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Wenn Fische Burgen bauen
Die Baubionik – die technische Umsetzung biologischer Prinzipien – eröffnet dank ausgefeilter Computerprogramme ungeahnte Möglichkeiten. Das Konzept ist nicht neu: Ihre Anfänge führen ins 19. Jahrhundert zurück.
8. September 2018 - Ute Woltron
Der Unterwasserfotograf Yoji Ookata hatte bereits die vergangenen 50 Jahre seines Lebens damit verbracht, die Unterwasserwelt vor den Inseln seiner Heimat Japan zu erforschen, als er vor fünf Jahren auf eine vorerst unerklärliche, doch wunderschöne Absonderlichkeit stieß. Er war im Süden des Inselstaats vor einem abgelegenen Eiland getaucht und hatte dort in etwa 25 Meter Wassertiefe ein kreisrundes Ornament im Sandboden entdeckt.
Die unerklärliche Unterwasserarchitektur war mit zwei Meter Durchmesser recht groß. Zwei zerfurchte Sandwälle umringten mit überraschender geometrischer Präzision eine ebenso akkurat designte kreisförmige Innenzone. Hier im Zentrum war der Sand zu ruhigeren welligen Dünen aufgeworfen, und die Furchen der höheren Wälle und die Täler zwischen den Dünen waren eindeutig zum Zentrum der mysteriösen Angelegenheit orientiert.
Niemand hatte je zuvor diese Sandkreise wahrgenommen, keiner wusste, woher sie stammten und welche Kreatur ihr Baumeister war. Der Fotograf legte sich auf die Lauer und löste das Rätsel gemeinsam mit einem Filmteam und viel Geduld. Tatsächlich erwies sich ein winziger Fisch als Architekt der Sandkonstruktion: ein männlicher, nur wenige Zentimeter langer Kugelfisch. Er arbeitet etwa eine Woche rund um die Uhr, bis das flüchtige Schloss im Sand vollendet ist, und gräbt dafür den Ozeanboden unermüdlich mit seinen Flossen um. Der Kugelfisch baut auf diese Weise ein Liebesnest. Hat er Pech, zerstört die Strömung die Konstruktion vorzeitig. Hat er Glück, kommt zur passenden Zeit ein Kugelfischweibchen des Weges geschwommen und erblickt das schöne Haus mit dem erwartungsvollen Fischbräutigam im Zentrum. Wenn es ihr gefällt, schwimmt sie herab, lässt sich in der Mitte nieder und legt Eier in den Sand, die er dann befruchten darf.
Die eben erst entdeckten Sandkreise sind so präzise und schön gearbeitet, dass ihr Anblick unweigerlich Erinnerungen an den deutschen Zoologen Ernst Haeckel und dessen eindrucksvolle Darstellungen von Plankton, Medusen und winzigen Strahlentierchen wach werden lässt. Haeckel, 1834 in Potsdam geboren, 1919 in Jena gestorben, prägte den Begriff „Ökologie“. Er war ein Verehrer von Alexander von Humboldt und Charles Darwin, und seine prächtigen Zeichnungen von „Kunstformen der Natur“ sowie von „Kunstformen aus dem Meer“, publiziert 1899 und 1904, sollten sich als einflussreich für Architektur- und Kunstgeschichte und Jugendstil erweisen. Als etwa der französische Architekt René Binet die großformatige, aus Stahl gearbeitete Eingangsarchitektur samt Ticketschaltern für die Weltausstellung 1900 in Paris entwarf, die auch das Tor in ein neues Jahrhundert darstellen wollte, nahm er sich Haeckels Grafiken mikroskopisch kleiner Meeresorganismen, sogenannter Strahlentierchen oder Radiolarien, zum Vorbild. Die „Porte Monumentale“, schrieb er an Haeckel, sei bis ins Detail „von Ihren Studien angeregt“.
Auch Kunsthandwerker bedienten sich am reichen und bis dahin nie gesehenen Formenvokabular der Kleinstfauna und -flora. Der französische Glas-Großmeister Emíle Gallé arbeitete dank Haeckels Naturformen als Vorlage neue „Feinheiten und Kurven in das Glas“. Designer und Architekten schöpften aus dem „großen Labor der Natur“, wie Binet meinte, und zogen die teils bizarren Geometrien von Quallen, winzigen Wimperlingen und anderen Lebewesen für Lüster, Tapetenmuster und opulente Lichtschalter heran.
Die Natur als Vorbild für Gebäude, Konstruktionen, Tragwerke und Ornamente zu verwenden war damals, am Beginn des 20. Jahrhunderts, freilich keine bahnbrechende Neuigkeit. Schon die Griechen hatten sich an Pflanzenformen bedient und beispielsweise das korinthische Kapitell als steinernes, reich gezacktes Akanthusblatt mit der Architektur verwachsen lassen. Die gesamte Architekturgeschichte ist voll von Beispielen dekorativer Verwertung natürlicher Formen, von Romanik über Rokoko bis hin zur zeitgenössischen Architektur. Die Schweizer Herzog & de Meuron bedruckten beispielsweise die wandbildenden lichtdurchlässigen Polycarbonatplatten des Verpackungs- und Vertriebsgebäudes für den Kräuterzuckerlhersteller Ricola Anfang der 1990er-Jahre mit der historischen Fotografie eines Schafgarbenblattes.
Richtig spannend wird der Pas de deux zwischen Technik und Biologie, wenn sich die Architektur an bereits von der Natur vollbrachten Lösungen orientiert und sich davon inspirieren lässt. Auch dafür gibt es Beispiele sonder Zahl. So war die Konstruktion des Eiffelturms in Paris der Leichtbauweise eines menschlichen Oberschenkelknochens nachempfunden. Der Schweizer Architekt Le Corbusier wiederum sammelte lebenslang Muscheln, Schnecken und anderes Meeresstrandgut und verwendete diese marine Archiv als Quelle für Eingebung und Formsuche. Sein berühmter „Modulor“ weist, wenn die richtigen Punkte miteinander verbunden werden, exakt die Spiralform einer Seeschnecke auf.
Als weiterer Pionier biomorpher Bauformen gilt der deutsche Architekt Frei Otto, Mitbegründer und Initiator der multidisziplinären Forschungsgruppe „Biologie und Bauen“ der TU-Berlin. Für seine berühmten, mit leichtesten Konstruktionen große Weiten überspannenden Dachhäute, angewandt etwa im Fall der riesigen Zeltdachlandschaft des Münchener Olympiaparks von 1972, experimentierte er mit Drahtmodellen und Seifenlauge, um die Minimalflächen zu eruieren. Für das Tragwerk des Turms der 1961 eingeweihten Kirche in Berlin-Schönow orientierte er sich wiederum am Skelett von Kieselalgen.
Auch der Brite Norman Foster nahm eine natürliche Struktur zum Vorbild für eines seiner berühmtesten Gebäude: Das in der Fassade verlaufende Tragwerk des 2004 eröffneten, 180 Meter hohen und aufgrund seiner Form „Gurke“ genannten Hochhauses in London entspricht dem röhrenförmigen, überaus raffinierten Skelett des in der Tiefsee heimischen Gießkannenschwamms. Ein Einkaufs- und Bürokomplex in Harare wiederum wurde mit einem Lüftungssystem in Form von zusammenhängenden Schächten ausgeführt, das man Termitenbauten abgeschaut hatte.
Der zeitgenössischen Baubionik, so der gängige Begriff für die Abstraktion von Prinzipien der Biologie samt Umsetzung in Technologie, stehen mittlerweile mit ausgefeilten Computerprogrammen, neuen Materialien, Fertigungstechniken und anderen Errungenschaften bisher ungeahnte Möglichkeiten zur Verfügung. Und obwohl derzeit ganze Gebäude den Bionik-Stempel aufgedrückt bekommen, auch wenn ihn nur Details darin verdienen, darf man künftig Spannendes erwarten.
Apropos Details: Der Kugelfischarchitekt bemüht auch scheinbar Überflüssiges. Wenn die Sandburg fertiggestellt ist, sucht er den Meeresgrund nach Muscheln ab, platziert sie überlegt und setzt damit seinem Werk Krönchen auf.
Die unerklärliche Unterwasserarchitektur war mit zwei Meter Durchmesser recht groß. Zwei zerfurchte Sandwälle umringten mit überraschender geometrischer Präzision eine ebenso akkurat designte kreisförmige Innenzone. Hier im Zentrum war der Sand zu ruhigeren welligen Dünen aufgeworfen, und die Furchen der höheren Wälle und die Täler zwischen den Dünen waren eindeutig zum Zentrum der mysteriösen Angelegenheit orientiert.
Niemand hatte je zuvor diese Sandkreise wahrgenommen, keiner wusste, woher sie stammten und welche Kreatur ihr Baumeister war. Der Fotograf legte sich auf die Lauer und löste das Rätsel gemeinsam mit einem Filmteam und viel Geduld. Tatsächlich erwies sich ein winziger Fisch als Architekt der Sandkonstruktion: ein männlicher, nur wenige Zentimeter langer Kugelfisch. Er arbeitet etwa eine Woche rund um die Uhr, bis das flüchtige Schloss im Sand vollendet ist, und gräbt dafür den Ozeanboden unermüdlich mit seinen Flossen um. Der Kugelfisch baut auf diese Weise ein Liebesnest. Hat er Pech, zerstört die Strömung die Konstruktion vorzeitig. Hat er Glück, kommt zur passenden Zeit ein Kugelfischweibchen des Weges geschwommen und erblickt das schöne Haus mit dem erwartungsvollen Fischbräutigam im Zentrum. Wenn es ihr gefällt, schwimmt sie herab, lässt sich in der Mitte nieder und legt Eier in den Sand, die er dann befruchten darf.
Die eben erst entdeckten Sandkreise sind so präzise und schön gearbeitet, dass ihr Anblick unweigerlich Erinnerungen an den deutschen Zoologen Ernst Haeckel und dessen eindrucksvolle Darstellungen von Plankton, Medusen und winzigen Strahlentierchen wach werden lässt. Haeckel, 1834 in Potsdam geboren, 1919 in Jena gestorben, prägte den Begriff „Ökologie“. Er war ein Verehrer von Alexander von Humboldt und Charles Darwin, und seine prächtigen Zeichnungen von „Kunstformen der Natur“ sowie von „Kunstformen aus dem Meer“, publiziert 1899 und 1904, sollten sich als einflussreich für Architektur- und Kunstgeschichte und Jugendstil erweisen. Als etwa der französische Architekt René Binet die großformatige, aus Stahl gearbeitete Eingangsarchitektur samt Ticketschaltern für die Weltausstellung 1900 in Paris entwarf, die auch das Tor in ein neues Jahrhundert darstellen wollte, nahm er sich Haeckels Grafiken mikroskopisch kleiner Meeresorganismen, sogenannter Strahlentierchen oder Radiolarien, zum Vorbild. Die „Porte Monumentale“, schrieb er an Haeckel, sei bis ins Detail „von Ihren Studien angeregt“.
Auch Kunsthandwerker bedienten sich am reichen und bis dahin nie gesehenen Formenvokabular der Kleinstfauna und -flora. Der französische Glas-Großmeister Emíle Gallé arbeitete dank Haeckels Naturformen als Vorlage neue „Feinheiten und Kurven in das Glas“. Designer und Architekten schöpften aus dem „großen Labor der Natur“, wie Binet meinte, und zogen die teils bizarren Geometrien von Quallen, winzigen Wimperlingen und anderen Lebewesen für Lüster, Tapetenmuster und opulente Lichtschalter heran.
Die Natur als Vorbild für Gebäude, Konstruktionen, Tragwerke und Ornamente zu verwenden war damals, am Beginn des 20. Jahrhunderts, freilich keine bahnbrechende Neuigkeit. Schon die Griechen hatten sich an Pflanzenformen bedient und beispielsweise das korinthische Kapitell als steinernes, reich gezacktes Akanthusblatt mit der Architektur verwachsen lassen. Die gesamte Architekturgeschichte ist voll von Beispielen dekorativer Verwertung natürlicher Formen, von Romanik über Rokoko bis hin zur zeitgenössischen Architektur. Die Schweizer Herzog & de Meuron bedruckten beispielsweise die wandbildenden lichtdurchlässigen Polycarbonatplatten des Verpackungs- und Vertriebsgebäudes für den Kräuterzuckerlhersteller Ricola Anfang der 1990er-Jahre mit der historischen Fotografie eines Schafgarbenblattes.
Richtig spannend wird der Pas de deux zwischen Technik und Biologie, wenn sich die Architektur an bereits von der Natur vollbrachten Lösungen orientiert und sich davon inspirieren lässt. Auch dafür gibt es Beispiele sonder Zahl. So war die Konstruktion des Eiffelturms in Paris der Leichtbauweise eines menschlichen Oberschenkelknochens nachempfunden. Der Schweizer Architekt Le Corbusier wiederum sammelte lebenslang Muscheln, Schnecken und anderes Meeresstrandgut und verwendete diese marine Archiv als Quelle für Eingebung und Formsuche. Sein berühmter „Modulor“ weist, wenn die richtigen Punkte miteinander verbunden werden, exakt die Spiralform einer Seeschnecke auf.
Als weiterer Pionier biomorpher Bauformen gilt der deutsche Architekt Frei Otto, Mitbegründer und Initiator der multidisziplinären Forschungsgruppe „Biologie und Bauen“ der TU-Berlin. Für seine berühmten, mit leichtesten Konstruktionen große Weiten überspannenden Dachhäute, angewandt etwa im Fall der riesigen Zeltdachlandschaft des Münchener Olympiaparks von 1972, experimentierte er mit Drahtmodellen und Seifenlauge, um die Minimalflächen zu eruieren. Für das Tragwerk des Turms der 1961 eingeweihten Kirche in Berlin-Schönow orientierte er sich wiederum am Skelett von Kieselalgen.
Auch der Brite Norman Foster nahm eine natürliche Struktur zum Vorbild für eines seiner berühmtesten Gebäude: Das in der Fassade verlaufende Tragwerk des 2004 eröffneten, 180 Meter hohen und aufgrund seiner Form „Gurke“ genannten Hochhauses in London entspricht dem röhrenförmigen, überaus raffinierten Skelett des in der Tiefsee heimischen Gießkannenschwamms. Ein Einkaufs- und Bürokomplex in Harare wiederum wurde mit einem Lüftungssystem in Form von zusammenhängenden Schächten ausgeführt, das man Termitenbauten abgeschaut hatte.
Der zeitgenössischen Baubionik, so der gängige Begriff für die Abstraktion von Prinzipien der Biologie samt Umsetzung in Technologie, stehen mittlerweile mit ausgefeilten Computerprogrammen, neuen Materialien, Fertigungstechniken und anderen Errungenschaften bisher ungeahnte Möglichkeiten zur Verfügung. Und obwohl derzeit ganze Gebäude den Bionik-Stempel aufgedrückt bekommen, auch wenn ihn nur Details darin verdienen, darf man künftig Spannendes erwarten.
Apropos Details: Der Kugelfischarchitekt bemüht auch scheinbar Überflüssiges. Wenn die Sandburg fertiggestellt ist, sucht er den Meeresgrund nach Muscheln ab, platziert sie überlegt und setzt damit seinem Werk Krönchen auf.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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