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Karl Schwanzer: Avantgardist in der engstirnigen Nachkriegszeit
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In den 27 Jahren, in denen er sein Architekturbüro führte, entstanden an die 600 Projekte; viele davon in eine Zukunft gedacht, die damals in Österreich noch gar nicht angebrochen war. Zum 100. Geburtstag eines begeisternd Begeisterten.

19. Mai 2018 - Ute Woltron
Manchmal tauchen Menschen im Zeitengewühl auf, die sind so voll Kraft und Ideen, dass sie sich freischwimmen und – zumindest für eine Zeit lang – den gewaltigen Strudeln und Strömungen des Geschehens eine neue Richtung geben können. Ein solcher Mensch war der Wiener Architekt Karl Schwanzer. Da die Architektur jedoch eine vergleichsweise unbedankte, ja missachtete Disziplin ist, üblicherweise mehr geschimpft als gelobt und bedauerlicherweise oft völlig missverstanden, geriet er weitgehend in Vergessenheit.

Kommenden Dienstag jährt sich Karl Schwanzers Geburtstag zum 100. Mal, und kommende Woche wird, 43 Jahre nach seinem Tod, endlich sein umfangreicher Nachlass dem Wien Museum und damit einer Institution übergeben, die ihn würdigen und in entsprechendem Rahmen der Öffentlichkeit präsentieren kann. Auf diese noch zu planenden, doch mit Sicherheit bevorstehenden Ausstellungen dürfen wir uns freuen. Denn die heute aus dem Bewusstsein der breiteren Öffentlichkeit fast verschwundene Architektenpersönlichkeit im Großformat legte von den 1950er- bis Mitte der 1970er-Jahre gewissermaßen das Fundament, auf dem eine neue, unbedingt der Zukunft und nicht der Vergangenheit verpflichtete österreichische Architektur aufbauen konnte.

Möglicherweise kennt man Karl Schwanzer noch als den Architekten des Philipps-Hauses auf dem Wienerberg und der Wiener Universität für angewandte Kunst, als den Erbauer der Münchner BMW-Zentrale und des sogenannten Zwanzigerhauses neben dem Wiener Hauptbahnhof. Tatsächlich ist Schwanzers Œuvre jedoch gewaltig, wenn auch zu einem guten Teil nur noch in Plänen und Fotografien erhalten: In den 27 Jahren, in denen er sein Architekturbüro führte, entstanden an die 600 Projekte, die es wieder zu entdecken gilt – viele davon erstaunlich modern, in eine Zukunft gedacht, die damals in Österreich noch gar nicht angebrochen war.

Seine wahrscheinlich größte Leistung vollbrachte er aber als Architekturlehrer in den 15 Jahren, in denen er an der Technischen Hochschule in Wien als Professor für Entwerfen mit seinem legendären blauen Buntstift die kommende Planerriege disziplinierte und zu äußersten Leistungen anspornte. Schwanzers Persönlichkeit ist Legende – seine Zornausbrüche, sein Aufbrausen, aber auch seine Sachlichkeit und sein Zulassen von Ungewohntem, Neuem. Sein Lehrstuhl wurde zu einem Kristallisationspunkt für avantgardistisches Denken in einer engstirnigen Nachkriegszeit. Er prägte mit brachialer Energie und einer unbedingten Begeisterung für ein neues Bauen eine ganze Architektengeneration, deren Kinder und Enkel auch heute noch, oft unbewusst, von seinem Geist profitieren.

„Wir haben zu ihm aufgeschaut“

„Wie man ihn so vergessen konnte, ist ein Rätsel und ein Zeichen größter Ignoranz“, sagt etwa Wolf Prix von Coop Himmelb(l)au. Die Architektur begehe stets den Fehler, nicht auf den Schultern ihrer Vorgänger stehen zu wollen, zu glauben, alles neu erfinden zu müssen, und beginne dessentwegen immer wieder von vorne. Schwanzer praktizierte tatsächlich das genaue Gegenteil: Er holte die Weltarchitektur nach Wien, präsentierte sie seinen Studenten, ließ Experimente zu, ja verlangte sie nachgerade, und verpflichtete Freigeister und Querdenker wie den legendären Günther Feuerstein als Assistenten.

„Er war ein Gott“, stellt sein ehemaliger Student und Mitarbeiter Peter Holzer fest: „Wir haben zu ihm aufgeschaut wie zu einem Messias.“ Als er auftauchte, so meint Holzer, sei ein Raunen durch die Hörsäle gegangen, in denen bis dahin die ultrakonservative Baumeistertradition der Vorkriegszeit den miefigen Ton angegeben hatte. Der Architekt Timo Huber erinnert sich an Schwanzer als „wuchtige Persönlichkeit, groß und schwer und sehr neugierig“, und beschreibt die Technische Hochschule von damals als „grauen Haufen“: „Da hat es in den Köpfen vieler Professoren noch nach faschistischem Gedankengut gestunken, und plötzlich ist einer dahergekommen, der das alles weggewischt und uns ganz neue Welten eröffnet hat.“

Schwanzer ließ seinen Studenten den frischen Wind der Internationalität um die neugierigen Nasen wehen und brachte ihnen darüber hinaus pragmatische Grundsätze des Architekturschaffens bei: Wie schauen sinnvolle Organisationsstrukturen von Architekturbüros aus? Wie wickelt man Großprojekte mit größtmöglicher Professionalität ab? Welche Strategien zur Durchsetzung von Projekten führen zum Erfolg?

Vor allem Letzteres, so Wolf Prix, habe er von ihm gelernt. Als Schwanzers Wettbewerbsprojekt für den Neubau der BMW-Zentrale in München, vom Volksmund liebevoll Vierzylinder genannt, auf der Kippe stand, weil sich kein Mensch vorstellen konnte, wie man in runden Räumen würde arbeiten können, mietete er kurzerhand ein Filmstudio, baute ein Büro als Kulisse naturgetreu nach, setzte Komparsen an die Schreibtische und ließ einen Film drehen. Den präsentierte er den BMW-Granden, ließ sie virtuell durch ihr neues Gebäudereich spazieren, überzeugte sie damit und bekam im Dezember 1967 den Zuschlag, eines der bis heute wichtigsten Nachkriegsgebäude Deutschlands zu bauen.

Als er von der Beauftragung erfuhr, war er gerade auf dem Weg in den Hörsaal. „Heute“, rief er seinen Studenten zu, „ist Weihnachten!“ Wolf Prix war dabei, und er merkte sich diesen Moment gut. Als er sich gut 30 Jahre später in der gleichen Situation wiederfand und erkannte, dass auch der nun entscheidende BMW-Vorstand allein aufgrund der Pläne keine Vorstellung vom Coop-Himmelb(l)au-Projekt für die neue BMW-Welt bekam, mietete auch er eine Fabrikhalle, ließ ein Großmodell bauen und filmen, bekam den Auftrag und richtete wenig später seinen eigenen Studenten posthum Schwanzers Grußbotschaft aus: „Niemals sollst du aufgeben, die Auftraggeber zu überzeugen!“

Schwanzer selbst hatte immer schon gewusst, dass er Architekt werden wollte. Bereits als Kind, so schrieb er in seinem 1973 erschienenen Buch „Architektur aus Leidenschaft“, war es eine seiner liebsten Beschäftigungen, „Traumschlösser“ zu zeichnen. Im Alter von 16 Jahren entwarf er ein Häuschen für die Familie. „Es war etwa die Zeit der Werkbundausstellung in Wien, durch die mir Architektennamen – wie Le Corbusier, Neutra, Josef Hoffmann und andere – erstmals bekannt wurden.“ Nach seinem Studium heuerte Schwanzer beim damals sehr erfolgreichen Architekten und Architekturlehrer Oswald Haerdtl an und arbeitete sowohl in dessen Büro als auch als sein Assistent an der Hochschule für angewandte Kunst. Haerdtl vertraute dem Jungspund offenbar, denn er schickte ihn bereits 1946 nach Paris, um dort den Pavillon für eine österreichische Messebeteiligung zu bauen, nahm ihn mit zum Schweizer Werkbund, zur Architekturausstellung in Chicago, auf die Architekturbiennale in Venedig, ermöglichte es ihm, erste internationale Anker auszuwerfen und wichtige Kontakte zu knüpfen.

„Das Reisen“, so erinnert sich Schwanzers Sohn Martin, „war zeitlebens extrem wichtig für ihn, und er kam immer mit neuen Ideen zurück.“ Unterwegs sei er ein ganz anderer Mensch gewesen – neugieriger, lustiger, aufgeschlossener, lockerer. „Doch schon im Anflug auf Wien, wo all die Sachzwänge auf ihn warteten, hat sich der Vater wieder stark verändert.“ Diese Lust am Internationalen, am Spielerischen konnte Schwanzer vor allem als Architekt temporärer Architekturen gekonnt ausleben. Zu den im Nachlass dringend zu entdeckenden Kleinodien zählen seine zahlreichen Messe- und Pavillonarchitekturen, die er, wiederum seiner Zeit weit voraus, von professionellen Fotografen dokumentieren ließ.

Gut in Erinnerung sind zwar seine Pavillons für die Weltausstellungen, etwa der von 1958 in Brüssel, der mit dem Grand Prix d'Architecture ausgezeichnet und später als Zwanzigerhaus im Wiener Schweizergarten wieder aufgestellt wurde. Doch in den von Martin Schwanzer und Mirko Pogoreutz nun jahrelang sortierten, geordneten und digitalisierten Unterlagen finden sich erstaunliche, bisher kaum je gesehene Messearchitekturen, die dringend wieder hervorgekramt und veröffentlicht werden müssen.

Wenig bekannte Geschäftslokale

Eine entsprechende, voluminöse Publikation mit diesen historischen Fotografien, so Martin Schwanzer, ist in Arbeit und wird in nicht allzu ferner Zukunft präsentiert. Darin ebenfalls zu sehen: Schwanzers Möbelentwürfe, wenig bekannte, doch hochelegante Geschäftslokale, öffentliche Bauten wie Kindergärten, Kirchen, Wohnanlagen und Pensionistenheime sowie Extravagantes wie die Botschaft in Brasília und schlichte, doch beeindruckende Industriebauten wie das Zementwerk in Mannersdorf.

Erst wenn Schwanzers Werk in seinem breiten Spektrum zur Gänze ausgeleuchtet daliegt, werden eine umfassende Analyse, eine wissenschaftliche Aufarbeitung und gründliche Würdigung möglich sein. Bis dahin bleibt er zumal in der Erinnerung seiner Schüler quicklebendig. Etwa als respektgebietender Professor, der im akkuraten Anzug samt Stecktuch in eine wilde, aufblasbare Skulptur von Coop Himmelb(l)au kriecht und sich dort drinnen von diversen Gerüchen umströmen lässt. Als eleganter Chauffeur seines weißen Lancia-Coupés, mit dem er sich mit quietschenden Reifen ungeniert auf dem eigentlich autofreien Hof der Hochschule einparkt. Als, wie es Architekt Laurids Ortner ausdrückt, „wilder Mann, der Polierpläne zum Frühstück frisst und abends fertige Häuser ausspuckt“. Und als einer, dem scheinbar nichts zu blöd war, wenn es um das Ausloten von Neuem ging.

Als Timo Huber und die Kollegen der Gruppe Zünd-Up das Entwurfsprogramm für eine Tiefgarage zum Anlass nahmen, bereits 1969 auf die Problematik des Autoverkehrs in Kombination mit der Faszination des Motors hinzuweisen, baten sie Schwanzer kurzerhand zu ihrem „Great Vienna Auto-Expander“ in die Tiefgarage am Hof. Dort erläuterten sie das Projekt, Schwanzer stellte sachliche Fragen, es entspann sich eine gute Diskussion, während rundherum 40 Harley-Davidsons mitsamt bärtigen Lenkern in Lederjacken Aufstellung nahmen. Unter dem „Röhren des Jahrhunderts“ nahm der Professor schließlich würdevoll auf einer der Maschinen Platz und drehte mit dem Fahrer eine Runde.

Karl Schwanzer nahm sich 1975 das Leben, doch seine Lehre und sein Werk werden auch künftig, nun möglicherweise wieder verstärkt, weiterwirken.

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