbst nicht aus Kreuzberg – sondern aus dem Ausland. Der Sprecher der Initiative, er wählt für sich das Pseudonym Larry Blankpage, ist Franzose. Andere Teilnehmer, erzählt er, seien Amerikaner und seien vor den Mietpreisen im Silicon Valley nach Kreuzberg geflüchtet.
Viele Kreuzberger sind selbst Zugezogene und haben einst davon profitiert, ihren Wohn- und Arbeitsort auf der Welt selbst wählen zu können. Auch sie haben mit ihrem Zuzug wahrscheinlich jemanden verdrängt. Nun, da sie selbst betroffen sind, führen sie den Protest an. Blankpage ist sich des Widerspruchs durchaus bewusst. Er sagt: Gerade weil seine amerikanischen Mitstreiter wüssten, wie sehr die Startup-Kultur eine Stadt verändere, wollten sie Berlin davor bewahren. «Ein Unternehmen kann das Problem der Gentrifizierung nicht lösen», sagt dagegen ein Sprecher von Google.
Kann man es Firmen vorhalten, dass sie den für sie attraktivsten Standort wählen – genauso wie Magnus Hengge oder die Aktivisten aus San Francisco es einst getan haben? Hengge gibt zu, dass man Betrieben den Zuzug nach Kreuzberg nicht verbieten könne. Aber moralisch sei ihr Verhalten fragwürdig. «Sie verursachen einen Preisanstieg im Kiez – ob sie es wollen oder nicht.»
«Fuck off Google» will nun zu zivilem Ungehorsam greifen, um den Google-Campus zu verhindern. «Was, wenn die Eröffnung ein Albtraum wird?», fragt Blankpage. «Wenn es jeden Tag Proteste gibt? Google wird nicht so dumm sein und den Campus trotzdem erhalten.»
Dietmar Mueller-Elmau und die Mitarbeiter des Hotels «Orania» haben sich dagegen mit den kaputten Scheiben arrangiert. Als eine Hotelbesucherin fragt, was denn mit den Fenstern passiert sei, beschwichtigt der Kellner. «Ach, das ist bei uns normal», sagt er. «Das hat was mit Gentrifizierung zu tun. Machen Sie sich keine Sorgen.» Die Sorgen der Anwohner jedoch bleiben.
Es geht um die Frage, wem eine Stadt gehört. Denen, die sie sich leisten können? Oder denen, die zuerst dort waren? Gibt es ein Vorrecht auf öffentlichen Raum? Die Debatte beschäftigt in Berlin Bürger, Politiker – und Dietmar Mueller-Elmau, Geschäftsführer des Hotels «Orania» in Berlin-Kreuzberg.
Im August 2017 eröffnete Mueller-Elmau das «Orania». Es liegt in einem Eckhaus mit Jugendstilfassade an einer beliebten Strasse des Viertels. Im Inneren: dunkle Holzmöbel und fliessende Stoffe, eine offene Hotelküche und ein Kamin. Viele Jahre stand das Gebäude leer, nun beherbergt es 41 Zimmer. Die günstigste Übernachtung kostet 145 Euro, eine Nacht in der Suite aber mindestens 390 Euro. Zu viel, finden viele Kreuzberger. Sie wollen nicht akzeptieren, dass ihr einst günstiges Viertel nun von Menschen bewohnt wird, die solche Preise bezahlen können. Denn wo ein teures Etablissement eröffnet wird, zieht das nächste bald nach.
Sehnsuchtsort des Kulturproletariats
Gentrifizierung ist ein Problem, das viele europäische Städte betrifft: Weil die Mieten steigen, werden alteingesessene Bewohner verdrängt. In Paris oder London haben sich die Anwohner schon zurückgezogen – die Innenstädte dieser Metropolen sind für Normalverdiener heute unbezahlbar. In Berlin-Kreuzberg wollen es manche so weit nicht kommen lassen.
Das Viertel im Zentrum der deutschen Hauptstadt war lange Zeit der Inbegriff der Berliner Subkultur: einerseits zerschlissen und kriminalitätsbelastet, andererseits günstig und gut gelegen. Dieser Kontrast zog mit den Jahren immer mehr Menschen an: Studenten, Künstler – das Kulturproletariat auf der Suche nach dem Puls der Zeit. Kreuzberg wurde ein Sehnsuchtsort, jeder wollte etwas von der Coolness des Viertels abhaben. So auch Dietmar Mueller-Elmau.
Der Hotelchef stammt aus Bayern und ist Erbe des Schlosses Elmau; jenes Ortes, an dem einmal der G-7-Gipfel stattfand. Als ein befreundeter Anwalt das Haus des «Orania» in Berlin kaufte, bat er Mueller-Elmau, Geschäftsführer des künftigen Hotels zu werden. Seit dem Spätsommer 2017 ist es für Gäste geöffnet. Wenige Wochen danach wurden die Scheiben des «Orania» eingeworfen.
«Wir waren ein dankbares Objekt für die Proteste», sagt Mueller-Elmau. Für viele ist er das perfekte Feindbild: mit den Mächtigen verbandelt und reich genug, um sich in jeden Ort der Welt einzukaufen. Dabei, sagt der 63-Jährige, sei er nicht des Geldes wegen nach Kreuzberg gekommen. «Ich liebe Literatur und Musik. Und das alles findet man hier.»
Gentrifizierung ist nicht nur schlecht
Mueller-Elmau erzählt, er habe mit dem «Orania» ein «Wohnzimmer für Künstler» schaffen wollen, eine Art modernen Kultursalon. Tatsächlich treten im Restaurant regelmässig Berliner Musiker auf, in den oberen Etagen des Hotels werden Lesungen angeboten. Das Interieur wurde von Handwerkern aus dem Kiez geschaffen, am glänzenden Steinway-Flügel im Restaurant spielen ausschliesslich Pianisten aus Berlin. Ausserdem beschäftigt das «Orania» Flüchtlinge, die sonst vielleicht nur schwerlich eine Anstellung fänden.
Geld verdiene er mit dem Hotel nicht, eher sei es ein Verlustgeschäft, sagt Mueller-Elmau. Auch weil er wolle, dass die Kreuzberger etwas vom «Orania» hätten. Mueller-Elmau schuf 50 Arbeitsplätze, die er – genauso wie die auftretenden Künstler – gut bezahlt. Er wolle niemanden aus dem Kiez verdrängen, sagt der Hotelier, im Gegenteil. «Fast alle Hotelgäste besuchen die Buchhandlung gegenüber oder gehen in den Töpferladen in der Strasse», sagt Mueller-Elmau. Das Hotel schade den Anwohnern also nicht, im Gegenteil. «Gentrifizierung ist nicht nur etwas Schlechtes.»
Tatsächlich bemühte sich Berlin jahrelang, seine Kieze aufzuwerten und attraktiver zu machen. Weil viele Stadtviertel von Kriminalität und Verwahrlosung geprägt waren, pumpte der Senat Millionen in Sanierung und Nachbarschaftsprogramme. Gleichzeitig lockte die Politik Firmen in die Hauptstadt. So sollten Arbeitsplätze geschaffen und die Lebenssituation der Bewohner verbessert werden.
An vielen Stellen ging der Plan auf. Der Wrangelkiez beispielsweise, ein Kreuzberger Areal an der Spree, galt als Problemviertel. Heute ist es ein Szenestadtteil, in dem junge Berliner sich abends auf ein Bier treffen.
Die Entwicklung frisst ihre Kinder
Doch die Entwicklung frisst inzwischen ihre Kinder. Einige Viertel sind so angesagt, dass die Mietpreise explodieren. Das schafft Wut und Unverständnis. In Kreuzberg kommt eine Art Kränkung dazu: Viele Alteingesessene haben den Stadtteil durch ihren alternativen Lebensstil erst interessant gemacht. Nun werden sie an den Rand gedrängt, obwohl sie das Kreuzberger Lebensgefühl einst aufbauten.
Dieses Gefühl kennt auch Magnus Hengge. Der 48-Jährige zog fürs Studium aus Schwaben nach Berlin, seit Ende der 1990er Jahre wohnt er in Kreuzberg. Hengge engagiert sich bei «Bizim Kiez», einer Anwohner-Initiative, die Gentrifizierung bekämpft. Menschen wie Mueller-Elmau, sagt der selbständige Kommunikationsdesigner, wählten Kreuzberg, weil ihre Unternehmen vom Image des Stadtteils profitierten. Das findet Hengge dreist. «Sie schöpfen ab, was jahrzehntelang von der Bevölkerung aufgebaut wurde», sagt er.
Hengge hat selbst erlebt, wie es sich anfühlt, wenn die Miete sich plötzlich verdoppelt: Nachdem sein Mietshaus privatisiert worden war, sollte Hengge plötzlich viel mehr bezahlen. Er hatte Glück und fand eine neue Wohnung im Kiez. Doch für andere geht es um die Existenz.
Vor drei Jahren erfuhr Hengge, dass der Mietvertrag des Gemüseladens, in dem er einkauft, gekündigt wurde: Das Haus war verkauft worden, der neue Eigentümer plante darin offenbar Eigentumswohnungen. Der Gemüsehändler sollte ihnen weichen. Hengge wollte das nicht zulassen und organisierte ein Anwohnertreffen. Daraus entstand ein öffentlicher Protest – der Laden durfte bleiben. Doch an anderen Stellen in Kreuzberg müssen Einzelhändler oder Mieter immer höhere Preise bezahlen. Oder sich den Gesetzen des Marktes beugen und umziehen.
Zwar hat Berlin eine Mietpreisbremse, doch die kann leicht umgangen werden. Für Gewerbe gilt sie gar nicht. «Eine Änderungsschneiderei oder ein Gemüseladen kann sich die Preise schnell nicht mehr leisten», sagt Hengge. Mueller-Elmaus Argument, das Hotel komme auch den Anwohnern zugute, lässt er nicht gelten. «Kann sein, dass die Gäste die Buchhandlung nutzen. Aber eine Änderungsschneiderei oder einen Gemüsehändler brauchen sie nicht. Diese Läden müssen dann schliessen.»
An vielen Stellen in Kreuzberg kämpfen Anwohner und Aktivisten darum, dass ihr Kiez sich nicht weiter verändert. Neben dem Hotel «Orania» entzündet sich der Protest vor allem an einem Projekt von Google. Der Internetgigant plant in Kreuzberg einen «Google-Campus», ein digitales Zentrum, in dem Startups gefördert werden sollen. Im Netz haben sich Gegner zusammengeschlossen, um das Vorhaben zu stoppen. Auf der Website «Fuck off Google» sammeln sie Ideen, um die Firma aus ihrem Viertel zu vertreiben.
«Fuck off Google»
Die Menschen fürchten steigende Mieten im Umfeld des Campus, aber auch Überwachung durch den Konzern. Einige der Ängste sind konkret, andere diffus und überspitzt. Oft mischt sich berechtigte Sorge mit Globalisierungs- und Kapitalismuskritik. Dabei stammt ein Teil der Aktivisten von «Fuck off Google» selbst nicht aus Kreuzberg – sondern aus dem Ausland. Der Sprecher der Initiative, er wählt für sich das Pseudonym Larry Blankpage, ist Franzose. Andere Teilnehmer, erzählt er, seien Amerikaner und seien vor den Mietpreisen im Silicon Valley nach Kreuzberg geflüchtet.
Viele Kreuzberger sind selbst Zugezogene und haben einst davon profitiert, ihren Wohn- und Arbeitsort auf der Welt selbst wählen zu können. Auch sie haben mit ihrem Zuzug wahrscheinlich jemanden verdrängt. Nun, da sie selbst betroffen sind, führen sie den Protest an. Blankpage ist sich des Widerspruchs durchaus bewusst. Er sagt: Gerade weil seine amerikanischen Mitstreiter wüssten, wie sehr die Startup-Kultur eine Stadt verändere, wollten sie Berlin davor bewahren. «Ein Unternehmen kann das Problem der Gentrifizierung nicht lösen», sagt dagegen ein Sprecher von Google.
Kann man es Firmen vorhalten, dass sie den für sie attraktivsten Standort wählen – genauso wie Magnus Hengge oder die Aktivisten aus San Francisco es einst getan haben? Hengge gibt zu, dass man Betrieben den Zuzug nach Kreuzberg nicht verbieten könne. Aber moralisch sei ihr Verhalten fragwürdig. «Sie verursachen einen Preisanstieg im Kiez – ob sie es wollen oder nicht.»
«Fuck off Google» will nun zu zivilem Ungehorsam greifen, um den Google-Campus zu verhindern. «Was, wenn die Eröffnung ein Albtraum wird?», fragt Blankpage. «Wenn es jeden Tag Proteste gibt? Google wird nicht so dumm sein und den Campus trotzdem erhalten.»
Dietmar Mueller-Elmau und die Mitarbeiter des Hotels «Orania» haben sich dagegen mit den kaputten Scheiben arrangiert. Als eine Hotelbesucherin fragt, was denn mit den Fenstern passiert sei, beschwichtigt der Kellner. «Ach, das ist bei uns normal», sagt er. «Das hat was mit Gentrifizierung zu tun. Machen Sie sich keine Sorgen.» Die Sorgen der Anwohner jedoch bleiben.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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