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21. November 2025 Spectrum

Als Studierende vor 100 Jahren über die Bauhaus-Fassaden kletterten

100 Jahre ist es her, dass das Bauhaus aus politischen Gründen von Weimar nach Dessau übersiedeln musste. Nicht gerechnet hatten die Lehrenden damals damit, wie der neue Ateliertrakt von den Studierenden genutzt werden würde.

Einmal im Leben Bauhausstudent sein, vorgestelltermaßen, nur drei, vier Tage lang. Einmal dort wohnen, wo die Bauhausstudierenden wohnten, im Ateliertrakt des Bauhausgebäudes zu Dessau. Einmal auf einen dieser kleinen Balkone treten, auf diese kaum mehr als badetuchgroßen Betonplatten, und eine Ahnung davon bekommen, welche Euphorie es gewesen sein muss, damals, vor 100 Jahren, dass sich Studierende mitunter im Dutzend auf diesen Kleinstvorsprüngen drängten, die zu betreten heute „nur auf eigene Gefahr gestattet werden“ kann, so die mahnende Schrift, die jeder Gast erhält.

Balanceübungen und Fassadenkletterer

Es gibt Wünsche, von denen man erst weiß, nachdem sie sich erfüllt haben. Kein Dessaubesucher, der im Ateliertrakt des Bauhausgebäudes Quartier nimmt, wird sich dessen imaginativer Anziehungskraft entziehen können: von der Aula im Erdgeschoß mit der von Marcel Breuer so klug wie komfortabel gestalteten Bestuhlung bis zu den ehemaligen Studierendenstuben selbst samt ihrem Bauhausmobiliar und dem knapp zimmerbreiten Fensterband. Nicht zu vergessen – eben – die Balkone, damals alsbald zum Hauptort der Kommunikation unter den Studierenden erkoren. Und zum Sportgerät: Als Bauhausgründer Walter Gropius „sein Werk, das eben bezogene Bauhaus in Dessau, zu betrachten gedachte“, so die Erinnerung von Marianne Brandt, Bauhausstudentin und nachmalig Industriedesignerin von Rang, „bekam er einen nicht geringen Schrecken, da er feststellen musste, dass seine Bauhäusler Flachdach und Atelierfront zu Balanceübungen und als Fassadenkletterer benutzten.“ Bouldern nach Bauhaus-Art.

100 Jahre ist es her, dass Bauhaus-Lehrende und -Lernende von ihrer thüringischen Gründungsstätte, Weimar, ins anhaltische Dessau übersiedeln mussten. Politisch nämlich trennte die beiden Städte in jenen Tagen sehr viel mehr als die 130 Kilometer, die geografisch zwischen ihnen liegen. Ausgerechnet in Weimar, dort, wo gern der Urgrund bildungsbürgerlich-deutscher Identitätsstiftung vermutet wird, hatte sich 1924 eine Landesregierung konstituiert, die als erste in Deutschland auf die Zustimmung von Nationalsozialisten angewiesen war; gut möglich freilich, dass es auch sonst dem neuen konservativen Bildungsminister Thüringens nicht schwergefallen wäre, diesem nur allzu verdächtig-modernistischen Projekt namens Bauhaus den Geldhahn abzudrehen.
Rückbesinnung auf das Handwerk

Nebenan dagegen, in Anhalt, schien eine fortschrittsbewusste Regierungsmehrheit vorerst gesichert – und konkret Dessau konnte zwar nicht mit einem Weimar vergleichbaren Kulturrenommee aufwarten, dafür mit einem Asset, das für die Zukunft der Bauhausbewegung sehr viel bedeutender werden sollte: den Flugzeug- und Motorenwerken des Hugo Junkers. Denn mag es auch seltsam klingen: Die Idee Bauhaus, ursprünglich aus der Rückbesinnung von Kunst und Künstlern auf das Handwerk gespeist, fand ausgerechnet im Industriellen und also in Dessau ihre Erfüllung.

So ist es wohl nur folgerichtig, dass bloß sechs Jahre, nachdem man 100 Jahre Bauhausgründung gedacht hat, schon wieder in Sachen Bauhaus gefeiert wird. Dieser Tage eben die Übersiedlung nach Dessau und damit die endgültige Selbstfindung einer künstlerischen Bewegung, die wie keine andere des 20. Jahrhunderts unser aller Lebenswelt verändert hat: von den Orten, in denen wir wohnen, über die Möbel, auf denen wir sitzen, bis zu dem Besteck, mit dem wir essen.

Neue Heimstatt

Dass man sich für die dazugehörigen Veranstaltungen bis in den Dezember 2026 hinein Zeit nimmt, ist nicht nur der Masse an Material geschuldet: Dafür liefert auch die Bauhaushistorie selbst eine Rechtfertigung. Schon im März 1925 beschließt der Dessauer Gemeinderat, den Bauhäuslern neue Heimstatt zu sein, Anfang April beginnt der Unterricht. Aber erst im Dezember des folgenden Jahres kommt man tatsächlich in Dessau an: mit der Eröffnung des Herzstücks künftiger Unterweisung, des Bauhausgebäudes eben. Weiters bezugsfertig: die Wohnstätten des Direktors und des sonst lehrenden Personals, Meisterhäuser genannt und Logis für einen halben Gotha zeitgenössischer Kunst, Klee, Kandinsky und so weiter; nicht zu vergessen die ersten Teile jener Siedlung Törten, die zum Prototyp eines preisgünstigen Massenwohnbaus werden soll.

All das von der Planung bis zur Errichtung in kaum mehr als einem Jahr auf den Weg gebracht zu haben, wäre schon erstaunlich genug. Nebstbei ist man in diesen ersten Monaten auf Unterbringungen angewiesen, die notgedrungen einem ganz anderen Formverständnis folgen als jenem primär rationalen, das im Umfeld von Gropius & Co Prinzip ist. Unterbringungen, an die mit Stadtführungen unter dem Motto „Unsichtbares Bauhaus“ erinnert wird: etwa die lokale Kunstgewerbeschule, errichtet 1897, die als erster Dessauer Bauhaussitz diente. Die Vorstellung, dass sich die Geburt einer Moderne hinter Jahrhundertwende-Backstein samt Türmchen und Treppengiebeln begeben hat, ist nicht ohne Ironie.

Schauwerte sonder Zahl

Andererseits, wer Belege für all die negativen Konnotationen sucht, die mit dem Begriff der Architekturmoderne heute nur allzu oft verbunden werden, menschenfeindlich, uniform, dogmatisch, wird sie ausgerechnet an Gropius’ Bauhausgebäude, diesem Bau gewordenen Programm, schwerlich finden können. Je nach Nutzung klar differenziert, bis in Details exakt durchdacht und gestaltet, steht die dreiflügelige Anlage da, längst wieder blitzblank instandgesetzt. Und es ist keineswegs nur die allseits gerühmte Glasfassade des Werkstättentrakts, die fotografisch ambitionierte Architekturfreunde das Gebäude immer wieder umkreisen lässt; auch wie Licht und Schatten die Balkonkavalkade des Ateliertrakts beständig in Bewegung setzen, liefert Schauwerte sonder Zahl. Als wäre nirgendwo sonst mehr ornamentale Wirkung zu haben als genau in dieser radikalen Beschränkung auf Funktion.

Freilich, nicht bloß ein Bauhaus gibt es, das des Walter Gropius, vielmehr mehrere Bauhäuser, je nach Lehrpersonal, Standorten, Umständen der Zeit. Und noch sehr viel mehr danach, was jene, die dort lernten, später daraus machten. Was die einen der Welt und Tel Aviv die „Weiße Stadt“ bescheren ließ, hinderte einen anderen, den nächst Linz geborenen Fritz Ertl, nicht daran, Architekt von Auschwitz-Birkenau zu sein.

1932 jedenfalls ist es auch in Dessau mit dem Bauhaus vorbei: Im Gemeinderat haben die Nationalsozialisten die Macht ergriffen. Ein Jahr später folgt die Selbstauflösung in Berlin. Die Bauhaus-Geschichte ist zu Ende – und hat recht eigentlich erst begonnen.

3. August 2025 Spectrum

Wie renoviert man einen Loos? Wenn die Moderne in die Werkstatt muss

Der Architekt Heinrich Kulka (1900–1971), die Werkbundsiedlung, ein Haus am Küniglberg – und was allesamt mit einem Oldtimer verbindet. Oder: Wie viel kostet architektonisches Geschichtsbewusstsein? Und wie viel darf es kosten?

Enthusiasmus hört sich anders an. Er könne „nicht viel Positives“ mitteilen, antwortet einer, den ich um seine Einschätzung einer historischen Immobilie gebeten habe. Seine Einschätzung, das ist die eines Nutzers, und die klingt auch im Weiteren nicht euphorisch. Das Objekt sei „weder architektonisch noch bautechnisch“ einzigartig. Und: „Darüber hinaus ist die Qualität der Objektherstellung in vielen Punkten mangelhaft.“

Nun, immerhin steht, was hier mehr oder minder unverhohlen als Bruchbude von entbehrlicher Bedeutung beschrieben wird, seit 2010 unter Denkmalschutz, Intimkennern hiesiger Architekturgeschichte als „Haus Weiszmann“ geläufig. Dieser Tage genießt es besondere Aufmerksamkeit: Das Ausstellungszentrum im Ringturm hat seinem Schöpfer, Heinrich Kulka (1900–1971), eine Personale ausgerichtet. Aus gutem Grund: Nicht nur dass Kulka, geboren unweit Olmütz, ausgebildet in Wien, seinem Mentor und Arbeitgeber Adolf Loos als Büroleiter wichtiger Partner in dessen von Krankheit und langen Absenzen gezeichneten letzten Lebensjahren war, kann er, aus der Folgezeit datierend, auf ein reiches Œuvre erst im heutigen Tschechien, später, von den Nationalsozialisten in die Flucht geschlagen, im neuseeländischen Dauerexil verweisen.

Und eben, in Wien, auf oberwähntes Haus Weiszmann, Anfang der 1930er auf dem Küniglberg ins Werk gesetzt: einen Quader von bescheidener Dimension, dessen innere Gestaltung idealtypisch dem von Loos entwickelten und von Kulka so benannten Konzept des „Raumplans“ folgt. Will sagen: Stockwerke sind nicht schichtartig übereinandergelegt, vielmehr erhält jeder Raum die für seine Benutzung jeweils nötige Höhe und Dimension.

Schüler übertrifft Lehrer

Während etwa für Friedrich Achleitner Haus Weiszmann das Beispiel eines Gebäudes ist, „bei dem der Schüler in seiner Entwicklungslinie über seinen Lehrer hinausgeht und dessen Prinzipien vollendet“, scheint es für obgenannten Nutzer primär kraft Denkmalschutz auf alle Zeit verbrieftes Ärgernis: Als Bauingenieur könne er „verschiedene Schutzmaßnahmen und -vorgaben nicht nachvollziehen – weder künstlerisch, noch bautechnisch, noch weniger bauphysikalisch“. Überdies sei für „einkommensdurchschnittliche Objektbesitzer“ dadurch die Erhaltung einer solchen Immobilie „wirtschaftlich kaum machbar“.

Martin Praschl sieht die Sache pragmatisch: „So ein Haus ist wie ein Oldtimer. Für den, der, sagen wir, einen Jaguar E schätzen kann, ist der das schönste Auto der Welt. Aber wenn ich lieber einen Audi mit Klimaanlage, Navigationssystem und ABS haben will, dann ist der Jaguar E, der vermutlich jedes Monat in die Werkstatt muss, nicht das Richtige.“ In den vergangenen 15 Jahren hat Praschl reichlich Jaguar-E-Erfahrung gesammelt: Gemeinsam mit seiner Frau, Azita Praschl-Godarzi, und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ihrer beider Büro, P.Good Architekten, betreut er seit 2011 die Sanierungsarbeiten in jenen Teilen der Werkbundsiedlung, die im Eigentum der Stadt Wien stehen, also in einem Bestand, der, zur selben Zeit wie Kulkas Haus Weiszmann errichtet, nämlich strengen Denkmalschutzvorgaben unterworfen ist. Und allein die Tatsache, dass diese Sanierung bereits die zweite ist, die den vormaligen Musterhäusern im äußeren Hietzing zuteil wird, erzählt einiges über den Aufmerksamkeitsbedarf, den Kubaturen solcher Art verlangen. Besondere Herausforderung dabei: Da ja keine Musealisierung, vielmehr die weitere Nutzung als Wohnraum angestrebt ist, gilt es, denkmalpflegerische Umsicht mit aktuellen Wohnansprüchen in Einklang zu bringen.

Anschauungsmaterial dazu liefern auch in der Werkbundsiedlung Objekte, die aufs Engste mit dem Namen Heinrich Kulka verbunden sind: jene beiden Doppelhäuser, die unter Kulkas Ägide in Adolf Loos’ Büro geplant wurden. Eine der Kulka/Loos’schen Doppelhaushälften, Woinovichgasse 15, konnte vor wenigen Jahren, ausnahmshalber zu jener Zeit leerstehend, von Grund auf saniert werden, ohne Rücksicht auf etwaige Bewohner nehmen zu müssen. Ursprünglich über Einzelöfen beheizt, darf sich das Gebäude seither unter anderem einer zeitgemäßen Gasbrennwert-Anlage erfreuen, die im Gegenzug freiwerdenden Kamine wurden für den Einbau einer Wohnraumlüftung mit Wärmetauscher genützt.

Verbesserte Dämmwerte

In Sachen dämmtechnischer Aktualisierung dagegen musste man sich auf Maßnahmen im Dachbereich und an den Kellerwänden beschränken. Auf eine Wärmedämmung der Fassade habe man – wie überall in der Werkbundsiedlung – aus Denkmalschutzgründen verzichtet, berichtet Martin Praschl: „Das haben Adolf Krischanitz und Otto Kapfinger dankenswerterweise schon anlässlich der ersten Sanierung in den 1980ern so gehalten.“ Immerhin habe man auch so die Dämmwerte verbessern können: „Und die eines Neubaus wären sowieso im Altbestand nicht zu erreichen.“

Zu den technischen Maßnahmen gehört auch die Adaptierung des Geländers, das die Galerie des Wohnraums sichert: Das habe man mit einer diskreten Glasscheibe absturzsicher umgestaltet. In vielen anderen Fällen sei es wiederum gelungen, die Originalsubstanz nicht nur zu erhalten, vielmehr sie angemessen instand zu setzen. Namentlich die Restaurierung des originalen Bodenbelags aus Linoleum ist da zu nennen. Wobei es in diesem wie in anderen Fällen – so Martin Praschl – nicht darum gegangen sei, den Eindruck eines imaginären Neuzustands zu erwecken: „Das Linoleum ist halt wieder sauber und ordentlich, Risse und Fehlstellen sind ausgebessert; zugleich aber sieht man die Abdrücke, wo einmal der Tisch gestanden ist oder der Kasten. In diesem Boden ist das Leben der vergangenen 90 Jahre drin: für sich fast ein Kunstwerk.“ Detto im Sanierungsrepertoire: dass etwa bei Verputzarbeiten oder Anstrichen auf Handwerkstechniken aus der Entstehungszeit zurückgegriffen wird.

Freilich: Derlei Akribie hat ihren Preis. Auf knapp eine halbe Million Euro haben sich die Baukosten der Sanierung allein im Haus Woinovichgasse 15 belaufen. Keine Kleinigkeit. Und für „einkommensdurchschnittliche Objektbesitzer“, siehe oben, gewiss nicht leicht zu tragen. Was man davon hat? Zum einen seien solche Gebäude, so Martin Praschl, „nach wie vor gut zu bewohnen“. Nicht zu vergessen ihr Wert als Schaustück belebter Architekturgeschichte. Leisten muss man’s sich halt können.

[ Die Ausstellung zu Heinrich Kulka ist bis 7. November im Wiener Ringturm zu sehen, die dazu passende Monografie, herausgegeben von Adolph Stiller, bei Müry Salzmann, Salzburg, erschienen. ]

24. Mai 2025 Spectrum

Was tun mit leerstehenden Industriebauten im Waldviertel?

Die Textilfabrik Hirschbach auf der Suche nach einer Neubestimmung: wie ein Wiener Architektenduo einem Stück Waldviertler Industrieerbe neuen Sinn geben will. Und was eine an die Wand gepinselte Mona Lisa damit zu tun hat.

Wie gestrandete Wale liegen sie in hiesigen Landschaften, ausgespuckt vom Meer der Zeit: jene massigen Kubaturen, die einst den kapitalistischsten Sehnsüchten der Industrialisierung Heimstatt boten und mittlerweile kaum mehr als – womöglich denkmalgeschützter – Ballast einer Gegenwart sind, die mit ihnen nichts anzufangen weiß.

Während der Bröckelcharme von „Lost Places“ solcher Art ganze Fotobände füllt, stellt die Wirklichkeit unserer Tage, unsentimental, wie sie ist, fortwährend drängender die Frage, wie lang wir es uns angesichts anderweitig so heftig kritisierten Bodenverbrauchs leisten können, via Leerstand historischer Gewerbe- und Industriekomplexe Nutzflächen sonder Zahl, teils in bester Lage, ungenutzt zu sehen. Und ob denn einschlägige Zeugnisse der Vergangenheit auch dann so dringlich zu erhalten seien, wenn sich selbst nach etlichen Jahrzehnten keinerlei Aussicht auf Neu- oder Umnutzung einstellen will.

Die Großmutter hat hier noch gearbeitet

Prominente Beispiele wie die Hammerbrotwerke in Schwechat, unweit der Wiener Stadtgrenze, oder die Neusiedler Papierfabrik, ihrerseits nächst Schwechat gelegen, mögen architektur- wie sozialhistorisch noch so bedeutsam sein: Was nicht verwendet wird, ist langfristig nicht zu retten, denn erst verfällt es, und irgendwann holt sich die Natur zurück, was ihr vordem genommen wurde, alles nur eine Frage der Zeit. Dass ein Nebengebäude der Neusiedler Papierfabrik, zwei Jahre ist es her, als Varieté-Lokal Wiederauferstehung feiern durfte, ist ein kleiner Anfang, der im konkreten Fall Hoffnung gibt – aber nicht mehr als das.

In sehr viel peripherere Industriegefilde hat sich ein in Wien situiertes Architektenduo vorgewagt. David Calas und Barbara Calas-Reiberger haben das textile Erbe des nördlichen Waldviertels erkundet und was von dessen baulicher Verlassenschaft wie für die Zukunft zu gewinnen wäre: von Großkomplexen wie der Backhausenkolonie bei Gmünd bis zu Kleinstobjekten wie den sogenannten Haarstuben, in denen einst aus widerborstigen Flachsstängeln jene Fasern gewonnen wurden, die wir als Leinen kennen. Erstes Ergebnis ihrer Auseinandersetzung: die Ausstellung „Wertvolles Erbe, aktive Zukunft“, die derzeit in Krems gezeigt wird.

Konkreter Anlass dieser Beschäftigung: der Erwerb eines Objekts, das zu jenem textilen Erbe zählt – der Textilfabrik Hirschbach. Kein Zufall, vielmehr quasi persönliche Notwendigkeit: Ihre Großmutter habe noch selbst hier gearbeitet, erzählt Barbara Calas-Reiberger gleich zu Beginn unserer Begegnung, da stehen wir noch in jenem der beiden Eingänge zur Textilfabrik, den Generationen von Arbeiterinnen und Arbeitern passierten – auf dem Weg zu dem geräumigem Saal, in dem erst die Webstühle einer Genossenschaft, ab der Zwischenkriegszeit die Strickmaschinen eines Wiener Fabrikanten Platz fanden.

Im Ortsverband integriert

Das Thema Leerstand habe sie schon früher beschäftigt, so Calas-Reiberger; das ihr seit Kindheitstagen vertraute Gebäude sei dann willkommener Gegenstand gewesen, „die Sache einmal selbst in die Hand zu nehmen“. Will sagen: entwickelte Konzeptideen im Selbstversuch auf Tauglichkeit zu prüfen.

Immerhin kann das Objekt im Vergleich zu ähnlichen Fällen auf einige Vorzüge verweisen. Zum einen ist es in den Ortsverband integriert, zum anderen öffentlich gut erreichbar, keine zehn Gehminuten von der nächsten Haltestelle der Franz-Josefs-Bahn entfernt, und überdies von handhabbarer Größe. 800 Quadratmeter überdachter Raum samt weiteren 1400 Quadratmetern, verteilt auf zwei Innenhöfe: Das sind Dimensionen, die nicht schon a priori noch so hochmögende Pläne unter der Masse der aufzuwendenden Mittel erdrücken.

Dazu kommt, dass sich die vorhandene Substanz, im Kern aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammend, als erstaunlich widerstandsfähig gegen die Anfechtungen der Zeit erwiesen hat. Gewiss, Spuren jahrzehntelanger Vernachlässigung seien nicht zu übersehen, und ja, es gebe einen beträchtlichen Aufbesserungsbedarf, weiß Calas-Reiberger und verweist auf Risse in der Wand, auf Gebäudeteile, die vom Wegbrechen bedroht waren. Andererseits, für mehr als ein halbes Jahrhundert weitgehenden Leerstands scheint das weniger schlimm, als man erwarten könnte.

Dass es sich dennoch bei der Sanierung der Textilfabrik Hirschbach um ein „Millionenprojekt“ handelt, darum weiß Calas-Reiberger genauso wie darum, dass vor jeder Sanierung eine Antwort auf die Frage aller Leerstandsaktivierungsfragen zu suchen ist: Welchem langfristig tragfähigen Zweck kann die Sanierung dienen?

Die dabei stets parate Idee einer Musealisierung stand für Calas-Reiberger nie zur Diskussion: „Man kann nicht aus jedem alten Gebäude ein Museum machen.“ Eine Umfrage unter der Ortsbevölkerung, nicht zuletzt angestellt, um das Vorhaben besser in die Gemeinde einzubinden, förderte rasch Wohnen als eine der zentral erwünschten Nutzungen zutage: sei es im Rahmen zeitlich begrenzter Vermietung oder etwa in Form betreuten Wohnens.

Ein Wunsch, dem Calas-Reiberger in sehr spezieller Weise Rechnung tragen will: „Wir versuchen derzeit, Baugruppen für die Textilfabrik zu interessieren“, also Bauwillige, die sich zur gemeinsamen Gestaltung ihres künftigen Wohnraums zusammenfinden. Ein Ziel, dem in den kommenden Wochen mehrere „Wohnevents“ gewidmet sind: mit der Möglichkeit, das Projekt und andere Interessenten an Ort und Stelle kennenzulernen.

Der ehemalige Maschinensaal allerdings soll in seiner Großzügigkeit erhalten bleiben: „Den haben wir schon jetzt für verschiedene Zwischennutzungen aufgepeppt, und der wird auch künftig kulturellen Aktivitäten zur Verfügung stehen.“ Und vielleicht finde sich ja auch noch Platz für eine kleine „Museumsnische“, in der sich diverse vorgefundene Artefakte vergangener Textilfabrikstage präsentieren lassen.

So manche Nutzungsidee gäbe es darüber hinaus – nur weniges davon wird, falls überhaupt, Wirklichkeit werden. Schließlich, wollte man all jene Träume finanzieren, die sich hier und anderwärts in Österreich an leer stehender Altsubstanz entzünden, dann müsste die glupschäugige Mona Lisa, die ein fantasievoller Nutzer an eine Wand der Textilfabrik gepinselt hat, von Leonardo stammen. Für Hirschbach immerhin besteht Hoffnung. Sehr viel mehr an Wunder wird nicht zu verlangen sein.

2. April 2025 Spectrum

Visitenkarte mit Meerblick: Die neue Zentrale der Bjarke Ingels Group in Kopenhagen

Eine Innenerschließung als begehbare Raumskulptur, eine Feuertreppe als begrünter Erholungsraum. Von der Freiheit über den Architektenköpfen: die neue Zentrale der Bjarke Ingels Group im Nordhafen von Kopenhagen.

„Stay“, rät das kleine Café Ecke Helsinkigade/Murmanskgade an seinen Fensterscheiben. Also warum nicht ein paar Minuten innehalten im Rundgang durch das Stadtquartier, das sich in den vergangenen Jahren im ehemaligen Nordhafen von Kopenhagen entwickelt hat? Hier lebe es sich recht gut, erzählt die Café-Betreiberin. Und was sie von dem architektonischen Neuzugang an der Spitze des Piers gegenüber halte? Der wirke aufs Erste ein wenig fremd, aber die Menschen, die dort arbeiten, erzählten nur das Beste.

Wenig später befinde ich mich selbst an besagtem Ort, und Frederik Lyng, Chefdesigner des Objekts, empfängt mich zu einem Rundgang: zu einem Rundgang durch die neue Kopenhagener Heimstatt der Bjarke Ingels Group. Die hat sich, 2006 vom dänischen Architekten Bjarke Ingels gegründet, erst in der engeren Heimat, mittlerweile mit Dependancen rund um den Globus durch teils spektakuläre Projekte einen Namen gemacht. Und allein was sich davon in Kopenhagen und Umgebung findet, lohnt einen Blick in jenes Land, in dem der hohe Norden Europas am flachsten ist.

Da wäre etwa das Schifffahrtsmuseum in Helsingør, rund um ein ausrangiertes Trockendock in den Boden gegraben; oder das „8 Haus“ im Kopenhagener Vorort Ørestad, unterschiedlichste Wohn-, Büro- und Einzelhandelsflächen bis zu zehngeschoßig übereinandergestapelt und auf einer außen liegenden Rampe bis zu den höchsten Höhen zu begehen; nicht zu vergessen „CopenHill“, die Kopenhagener Müllverbrennungsanlage mit ihrer auf dem Dach platzierten Ganzjahresskipiste samt Lift und Skihüttenzauber unter dem Schlot.

Fun follows function

Nein, es sind nicht die leisen Architekturtöne, für die Bjarke Ingels und sein Team stehen. Aber es ist auch nicht der pure formale Übermut, der aus ihren Arbeiten spricht. Die Anordnung des Schifffahrtsmuseums rund um das Trockendock a. D. macht das Trockendock selbst zum eindrucksvollsten Schaustück des Museums. Die begehbare Rampe verschafft dem „8 Haus“ und seinen Nutzern Verbindungswege, wo sonst keine sind, Fernsicht inklusive. Und die Skimatten auf dem Dach von „CopenHill“ verwandeln einen Unort in eine Freizeitattraktion – nicht zuletzt für die Mitarbeiter der Müllverbrennungsanlage. Kurz: Mag manches noch so spielerisch scheinen, es ist nie ohne Zweck. Fun follows function, sozusagen.

Erdacht wurde so viel Neues allerdings bis vor Kurzem durchweg in alten Mauern. „Wir haben bisher ausschließlich in adaptierter Altsubstanz gearbeitet“, erzählt Frederik Lyng. Freilich, eine beständig steigende Mitarbeiterzahl, derzeit 300 und mehr je nach Auftragslage, war in umgenutzten Kubaturen schließlich nicht mehr unterzubringen.

„Bürogebäude sehen oft aus wie Doughnuts“

Die entsprechende Liegenschaft für einen Neubau war bald gefunden: an der Spitze eines Piers im Nordhafen, ehedem Heimstatt eines Zelluloidfilmlagers, nach dessen Abriss zum Parkplatz degradiert. Doch wie die bisher gehabte Durchlässigkeit der Arbeit auf einer Ebene, die Selbstverständlichkeit interner Kommunikationsabläufe in einen Mehrgeschoßer transferieren?

„Bürogebäude nehmen oft die Gestalt eines Doughnuts an“, meint Frederik Lyng. Will sagen: außen, an den Fenstern, die Arbeitsplätze, innen Besprechungszimmer, Nebenräume und die Erschließung. Die Folge: Segregation allenthalben. Frederik Lyng: „Die Gestaltung hier war maßgeblich vom Bemühen geprägt, alle und alles miteinander zu verbinden, und das über alle Stockwerke hinweg.“

Ergebnis ist ein Gebäude, das sich gleich hinter dem Eingang über alle sieben Ebenen öffnet, von Kantine und Empfang im Erdgeschoß bis zu Dachterrasse und großem Gemeinschaftsraum im letzten Stock, eine Halle formend, in die die Zwischenebenen wie schwebend einmünden. Die nämlich reichen nur bis etwa zur Hälfte der Kubatur, sind zudem nicht gleich auf gleich übereinander angeordnet, sondern gegeneinander wechselnd verdreht.

Die Fensterflächen wiederum sind, zu langen Bändern zusammengeschoben, je Geschoß an jeweils anderen Seiten des Gebäudes angeordnet. Die Zentrale der Bjarke Ingels Group in Kopenhagen: ein lichtdurchflutetes Großraumbüro über sieben Geschoße voll wechselnder Ein-, Aus- und Durchblicke, erschlossen über eine offene Treppe in der Mitte, die impressiv quasi im Zickzack nach oben geführt ist. „Piranesisch“ nennt solches die Marketing-Prosa des Hauses, doch auch ohne architekturhistorische Beschwörungsformel fällt es schwer, sich der Wirkung dieses Raums und seiner Dynamik zu entziehen.

Einziges tragendes Element in der Gebäudemitte: eine Säule, gefügt aus sechs je geschoßhohen Einzelstücken unterschiedlichen Gesteins von dichtestgefügtem Granit zu ebener Erd’ bis zu Marmor an der Spitze. „Die haben wir aus den Steinbrüchen übernommen, wie sie waren“, erzählt Frederik Lyng. Abfallprodukte gewissermaßen wie auch die Holzplatten jener Wand, hinter der sich nordseitig Liftanlagen, Nassräume, kleine Besprechungszimmer für jede Etage verbergen: „Die stammen von einem Parketthersteller, Reststücke mit vielen Astansätzen, die für die Verlegung als Boden nicht geeignet waren.“

Witz und Charme am Hafenrand

Selbstredend ist auch der Stahl der Erschließungstreppe Recyclingmaterial, die Klimatisierung erfolgt über ein Zusammenspiel aus Geothermie und natürlicher Ventilation. Und dass man gemeinsam mit der Errichterfirma einen speziellen, CO₂-arm zu produzierenden Beton für den Bau entwickelt hat, versteht sich da schon fast von selbst.

Nicht ganz so selbstverständlich: die äußere Erscheinung des Objekts. Die vorgeschriebene Feuertreppe nämlich hat man zum Gestaltungselement der Fassade umgedeutet. In einer Abfolge aus Terrassen und Stiegen ist sie vom Dach weg spiralig rund um das Gebäude bis ins Erdgeschoß gewunden, versorgt zugleich jede Ebene mit einer eigenen begrünten Freifläche, gestaltet von den hauseigenen Landschaftsplanern. „Wir haben daraus einen Erholungsraum für die Mitarbeiter gemacht“, erklärt Lyng. Erholungsraum wie der kleine, dem Gebäude vorgelagerte Park, der auch der Allgemeinheit zur Verfügung steht.

Ob Ingenieurbau, Architektur, Produktdesign oder eben Landschaftsplanung: Sämtliche Abteilungen des Hauses sollten, so die Idee, in der neuen Heimstatt der Bjarke Ingels Group in eins zusammenfinden. Ergebnis: eine gebaute Visitenkarte, mit Witz, Charme und viel Kreativität an den Kopenhagener Hafenrand platziert. Visitenkarte mit Meerblick gewissermaßen. Was könnte schöner sein?

9. August 2024 Spectrum

Stadtgestaltung in Wien: So kleinlich darf man nicht planen

Jahrzehntelang wirkte Erich Raith, Wiener des Jahrgangs 1954, am Planungsgeschehen in Wien an zentraler Stelle mit: als Universitätslehrer und zuletzt Vorstand des Instituts für Städtebau und Raumplanung an der TU Wien, als konzeptiver Zuarbeiter des Magistrats. Kürzlich kündigte er überraschend an, seine beruflichen Agenden stillzulegen. Anlass für ein Gespräch.

Die Presse: Man wird vielleicht nicht als Architekt geboren, aber wenn man’s einmal ist, bleibt man’s üblicherweise bis ins Grab. Warum dieser Rückzug?

Erich Raith: Ich gehöre wohl nicht zu jenen, die den letzten Atemzug unbedingt an der Kante des Zeichentisches machen wollen. Als junger Architekt, wenn man noch glaubt, über unerschöpflich viel Zeit und Kraft zu verfügen, stürzt man sich ja voll Sportsgeist in jeden Wettbewerb, kämpft auch lustvoll gegen Windmühlen und versucht, Kopf voran manche Wand zu durchbrechen. Später lernt man dann notgedrungen, sich genauer zu überlegen, in welche Projekte man Zeit, Aufmerksamkeit und Herzblut investiert. Und ja, ich glaube, ich hätte schon noch einiges einzubringen an Wissen und Erfahrung.

Sind Sie frustriert über aktuelle Entwicklungen der Stadt?

Es wäre naiv anzunehmen, dass sich Expertenmeinungen immer hundertprozentig durchsetzen müssen. Da können ja mittlerweile auch Virologen und Immunologen ein Lied davon singen. Auch die Stadtentwicklung gehört zu jenen Themenfeldern, die zu wichtig sind, um sie allein Expertinnen zu überlassen. Außerdem ist Wien gerade wieder zur lebenswertesten Stadt weltweit gekürt worden. Das ist sicher nicht allein das Verdienst der Stadtplanung – ganz unschuldig wird sie daran aber auch nicht sein. Ich denke, dass es nicht zuletzt der Praxis der sanften Stadterneuerung zu verdanken ist, dass Wien eine im internationalen Vergleich herausragende urbane Qualität entwickeln konnte.

Über die Meriten der Stadterneuerung hört man aber nicht sehr viel.

Die gesetzlichen Grundlagen für den speziellen Wiener Weg der Stadterneuerung, für den Wien immerhin im Jahr 2010 von der UNO-Weltorganisation für Siedlungswesen und Wohnbau mit dem weltweit wichtigsten Preis in diesem Bereich ausgezeichnet wurde, stammen aus dem Jahr 1974. Die Stadterneuerung feiert also heuer das 50-Jahr-Jubiläum. Zum 30-Jahr-Jubiläum gab es 2004 noch große Veranstaltungen, bei denen sich auch die politische Prominenz entsprechend feiern ließ. Heuer zeichnet sich nichts dergleichen ab. Das ist erstaunlich und irgendwie beschämend. Die Stadt ist sich offenbar ihrer eigenen Verdienste nicht mehr bewusst. Ich bedaure auch, dass die – mittlerweile betagten – Persönlichkeiten, die diese großartige Entwicklung auf Schiene gebracht und ständig weiterentwickelt haben, nicht angemessen vor den Vorhang geholt werden.

Nehmen wir Ihre Studie über das Wiental, erstellt 2021 im Auftrag des Magistrats: Da haben Sie ziemlich genau das Gegenteil von dem empfohlen, was jetzt mit der Naschmarkthalle passiert.

Das Wiental ist die wichtigste Frischluftschneise Wiens, vom Westen her bis ins Stadtzentrum. Für die gesamte Kernstadt wäre es immens wichtig, diesen Großraum insgesamt als Kaltluftbahn zu optimieren. Im gegenwärtigen Zustand aber ist das Wiental der effizienteste Luft-Durchlauferhitzer, den man sich vorstellen kann. Wenn der frische Wind aus dem Wienerwald beim Naschmarkt angelangt ist, ist er bereits zu einem heißen Wüstenwind geworden. Hier mit einigen Baumsetzungen und Wasserspielen zu reagieren mag zwar zu kleinräumig spürbaren Verbesserungen beitragen, für die Aufenthaltsqualität in der Innenstadt sind diese Maßnahmen zu zentrumsnah und sowieso unzureichend. Im Hinblick auf die bedrohliche Entwicklung des Stadtklimas wird leider viel zu kleinlich gedacht. Dass man dann bei einem Projekt, das zwar aus einem Wettbewerbsverfahren siegreich hervorgegangen, aber dennoch stadtstrukturell problematisch ist – auch, weil es zu einer Barriere für die Luftströme werden kann –, ein paar Quadratmeter Dachbegrünung anbietet, steht geradezu symbolisch für diese konzeptionelle Kleinlichkeit.

Was müsste stattdessen geschehen?

Man müsste die spektakuläre Transformationsgeschichte des Wientals mutig und offensiv fortschreiben. So wie zu Otto Wagners Zeiten eine vorindustriell überformte, aber immer noch grüne Tallandschaft radikal in eine zeittypische steinerne Infrastrukturtrasse verwandelt wurde – mit einem stadtbaukünstlerischen Zugriff, der bis heute beeindruckt, und den man sich in dieser Großzügigkeit längst nicht mehr zutraut –, so sollte das Wiental jetzt ebenso grundlegend in eine zukunftsweisende Stadtlandschaft des 21. Jahrhunderts umgebaut werden.

Gibt es schon Studien dazu? Weiß man, was in diesem Sinn zum Beispiel ein Aufstauen des Wienflusses bewirken könnte? Gibt es Überlegungen zur Nutzung der enormen Kaltluftreserven im Wienflussgewölbe, zu einer konsequenteren Überplattung und Begrünung der U-Bahntrasse? Kennt man die Flächenpotenziale für eine klimaeffiziente Stadtbegrünung, die wirklich stadtstrukturelle Dimensionen erreicht? Gibt es ein visionäres Gesamtbild, das mehr ist als ein kleinteiliges Flickwerk?

Was passiert stattdessen: Man versiegelt im Vorfeld von Schönbrunn einen Großparkplatz, der bereits vorliegenden Wettbewerbsergebnissen diametral widerspricht und auch mit Blick auf das Welterbe Schönbrunn falsch ist. Statt einer ernst zu nehmenden Strategie in Sachen Stadtklima gibt es diesen Tortenstreusel aus kleinen Grün- und Wasserelementen, den man undifferenziert und flächig über die Stadt verteilt. Da kriegt dann halt auch der Michaelerplatz ein paar blaue und grüne Flankerln ab, die hier leider völlig deplatziert sind, woanders aber schwächelnde Grünstrukturen sinnvoll stärken könnten. In Wahrheit müsste man sich überlegen: Wie gesundheitsfördernd, nahrhaft und wohlschmeckend kann denn zukünftig die Torte unter dem Streusel sein?

Und wieso geschieht das nicht?

Die Stadt Wien hat das Klimathema bis vor wenigen Jahren kaum wahrgenommen. Vor etwa zehn Jahren gab es zum Beispiel den Wettbewerb zum Areal Wiener Eislaufverein/Hotel Intercontinental. In der Wettbewerbsauslobung hat das Klimathema noch keine Rolle gespielt. Entsprechend ist auch das Wettbewerbsergebnis. Wenn man mitbekommt, wie unglaublich verkrampft da bis heute mit dem Unesco-Weltkulturerbe über die Höhenentwicklung gestritten und dabei das Projekt immer fragwürdiger wird, dann tut das fast schon körperlich weh. Erstaunlicherweise wird aber nicht darüber diskutiert, dass die Fläche des Eislaufplatzes die großräumig etablierte Bebauungskante an der Außenseite des Glacis unzulässig überspringt und als Hitzeinsel stadtklimatisch kaum beherrschbar sein wird. Für mich wären diese Themen mindestens so relevant wie der Canaletto-Blick.

Dann gab es Jahre später plötzlich wissenschaftlich fundierte Klimaprognosen für Wien, die zu Recht einen Schock ausgelöst haben. Wien steht nämlich diesbezüglich schlechter da als die meisten anderen europäischen Städte.

Der Stadtplanung ist das Problem natürlich bewusst, ich sehe nur nicht die angemessenen konzeptionellen Konsequenzen. Auf der Planungsebene schlägt sich das im Moment vor allem in Gestalt des grünblauen Tortenstreusels nieder: ein paar Wasserspiele da, ein paar Kräuterbeete dort, ein paar begrünte Fassaden und Dächer. Und man kann nur hoffen, dass das wunderbare Wiener Hochquellwasser ausreichen wird, um das alles zu bewässern. In Zukunft wird ja wahrscheinlich jeder Stadtbaum wie ein Patient in der Intensivstation an versorgenden Schläuchen hängen und permanent überwacht werden müssen.

Tatsächlich müssten wir die enormen Herausforderungen, die auf die Stadt zukommen, auf einer viel grundsätzlicheren Ebene angehen. Es geht um eine andere Energieversorgung und in letzter Konsequenz darum, dass wir unsere alltäglichen Lebensprozesse anders im Raum organisieren müssen – Stichwort: 15-Minuten-Stadt. Die gute Nachricht ist: Die gründerzeitlichen Teile der Stadt werden sich da wahrscheinlich wieder ganz gut bewähren, wahrscheinlich besser als die gering verdichteten, monofunktionell spezialisierten und in der Gebäudestruktur zu kleinteiligen und zu starren Wohnbauten des vergangenen Jahrhunderts.

Alt schlägt Neu: wieso?

Zum Beispiel, weil ältere Stadthäuser in der Regel erlauben, dass im selben Haus gleichzeitig auf unterschiedliche Weise gewohnt und auf ebenso unterschiedliche Weise gearbeitet werden kann und im Erdgeschoß vielleicht noch ein Wirtshaus sein kann oder ein Geschäft. Besonders wichtig ist dabei, dass die Gebäudestrukturen Umnutzungen, Veränderungen und ständige Anpassungen an sich verändernde Lebensbedingungen ausreichend zulassen. Diese „strukturelle Offenheit“ ist ein wesentlicher Schlüssel für das Entstehen und die ständige Auffrischung vitaler Urbanität.

Wenn ich mir aber die funktionell spezialisierten Wohnbauten anschaue, wie sie noch heute meistens errichtet werden, mit einem Wohngeschoß auf Nullebene oder einem gerade etwas über zwei Meter hohen Erdgeschoß, das gerade für die Garageneinfahrt und den Müllraum reicht, dann leistet das einfach zu wenig für den öffentlichen Raum und für ein lokales Stadtleben. Darüber gibt es dann immer gleiche Regelgeschoße, wo immer an der gleichen Stelle im Grundriss das Doppelbett mit den zwei Nachtkästchen stehen muss, weil es räumlich gar nicht anders geht. Das hat doch mit unserer aktuellen – und erst recht mit einer zukünftigen – gesellschaftlichen Realität und der explodierenden Vielfalt an Lebensentwürfen nichts mehr zu tun.

Und wenn man dann Wettbewerbe für große Stadterweiterungsgebiete durchführt, wo die Auslobung den Planerinnen abverlangt, dass 90 Prozent der Bebauung als reiner Wohnbau dieser Art vorzusehen ist, dann ist das höchst problematisch und rückwärtsgewandt, dann erklärt sich das vielleicht aus der Trägheit des mächtigen Systems Wohnbau in Wien und vielleicht auch daraus, dass sich die Stadtplanung auf eine pragmatische Haltung zurückzieht und vielleicht eigene Ansprüche unterordnet. Nachhaltige Raumentwicklung stelle ich mir jedenfalls anders vor.

Woran fehlt es?

Wir stehen vor der Herausforderung, diese Stadt wieder einmal gründlich umrüsten zu müssen, um nächsten Generationen einen zukunfts- und entwicklungsfähigen Lebensraum mit historischer Tiefe, aber auch mit ausreichenden Innovationspotenzialen hinterlassen zu können. Diesem Umbauerfordernis steht viel an Trägheit, an Beharrungskräften entgegen. Wobei ich glaube, dass man gerade in Wien durch die Erfolgsgeschichte der Stadterneuerung einen gewaltigen Wissens- und Erfahrungsschatz hätte, auf den man zugreifen sollte. Nur: Das interessiert offenbar niemanden – schon gar nicht beim Neubauen am Stadtrand.

Dieser einfache Gedanke, dass das, was man heute neu baut, für die nächste Generation ein Erneuerungs- und Anpassungsproblem darstellen wird, dieser Gedanke wird nicht gedacht und schon gar nicht konzeptionell und konstruktiv umgesetzt.

Wir können heute unmöglich prognostizieren, welche räumlichen Ansprüche man in 30 Jahren im Hinblick auf das Wohnen oder das Arbeiten haben wird, und ob es diese Begriffe angesichts solcher Megatrends wie der Digitalisierung überhaupt noch geben wird. Wir wollen aber, dass die Stadtquartiere und Gebäude, die wir heute errichten, eine lange Lebensdauer haben und langfristig gut brauchbar und attraktiv sein werden. Wieso bauen wir aber dann immer noch mehrheitlich Wohnungstypen wie für eine alte Industriegesellschaft, für die das Wohnen und das Arbeiten zeitlich und räumlich ganz streng getrennt waren? Wegen der meistens gewählten konstruktiven Struktur der Gebäude werden diese starren Raumangebote auch kaum nachkorrigiert werden können. Das ist eine urbanistische Erbsünde.

Dabei hätte gerade Wien alle Voraussetzungen, wieder so einen Innovationssprung zu machen, wie es der Wohnbau des Roten Wien in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts war, nur diesmal müsste es darum gehen, den monofunktionalen Wohnbau zu überwinden. Das „System Wohnbau“ hat zwar in den vergangenen 100 Jahren viele, auch große und qualitätsvolle Wohnsiedlungen hervorgebracht, aber nie eine wirklich urbane Stadt. Es ist mittlerweile eine historische Erfahrung, dass das mit dieser Art von Wohnbau auch nicht geht. Urbanität ist aber die Schlüsselqualität und die unverzichtbare Voraussetzung, wenn man in Zukunft mit den vorhandenen Ressourcen an Fläche, Raum, Energie und Material auskommen will.

Wir werden sehen, was zu diesen Themenbereichen im nächsten Wiener Stadtentwicklungsplan stehen wird, der ja spätestens im kommenden Jahr beschlossen werden soll. Ich habe bislang nicht mitbekommen, wie da der Stand der Dinge ist. Im Unterschied zu früher wird jetzt offenbar lieber hinter verschlossenen Türen über die Zukunft der Stadt diskutiert.

8. März 2024 Spectrum

Prater ohne Wursteln: Das neue Pratermuseum eröffnet am 15. März

Zwei Wunder – und ein Architekt, der sich von allen Vorgaben frei macht. Michael Wallraffs neues Pratermuseum oder: Wie man ästhetisch abheben und doch auf dem Boden bleiben kann.

Kaiser Franz Joseph begegnet Alexander Van der Bellen. Ludwig van Beethoven stapft zwischen Gustav Klimt, Egon Schiele und Franz Schubert grummelig durchs Gras. Und über allem Batman in den Wiener Lüften. Das neue Pratermuseum macht möglich, was sonst nicht möglich ist – nicht nur auf dem Zeiten und Grenzen überschreitenden Praterwimmelbild, das die Seitenwand im Erdgeschoß füllt, sondern auch mit einer Architektur, die eine andere Sprache spricht als alles, was sie umgibt, und dennoch genau hierher und nirgends sonst hingehört.

Dass derlei geschehen kann, ist zunächst einmal der Sammelbegeisterung eines Wiener Heimatforschers zu verdanken: Über Jahrzehnte häufte Hans Pemmer (1886 bis 1972), von Beruf Lehrer, einen Bestand an Pratermemorabilien an, die bis in die Zeit der Öffnung des kaiserlichen Jagdreviers für die Öffentlichkeit, 1766, zurückreicht.

So war es auch Pemmers Wohnung, in der ein erstes Pratermuseum Heimstatt fand, ehe seine Sammlung 1964 in einen Nebenraum des eben erst errichteten Planetariums übersiedelte – unter der Ägide des damals noch als Historisches Museum der Stadt Wien geläufigen Wien Museums.

„Zugang von zwei Seiten, das Museum obendrauf“

Die Jahrzehnte zogen ins Land, und die Präsentation der Sammlung im Planetarium vermochte den Besucherbedürfnissen wie jenen der Konservatoren immer weniger zu genügen. Und siehe, da geschah das erste Praterwunder: Eine Spielhalle, zwischen Riesenradplatz und Straße des Ersten Mai gelegen, wurde vom Betreiber aufgegeben.

„Ursprünglich hatten wir die Aufgabe zu prüfen, ob man diese Halle so verwenden kann, wie sie ist“, erzählt Architekt Michael Wallraff. „Und da hat sich rasch herausgestellt, dass die in keiner Weise entspricht.“

Nächster Versuch: ein gleich großer Ersatzbau, „aber halt klimagerecht“, so Wallraff. „Da ist dann die Diskussion entstanden: Wenn es eine eingeschoßige Halle ist, wo geht man hinein, an der Straße des Ersten Mai oder auf der anderen Seite? Irgendwann hab ich gesagt: Zugang von beiden Seiten und das Museum obendrauf. Und so ist das Projekt in die Höhe gewachsen.“

Kreatives Chaos?

Man habe sich letztlich von der ursprünglichen Fragestellung gelöst und grundsätzlicher überlegt: „Was gehört da wirklich her? Und wie kann man das nachhaltig, aber auch städtebaulich und typologisch richtig machen?“ Eine vorgabenbefreite Vorgangsweise, wie sie sich manche beim neuen Wien Museum gewünscht hätten. Umso erstaunlicher, dass sich derlei ausgerechnet im Wurstelprater ereignet, einem Terrain, das nicht unbedingt als Hotspot der Baukunst gilt.

Was Wohlgesonnene als kreatives Chaos beschreiben, das individuelle Gestaltungslust der mehr als 80 Praterunternehmer zum Ausdruck bringe, nehmen weniger Wohlgesonnene als Geisterbahn grotesker Beliebigkeiten wahr, in der an die Stelle der subversiven komödiantischen Verve eines Hanswurst allseitiges Durchwursteln getreten ist.

Auch ein obrigkeitlicher Versuch, 2008 mit einer Neugestaltung des Zugangsbereichs ein wenig Haltung ins Unterhaltungs-Tohuwabohu zu bringen, hat nicht mehr als Abgeschmacktes in die Entertainmentwelt gesetzt, diesfalls allerdings um so viel Geld, dass es die dafür amtszuständige Vizebürgermeisterin sogar die politische Karriere gekostet haben soll. Jedenfalls zog sie sich kurz nach dem Desaster aus der Politik zurück.

Das Dach: Sprungschanze, Zelt oder Kasperlmütze?

So blieb das dem Riesenrad 2002 angelagerte Entree des Schweizers Mathis Barz bis dato der einzig ansehnliche Baubeitrag jüngeren Datums zu einem Gelände, dem an seinem Südosteck mit der monumentalen Betonröhre des „Panorama Vienna“ eben erst eine besonders groteske Ergänzung zuteil wurde.

Wie’s ganz anders gehen kann, zeigt jetzt das Pratermuseum vor. Schon das äußere Erscheinungsbild demonstriert gleichermaßen Witz wie Traditionsbewusstsein: Die Lattenfassade der Oberstöcke referiert auf den Bretterbudenzauber vergangener Tage, das Orange dahinter und darunter an unser aller Bedürfnis, nicht alles tierisch ernst zu nehmen.

Das Dach öffnet in seiner Form ein Feld vielfältiger Assoziationen. Und egal, ob man Sprungschanze, Zelt oder Kasperlmütze darin erahnen will, seiner Gestalt ist eine widerständige Heiterkeit eigen, die sich so markant wie liebenswürdig in Szene setzt.

„Einladung zum Spekulieren“

Gut möglich, dass sich derlei Bewusstsein für den dramatischen Gestus aus Michael Wallraffs Zweitprofession, der Bühnenbildnerei, erklären lässt. „Wir wollten eine kleine Landmark setzen“, bekennt er denn auch, und diese hat ausgerechnet in einer Vorgabe der für Stadtgestaltung zuständigen Magistratsabteilung ihren Ursprung. „Ich habe bei der MA 19 angefragt, was aus deren Sicht gar nicht geht“, erzählt Wallraff. „Dort hat man gesagt, der Blick aufs Riesenrad soll frei bleiben.

Damit war klar: Zur Straße des Ersten Mai hin kann man eigentlich recht hoch bauen, denn da verstellen wir das Riesenrad nicht, aber auf der anderen Seite, dem Riesenrad zu, muss es runtergehen. Und so ist diese Dachform entstanden.“ All das und noch etliches mehr, zum Projekt gefasst, hatte freilich nicht mehr allzu viel mit der Ausgangsidee – und den dafür budgetierten Errichtungskosten – gemein.

Und da geschah das zweite Praterwunder: Die Stadt Wien, konkret ihr Kulturressort, hatte Einsehen in Vernunft und Qualität des Vorgeschlagenen und tat, was dieser Tage nur selten geschieht – sie stimmte der Finanzierung dessen zu, was architektonisch überzeugend und kulturpolitisch (zur Aufwertung des Wurstelpraters) richtig war.

Praterattraktion der besonderen Art

So kommen ab 15. März Besucherinnen und Besucher in den Genuss einer Institution, die ihresgleichen nicht bald wo hat: nicht allein der rundum aufgefrischten und mittlerweile beträchtlich erweiterten Sammlung wegen, sondern auch mit sorgsam gestalteten Räumlichkeiten, die das Zeug zu einer Praterattraktion der besonderen Art haben.

Im frei zugänglichen Erdgeschoß mit dem schon erwähnten Riesenwimmelbild, das sein Schöpfer, der Grafiker Olaf Osten, als „Einladung zum Spekulieren“ verstanden wissen will; in den zwei Geschoßen darüber mit einer von Michael Wallraff verantworteten Ausstellungsarchitektur, die bei vergleichsweise noch immer bescheidenem Platzangebot eine Fülle sorgsam ausgewählter Objekte ins rechte Licht setzt, ohne das Publikum mit einer Überfülle zu erschlagen.

Und wer von so viel Vergangenheiten die Gegenwart nicht aus dem Blick verlieren will, dem bieten zwei Balkone die Möglichkeit, sich ein Bild davon zu machen. „Die Idee war, dass man von außen neugierig wird: Da stehen Leute oben – und wie komme ich da hin?“, erläutert Wallraff. „Und dass man am Ende der Ausstellung den Prater zum Ausstellungsobjekt macht.“ Ein Objekt, dessen erfreulichsten Neuzugang seit Jahrzehnten man leider genau von dort nicht sehen kann: das Pratermuseum.

19. Januar 2024 Spectrum

Otto Wagner und die Nussdorfer Schleuse: Fast wäre hier eine Diskothek entstanden

So original, wie es gegenwärtiges Wissen und Befunden zulassen – und womöglich haltbarer denn je: Otto Wagners Administrationsgebäude an der Nussdorfer Schleuse in Wien-Brigittenau, neu gefasst. Ein Besuch.

Oje, da ist ja der Herr Architekt, der wird gleich mein grünes Hemd weiß anstreichen . . .“ Der Magistratsmitarbeiter, der da den „Herrn Architekten“ im Vorbeigehen launig anspricht, ist nicht wirklich um sein Hemd besorgt. Jener „Herr Architekt“ nämlich, von Beruf Baumeister und Wolfgang Czernilofsky mit Namen, mag zwar mit mancher Umfärberei in Verbindung zu bringen sein, doch von Textilien konnte dabei bislang noch nie die Rede sein.

Wir befinden uns an der Adresse Am Brigittenauer Sporn 7, und wer hier, wo sich Donaukanal von Donau trennt, mit Wolfgang Czernilofsky durch die Räume geht, könnte leicht glauben, er habe es mit einem hochherrschaftlichen Palais oder mit einem kaiserlichen Schloss zu tun, so akribisch bedenkt Czernilofsky jedes Detail mit Aufmerksamkeit.

Nun, hochherrschaftlich ist das Gemäuer keineswegs und kaiserlich nur gewissermaßen, vielmehr schlichtes Administrationsgebäude, 1898/1899 errichtet für die Donau-Regulierungs-Commission. Und doch: Wem könnte der selbstsicher-souveräne Gestus entgehen, mit dem es sich über die Wasser erhebt?

Bronzelöwen als Wächter

Derlei ist kein Zufall, schließlich ist die Baulichkeit Teil einer Komposition, die ihrem Schöpfer, Otto Wagner, sehr viel mehr war als bloßes Zweckobjekt. „Die Bauten der Donaucanalsperre betreffend, war Wagners Gedanke der der Schaffung eines monumentalen Thores am Eingange des Canales“, wusste die Zeitschrift „Der Architekt“ im Jahr 1900 zu berichten. Entsprechend dominant präsentiert sich, was heute Nußdorfer Wehr- und Schleusenanlage heißt: Namentlich die beiden Bronzelöwen, die da, geschaffen von Rudolf Weyr, auf mächtigen Pylonen Wächterdienste tun, lassen keinen Zweifel darüber, dass hier mehr erfüllt sein sollte als eine bloß technische Funktion.

Dieses „Thor“ passiert heute kaum noch wer. Geblieben ist dagegen die periphere Lage am äußersten Nordzipfel der Brigittenau, die es der Nachfolgeorganisation der Donau-Regulierungs-Commission, der Donauhochwasserschutzkonkurrenz, nicht gerade leichter machte, nach ihrer Übersiedlung in zentralere Lage einen Nachnutzer für das Gebäude zu finden. „Da gab es sogar Pläne, das Haus zu entkernen und eine Diskothek draus zu machen“, weiß Wolfgang Czernilofsky.

Glücklicherweise kam es anders: Mit der Magistratsabteilung 45, zuständig für Wiens Gewässer, wurde ein passender Quartiernehmer gefunden, und im Zuge der für den Einzug nötigen Adaptierungsmaßnahmen entstand die Idee, dem Gebäude sein originales Aussehen zurückzugeben. Denn davon konnte seit Jahrzehnten keine Rede mehr sein.

An Eleganz gewonnen

Auch an diesem Objekt wie an so vielen anderen Otto Wagners hatte sich jenes ominöse Otto-Wagner-Grün breitgemacht, von dem man seit Jahren weiß, dass es erst lang nach Wagner an seine Gebäude – und an seine Stadtbahngeländer – kam. „Otto Wagner hat vorwiegend monochrom gebaut, und zwar monochrom weiß“, sagt Czernilofsky – und sagen die Befunde, die man in einschlägiger Sache längst angestellt hat.

Dass im Licht solcher Erkenntnisse Otto Wagners Werk nicht samt und sonders entgrünt wird, hat gute Gründe: nicht zuletzt den, dass Denkmalschützern auch das zwar nicht originale, jedoch längst gewohnte Bild als schützenswert gilt. So erinnert nur eine Handvoll Geländerlaufmeter unweit der Urania an deren ursprüngliche Farbe, ein helles Beige – und seit Kurzem das bewusste Administrationsgebäude, das, einheitlich in Weiß getaucht, noch an Eleganz gewonnen hat.

Allerdings, mit ein bisschen Farbe allein war’s nicht getan, wollte man sich dem ursprünglichen Erscheinungsbild annähern: Auch die Form der Fenster hatte sich im Lauf der Jahrzehnte deutlich verändert. „Wir hatten zwei kleine Fenster übereinander, mit einem dicken Kämpfer dazwischen, und die Fenster hatten auch noch Sprossen“, erzählt Wolfgang Czernilofsky.

Der historische Zustand dagegen: schlanke, hohe, sprossenlose Fensterflügel. Eine Lösung, die sich, so Czernilofsky, offenbar nicht bewährt hat: „Wir haben durch die exponierte Lage des Gebäudes Regen, der vom Wind mit 100 Stundenkilometern und mehr an die Fenster geschlagen wird. Das haben die ursprünglichen Fenster sicher nicht lang ausgehalten.“ Dazu kommt, dass sich das Gebäude bis heute bewegt: „Wir stehen hier auf einem Schüttgebiet.“ Die Folge: Wenn sich das Gebäude bewegt, verziehen sich die Fenster und werden undicht.

Bewährte Handwerkstradition

Mit einem Trick schaffte Czernilofsky den Spagat zwischen historischer Erscheinungsform und den hier durchaus besonderen Herausforderungen der Funktionalität: Innen sind Passivhausfenster aus Holz in den Rahmen montiert, außen jedoch Aluminiumfenster. Eine Materialwahl, die bei den Denkmalschützern zunächst auf wenig Gegenliebe stieß, allerdings eine besondere Konstruktionsweise erlaubte. „Die Außenebene der Fenster ist gleitend montiert“, erläutert Czernilofsky. Das Verhältnis Fensterstock zu Fensterflügel sei dadurch „unabhängig vom Rest des Gebäudes“. Ergebnis: „Wann immer es beim Haus eine Bewegung gibt – das Fenster bleibt dicht.“ Und seit dem äußeren Holz-Schein mit einer entsprechenden Pulverbeschichtung des Aluminiums Rechnung getragen wurde, ist – so Czernilofsky – auch das Bundesdenkmalamt einverstanden.

Sonst freilich setzte Czernilofsky meist auf bewährte Handwerkstradition: So mussten die Maurer, die den Verputz der Fassade besorgten, entsprechende Expertise in historischen Techniken nachweisen können. Und auch für die teils durchaus herausfordernden Erneuerungsarbeiten an den Verblechungen konnte ein Spengler mit einschlägigem Know-how gewonnen werden.

Da steht es also 125 Jahre nach seiner Errichtung, Otto Wagners Administrationsgebäude für die Donau-Regulierungs-Commission: so original, wie es Wissen und Befunden unserer Tage zulassen – und womöglich haltbarer denn je zuvor. Und für jene, die Otto-Wagner-grünen Ornamenten, Verblechungen und Fensterrahmen nachtrauern, hält es eine charmante Überraschung bereit: Folgend aktuellen Untersuchungen, finden sich Applikationen unter dem weiten Dachvorsprung und ein kleiner Balkon an der stromaufwärts gelegenen Fassade in zartestes Olivgrün getaucht. Kein Otto-Wagner-Grün, gewiss, aber ein bisserl Grün halt doch.

10. Februar 2021 Spectrum

Von der Ordnung und Unordnung der Gärten

Seit Tagen schaue ich, da ich diese Zeilen schreibe, auf die Leerstelle in meinem Garten, die mein alter Marillenbaum hinterlassen hat. Gut 90 Jahre alt, wurde er vergangenen Montag gefällt. Vom Wachsen, Vergehen und neu Entstehen. Kagraner Marginalien zur Wiener Siedlerbewegung.

Montags um acht war die Welt noch in Ordnung. Nicht die große, weite, wann wäre die je in Ordnung gewesen. Nein, die bescheidene Gartenwelt, die sich, 80 Quadratmeter klein, hinter meinem Siedlungshaus zu Kagran gegen Osten streckt. Gewiss, sogar diese Siedlungsgartenordnung strebt wie alles im Kosmos, ewigen Gesetzen folgend, stets der Unordnung zu, wer wäre Gärtner und wüsste das nicht. Doch bei allem, was da immer vor sich ging, ob sommers, ob winters, bei Regen, bei Schnee, stand da, umtost vom Toben der Jahre, der eine, der Ordnung und Orientierung schuf, wie sehr sich auch alles im Chaos von Wachsen, Werden und wieder Vergehen verlor: ein Marillenbaum, Maßstab für alles, was rundum geschah, als könnt's nicht anders sein und als sei er selbst längst enthoben den Zwängen, die der Zirkel des Lebens jedem sonst aufdrängt.

Vergangenen Montag um acht in der Früh stand er genauso noch da, von zahllosen Stürmen geschüttelt, doch stets ungerührt dem Augenschein nach. Zwar hatte ihm die Zeit Wunden geschlagen, zweimal hatte die Last der Früchte, die er trug, ihn zerbrechen lassen, doch stets hatte er sich aus eigener Kraft neu erschaffen, ein Monarch, der nicht willens schien, sein Siedlungsimperium je aufzugeben, ein Imperium, das er sich, bis ins Kernholz redlich, nicht ererbt, sondern durch Beharrlichkeit gleichsam erwachsen hatte, letzter Zeuge aus der Anfangszeit der Freihofsiedlung, den Zwanzigerjahren, einer Zeit, von der rund um ihn kaum einer noch wusste, mancher auch gar nichts mehr wissen wollte, den einen zu fern, zu fremd jene Tage, zu schmerzhaft anderen vielleicht.

Vergangenen Montag war die Regentschaft zu Ende, erst fielen die Äste, der Stamm folgte bald. Gestürzt lag der Monarch um halb zehn Uhr morgens vor mir, eben noch Alleinherrscher gewesen in einem Reich, das ohnehin schon lang nicht mehr das seine gewesen: ein Gartenreich, das in nichts mehr jenem glich, dem er einst entwachsen, und das doch noch immer Glück spendete jenen, die es bewohnten, wenngleich auf ganz andere Art, als anfangs gedacht.

„Der Garten ist das Primäre, das Haus ist das Sekundäre.“ Kein Geringerer als Adolf Loos definiert schon früh, 1920, die Grundmaxime, der die Siedlerbewegung gehorchen muss, soll sie ihren Zweck erfüllen. Loos weiter, kompromissverweigernd wie oft: „Nur der Mensch, der das Bedürfnis hat, durch Gartenarbeit neben seinem Beruf Nahrungsmittel zu schaffen, hat das Recht, Boden für sich von der Allgemeinheit in Anspruch zu nehmen.“ Und: „Das Sichfreuen am Garten hat nur im Anbauen von Nahrungsmitteln zu bestehen.“

Womit wir Lang- und Längstnachgeborenen unmittelbar auf die Wurzeln der Siedlerbewegung verwiesen sind: die elementaren Versorgungsnöte während und nach Ende des Ersten Weltkriegs. Die „Kriegsgemüsegärten“, in die hungrige Massen jedes nur greifbare Stückchen städtisches Land vor 1918 verwandeln, finden nach 1918 (und angesichts ungemindert bedrückender Nahrungsmittelknappheit) rasch in wilden Landnahmen ihre Fortsetzung, jetzt freilich mit dem Ziel, den Landnehmern nicht nur durch Eigenanbau von Feldfrüchten aller Art das Überleben zu sichern, sondern darüber hinaus durch Errichtung schlichtester Behausungen ein Dach über dem Kopf zu geben.

Was als disparate Mischung aus bürgerlich, sozialistisch oder gar anarchistisch Bewegten beginnt, organisiert sich alsbald in Genossenschaften. Mit der Einrichtung eines eigenen Siedlungsamts treibt eine eben erst sozialdemokratisch gewordene Stadtregierung die Institutionalisierung der Siedlerei weiter voran – und verleibt sie kurzerhand dem Roten Wien ein, als wär sie nie anders als sozialdemokratisch gewesen.

Auffallend rasch, den Nöten der Zeit gehorchend, ist ein Organisationsprinzip gefunden: Grund und Boden wird von der Stadt bereitgestellt, das Siedlungsamt steuert die Planung bei, Baumaterial wird von der gleichfalls eigens gegründeten Gemeinwirtschaftlichen Siedlungs- und Baustoffanstalt der Gemeinde geliefert (die unter dem Kürzel Gesiba in der Nachkriegszeit zu einem der größten gemeinnützigen Bauträger Österreichs wächst), die Errichtung der Siedlungshäuser wiederum liegt nicht zuletzt in Händen der künftigen Siedler selbst: Statt Kapital (über das ohnehin keiner von ihnen verfügt) bringen sie ihre Arbeitsleistung in die Genossenschaften ein.

Auf diese Weise entstehen in knapper Folge an den Wiener Peripherien mehrere Siedlungsrayone, der größte von ihnen unweit des transdanubischen Ortsteils Kagran: „Am Freihof“, errichtet im Zusammenwirken gleich dreier Genossenschaften, die sich alsbald zu einer einzigen zusammenschließen werden – der Siedlungsunion, die bis heute besteht und mittlerweile ihre ursprüngliche Kernkompetenz, eben den Reihenhausbau, längst für (immerhin stets human dimensionierten) Mehrgeschoßwohnbau aufgegeben hat.

Mehrgeschoßer, ja regelrechte „Volkswohnpaläste“ sind es auch, die schon früh in sozialdemokratischen Wohnbauprogrammen die Flachbauten der Siedlerei in den Hintergrund drängen. Und Grund dafür wird gewiss nicht nur die von allem Anfang an unübersehbare Tatsache sein, dass sich übereinandergestapelt mehr Menschen je Quadratmeter Grundfläche unterbringen lassen als in weitläufigen Reihenhausquartieren. Auch die Idee eines „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ scheint mit dem eher individualistischen Siedlerglück im Kleingarten nicht ideal kompatibel, ganz zu schweigen vom Selbstbewusstsein, das Siedler und ihre Genossenschaften allein deshalb entwickeln, weil sie mit Recht das Gefühl haben dürfen, ihr Geschick selbst in die Hand genommen zu haben. Emanzipation ist zwar allenthalben ein hoch gepriesenes Gut, das politische Parteien freilich lieber für andere fordern, als es in den eigenen Reihen zu leben.

So wird es kein Zufall sein, dass Bürgermeister Seitz erst dann die Reise über die Donau antritt, als im rathausfernen Kagran die neue Wiener Wohnkultur nicht nur am Beispiel einer (alsbald international viel beachteten) „Gartenvorstadt“ zu loben ist. Im Mai 1927 stehen dort nebst der Siedlung „Am Freihof“ auch zwei – im Übrigen eher mediokre – Gemeindebaukasernen zur Eröffnung an. Und dass Seitz bei nämlicher Gelegenheit den skizzierten wohnbauprogrammatischen Konflikt gewandt in Abrede stellt, bestätigt nur dessen Existenz.

Immerhin ist der Stadt die Eröffnung der Freihofsiedlung eine reich illustrierte Broschüre wert, in der neben dem Leiter des Siedlungsamts vor allem der Gestalter der Anlage zu Wort kommt: der Architekt Karl Schartelmüller, Wiener des Jahrgangs 1884 und seit 1913 in Diensten der Stadt. Und nicht nur die Anlage von Straßen und Plätzen, Grundrisstypen für die Häuser samt innerer und äußerer Erschließungsstruktur hat er vorgesehen, sondern selbstverständlich auch, wie die jeweilige Gartenfläche bestmöglich zu nutzen sei: „Für die Anlage der Hausgärten wurden Typenpläne entworfen und die Baumpflanzung einheitlich durchgeführt, um die rationelle Bodenverwertung zu ermöglichen und einen einheitlichen Eindruck der zwischen den Hauszeilen liegenden Gartenflächen zu erreichen.“

Die dazu passenden Fotografien der Broschüre zeigen blühende Obstbäume, niedrige Maschendrahtzäune, Ribisel- und Stachelbeerstauden. Was sie nicht zeigen, weiß meine Erinnerung: ausbetonierte Mistgruben, die neben Gartenabfällen wohl auch die Einstreu aufnehmen sollen, die der jedem Haus eigene Kleintierstall abwirft. Alles im Dienst einer Kreislaufwirtschaft, die sich weitestmöglich selbst genug ist. So sieht sie aus, die Siedlungsgartenwelt, in die jener Marillenbaum gesetzt wird, der mich später durchs Leben begleitet. Gepflanzt muss er irgendwann Ende der Zwanzigerjahre worden sein, wann genau, ist nicht überliefert, nur dass der Baum in den Vierzigerjahren kräftig genug war, einen Halbwüchsigen zu tragen. Etliche Jahrzehnte später hat mir jener, einer der Vorbewohner meines Siedlungshauses, davon berichtet. Und dass er die Pracht der Marillenblüte nie vergessen habe. Wie sie auch mir in Erinnerung bleiben wird.

Meiner eigenen Kindheit, einer in den Sechzigerjahren, ist der Marillenbaum stets als uralt begegnet, ein Stück selbstverständliches arboretrisches Garteninventar, das aus grauer Vorzeit auf uns gekommen schien. Nicht weiter erstaunlich, wie viel an Wandel hatte die Zeit mit sich gebracht, die er bis dahin durchmessen, viel mehr, als es der bloßen Zahl der Jahre gebührend gewesen wäre. 1929 Börsenkrach, 1934 Bürgerkrieg, 1938 Machtübernahme der Nationalsozialisten, anschließend Krieg, danach Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, all das schien sich auf die eine oder andere Art in die Schrunden und Klüfte der Rinde eingeschrieben zu haben, wie es sich auch bei den Bewohnern der Siedlungshäuser rundum niederschlug.

Ungenannt die Zahl der Arbeitslosen unter den Siedlern, die während der Weltwirtschaftskrise abermals auf ihren kleinen Garten als wichtigste Quelle der Nahrung zurückgeworfen waren. Ungenannt auch die Zahl unter ihnen, die auf diesem so sozialdemokratisch geprägten Terrain Opfer des Austrofaschismus wurden. Nicht einmal die Zahl jener jüdischen Siedler ist bekannt, die mit „Anschluss“ und regimetreuer Gleichschaltung der Genossenschaft vertrieben wurden. Aktenkundig nur der Fall eines Ehepaars namens Weiss, das, wohnhaft in einem Siedlungshaus gleich gegenüber jenem, das ich selbst heute bewohne, während der Novemberpogrome des Jahrs 1938 von anderen Siedlern auf die Straße geprügelt wurde.

Drei Jahre später weiß die „Illustrierte Kronen-Zeitung“ wortreich vom Geist zu schwärmen, „der Heimat und Front zusammenschmiedet“. Der Anlass: Die „braven Siedler“ der Freihofsiedlung haben verwundeten Soldaten eines Lazaretts „3500 Prachtäpfel“ gespendet, „von denen manche bis zu 50 Dekagramm wogen“, weiters „1500 herrliche Birnen, 30 Kilogramm Weintrauben“ sowie „126 Gläser Dunstobst“. Siedlungsgärtnerei im Dienst der Wehrkraftwiederherstellung. Wie viele Siedler im selben Krieg fielen, ist nicht überliefert.

Karl Schartelmüller übrigens, noch immer im städtischen Dienst, steuert 1939 dem großdeutschen Wien eine Erweiterung seiner Freihofsiedlung bei – und wird drei Jahre später zwangspensioniert: ob aufgrund seiner ungebrochen sozialdemokratischen Gesinnung oder der beharrlichen Weigerung, sich von seiner Frau zu trennen, die nach den Nürnberger Rassegesetzen als „Halbjüdin“ gilt, ist nicht mehr zu eruieren. Schartelmüller stirbt 1947. In ihrem kleinen Nachruf nennt ihn die Tageszeitung „Neues Österreich“ knapp „einen der hervorragendsten Siedlungsarchitekten“.

Seit Tagen nun schaue ich, da ich diese Zeilen schreibe, auf die Leerstelle in meinem Garten, die mein Marillenbaum hinterlassen hat. Und ich denke an die vielen anderen Leerstellen, geschlagen vom Fortgang der Zeiten, in der Freihofsiedlung wie anderswo im Städtischen. Ich denke an die verschiedenen Läden, die sich bis in die Siebziger-, Achtzigerjahre rund um den Platz in der Siedlungsmitte sammelten, das schmale Papiergeschäft der zarten Frau Hofbauer, den kleinen Fleischer daneben, die Konsumfiliale, das Geschäft mit dem Nähzugehör, die Drogerie der Frau Krückl und die Milchfrau, die Kraft hieß und Stärke vermittelte. Nichts davon hat sich erhalten, der Platz, einst Versorgungszentrum, das die Freihofsiedlung zum autonomen Dorf in der Stadt wachsen ließ, ist ganz Gewerben anheim gegeben, von denen wir seit Kurzem wissen, dass man sie fachsprachlich körpernahe Dienstleistungen nennt: Friseuren, Friseusen und anderer Körperpflegerei. Als kreiste ein Siedlerleben nur mehr um den eigenen äußeren Schein.

Auch sonst ließen sich viele sentimentale oder womöglich düstere Gedanken auf die Verluste verschwenden, die doch jede Veränderung unvermeidlich mit sich bringt. Wie es geschehen konnte, dass wir den Kleinhandel in den Untergang trieben, dass je mehr Geld wir hatten, wir nur umso dringlicher den Billig!-Verheißungen der Diskonter hinterherliefen, je mehr Freizeit wir hatten, nur umso störrischer, nicht zuletzt um Zeit zu sparen, unseren täglichen Einkauf in anonymen Supermärkten zentralisierten, statt ihn zur Begegnung zu nutzen.

Und was würde der gestrenge Herr Loos zu all den Thujenhecken, den verzweifelt von jedem Kräutlein befreiten Rasenmonokulturen, den geschniegelten Blumenrabatten und Rosenäckern sagen, die seine Nutzgartenregel längst außer Kraft gesetzt haben, als hätte es sie ohnehin nie gegeben? Ein letztes Stück, das noch dieser Regel gehorchte, ist vergangenen Montag gefallen, knapp nach acht in der Früh. Eine Pilzkrankheit, die den freundlichen Namen Monilia trägt, hatte meinem alten Marillenbaum von Jahr zu Jahr mehr zugesetzt, trotz aller Interventionen, ihn vor weiterer Unbill zu schützen. Zuletzt hatte sich auch ein Baumschwamm in seine Rinde gefressen, und fast hätte man glauben können, der Baum sage selbst: Es ist genug.

Vergangenen Montag hat er Platz gemacht für ein Neues, von dem noch keiner weiß, was es werden soll. Nur dass es anders wird, als es damals gewesen. Und wie nicht, sind doch auch die Nöte und Notwendigkeiten, die uns plagen, nicht mehr dieselben. Genauso wie uns heute in unseren Breiten die Sorge vor dem Verhungern nicht mehr umtreiben muss, wären ja andererseits die wenigsten von uns noch dazu befähigt, Hühner und Ziegen zu halten oder mit eigener Hände Arbeit ein Siedlungshaus zu erbauen. Und keiner kann wachen Sinnes wünschen, dass es wieder werde wie damals, als solches allgemeiner Wissensstand war, jedenfalls unter jenen, die sich dem Siedlungsgedanken verschrieben.

Zahllose Transformationen hat die Freihofsiedlung erfahren, manche wohl auch erlitten. Und wenn Architekturconnaisseure sich nach Kagran verirren, hört man oft die Klage, was da alles an Zu- und Umbauten mittlerweile geschehen sei. Ich schaue auf die Leerstelle in meinem Garten, sehe Verlust und unvermutete Möglichkeit. Es war gut, wie es war, und aller Erfahrungen nach wird's bald wieder so sein, als wär's immer so, wie's dann sein wird, gewesen.

21. Januar 2020 Spectrum

Otto Wagner und die Fotografie: Message control à la Wien um 1900

Jüngst entdeckte Fotografien aus dem Nachlass Otto Wagners zeigen den Pionier der modernen Architektur als klug kalkulierenden Medienstrategen. Zu sehen im „Photoinstitut Bonartes“, Wien.

So einfach kann alles sein. Eines Tages, so die Fotohistorikerin Monika Faber, sei eine Frau bei ihr vor der Tür gestanden, eine Mappe in der Hand. Die stamme aus der Verlassenschaft ihrer kürzlich verstorbenen Mutter, einer Nachfahrin Otto Wagners, und müsse wiederum direkt aus dem Nachlass Wagners stammen. Der Inhalt: gut 80 Fotografien, die zu den erstaunlichsten – und wissenschaftlich wertvollsten – Entdeckungen der jüngeren Wagner-Geschichtsschreibung zählen. Eine illustrative Auswahl ist derzeit in den Ausstellungsräumen von Monika Fabers Photoinstitut Bonartes zu sehen.

Der Reihe nach. Dass Otto Wagner (1841–1918) als einer der bedeutendsten Pioniere der modernen Architektur anzusehen ist, sollte spätestens das Otto-Wagner-Jahr 2018 vermittelt haben. Kaum geläufig dagegen ist, dass sich seine Begeisterung für das Neue keineswegs auf seine Profession im engeren Sinn beschränkte, sondern sich nicht zuletzt auf die Vermittlung seiner Arbeiten erstreckte. Dazu schien ihm neben der Produktion bis heute ungebrochen faszinierender Präsentationszeichnungen insbesondere das rund um das Fin de Siècle noch vergleichsweise junge Medium Fotografie geeignet. Nicht dass Wagner damit allein gewesen wäre. Wie er allerdings Fotografie einsetzte, scheint jedenfalls für das Feld der Architektur ohnegleichen.
Eine gezielte Bildpolitik

Am auffallendsten womöglich die gezielte Bildpolitik, die er betrieb: Es geht ihm keineswegs um die pure, quasi objektive Abbildung der Objekte; ganz und gar subjektiv werden einzelne Details hervorgehoben, dann wieder nachgerade abenteuerliche Bildwinkel und Bildausschnitte gewählt, sei es, um das aus seiner Architektensicht Wichtige zu betonen, sei es, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie ein Gebäude auf einen nur beiläufig vorbeieilenden Passanten wirken mag. Dass Wagner, wie man aus dem nun vorliegenden Bestand erstmals erkennen kann, sich nicht darauf verließ, es genüge, entsprechende Bildausschnitte vor der Reproduktion auf den Abzügen einzuzeichnen, dass er vielmehr Abzüge an den ihm richtig scheinenden Stellen kurzerhand in Stücke teilte, um nur ja keine Missverstände darüber aufkommen zu lassen, was genau er ins Bild gesetzt sehen wollte, ist aus heutiger Sicht mehr als erstaunlich: So etwas, bekennt Monika Faber, habe sie aus dieser Zeit noch nie gesehen. Message Control à la Wien um 1900.

Was Wagner von den meisten seiner Zeitgenossen unterscheide, sei sein „Sensorium für die gestalterischen Möglichkeiten“ der Fotografie im Architekturdiskurs, so Ausstellungskurator Andreas Nierhaus in der vorzüglich gestalteten Begleitpublikation, erschienen in der Fotohof-Edition. Wagner habe offenbar selbst immer wieder die Kamera zur Hand genommen. Andreas Nierhaus: „Dieser im Kontext der damaligen Architektur ungewöhnliche, wenn nicht singuläre Umstand wird durch Äußerungen Wagners untermauert, lässt sich aber zudem durch eine Reihe von Fotografien aus Wagners Besitz belegen, die sowohl Motive seiner Bauten als auch Familienmitglieder zeigen und offensichtlich von einem Amateur aufgenommen wurden.“ Solche Fotografien aus dem privaten Umfeld sind ein weiteres charakteristisches Instrument des Medienstrategen Wagner. Immer wieder greift er in seinen Publikationen auf Illustrationsmaterial aus seinen Wohnungen und Häusern zurück.

Typisches Beispiel: eine Fotografie, die seine Tochter Luise, malerisch an einen Brunnen drapiert, neben dem Gärtnerhaus seiner Hütteldorfer Villa zeigt – publiziert in dem von Wagner verfassten Standardwerk „Moderne Architektur“, dem ersten mit Fotografien ausgestatteten Buch in der Geschichte der Architekturtheorie. Oder: Blicke in das Billardzimmer mit seinem üppigen Interieur, an der Rückwand so gut wie lebensgroße Porträts von Wagner selbst und seiner tief angebeteten Frau Luise.

Blicke bis ins Badezimmer

Ja bis hinein in sein Badezimmer mit der nachmalig berühmt gewordenen gläsernen Wanne lässt Wagner die Leser seiner Publikationen schauen, freilich ohne jenen exhibitionistisch-voyeuristischen Aspekt, der heute Home Storys eigen ist, vielmehr, um am eigenen Beispiel Formen des aus seiner Sicht modernen Wohnens zu illustrieren.

Ganz anders auffällig mehrere auf Untersichten, konstruktive Merkmale fokussierte Aufnahmen von der für Wien fraglos prägendsten Leistung Wagners, des Stadtbahnbaus. Wie raffiniert sich da etwa das Zusammenspiel von mächtigen Steinpfeilern und fast schon fragil wirkenden Eisenstützen entlang der offenen Galerie an der heutigen U4-Station Schwedenplatz zeigt. Und wie bedrückend ist es, dass im Zuge des Umbaus der Stadtbahn zur U-Bahn in den 1970er-Jahren nichts davon erhalten blieb.

Erhalten haben sich, quer durch alle Irrungen der Geschichte, immerhin Otto Wagners Fotografien davon. Erhalten haben sie sich als singuläre Dokumente eines Gestaltungswillens, der im Bewusstsein um die eigene Genialität doch nie der Welt entrückt schien. „Artis sola domina necessitas“, die einzige Herrin der Kunst ist die Notwendigkeit, stand an Wagners Villa in Hütteldorf geschrieben und steht dort bis heute, da sie als Ernst-Fuchs-Villa die Anfechtungen der Zeit überstanden hat.

[ Ein Architekt als Medienstratege. Otto Wagner und die Fotografie: Photoinstitut Bonartes, Wiener Seilerstätte 22, bis 30. April; nur nach Voranmeldung unter info@bonartes.org, 01/236-02-93/40). ]

6. Oktober 2018 Spectrum

Urbanität mit Rufzeichen

Richard Sennetts Plädoyer für „Die offene Stadt“: so wichtig wie aus der Zeit gefallen.

Die offene Stadt“: Ein solcher Titel ist in Zeiten, da sich alles ums Abschließen, Ausschließen, um Zäune, Grenzen, ums Auseinanderdividieren dreht, fast schon eine Provokation. Knapp 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat sich die vormals hochgeschätzte Idee der Öffnung vom Sehnsuchtsziel zur Drohgebärde gewandelt, und wo einst das Gemeinsame gesucht wurde, scheint heute nur mehr das Trennende von Belang.

Dennoch: Richard Sennett macht „Die offene Stadt“ zu seinem Programm. Ja schlimmer noch: In Tagen, da die Vereinfacher allenthalben gefeiert werden, redet der US-amerikanische Soziologe der Komplexität das Wort. Und verweist auf – wen sonst? – die alten Griechen. Schon bei Aristoteles finde sich ein Plädoyer für die Verschiedenheit, denn: Aus ganz gleichen Menschen könne „nie ein Staat entstehen“. Sennett weiter: „So nahm Athen in Kriegszeiten eine Reihe von Stämmen auf und auch Exilanten, die dann in der Stadt blieben. Obwohl der Status dieser Flüchtlinge unklar und unsicher blieb, brachten sie doch neue Denkweisen und neue Handwerke in die Stadt.“ Im Übrigen hätten „fast alle antiken Autoren, die über die Stadt schrieben“, festgestellt, „dass vielfältige, komplexe Ökonomien einträglicher seien als ökonomische Monokulturen“.

Die Syntax der Stadt

Auch stadtplanerische Überlegungen macht Sennett am Altgriechischen fest: am Unterschied zwischen Agora und Pnyx. Hier der Hauptplatz der Stadt, an dem so ziemlich alles geschehen konnte, und das gleichzeitig, da die streng geordnete Welt des Amphitheaters mit seinem klar abgegrenzten Nebeneinander der Menschen und Hintereinander der Funktionen. „Diese beiden Räume“ verkörperten, so Sennett, „unterschiedliche Gefahren“: „Platon fürchtete die geisttötende Macht der Rhetorik in der Pnyx. Die passive, sitzende Menge konnte zum Opfer der Worte werden.“ Die Agora wiederum mochte „in kognitiver Hinsicht geisttötend“ sein, „da sie für eine Anhäufung zusammenhangloser Eindrücke sorgte“.

Dass Sennett eher dem Agora-Modell anhängt, wird nicht zuletzt angesichts des Buchtitels niemanden überraschen, aber: „Wenn man den stimulierenden Charakter der Agora nutzen, den verwirrenden Charakter aber möglichst gering halten möchte, muss der Ort in einer Weise markiert werden, die Orientierung ermöglicht.“ Markierungen vergleichbar Interpunktionen, die ja auch in der Abfolge der Worte für die Betonung der Struktur sorgen: Rufzeichen oder Strichpunkte im urbanen Gefüge, die auf je eigene Weise durch die Syntax der Stadt führen und zugleich die Besonderheit einzelner Orte definieren. Denn: „Der heilige Gral der Stadtplanung ist die Schaffung von Orten mit einem besonderen Charakter.“

Sennetts stadtplanerisches Vademecum weist über Antike, Mittelalter, Gründerzeit bis zu jenen Projekten, an denen er selbst beteiligt war, auch solchen, die gescheitert sind – und warum sie gescheitert sind. Über allem steht die tiefe Überzeugung, dass die Zukunft unserer Städte nicht „in einer selbstzerstörerischen Betonung von Kontrolle und Ordnung“ liegen könne, sondern in der Bereitschaft, Komplexität und Vielfalt von Bedeutungen „über deren bloße Klarheit zu stellen“. Das festzuhalten, sollt's keinen Weisen aus Amerika brauchen, dafür reicht schlichter Hausverstand. Aber den, wir wissen es, gibt's offenbar nur mehr in der Billa-Werbung.

9. März 2013 Spectrum

Mitten im Neunten

Das gemeinschaftliche Leben von Studenten und Obdachlosen soll ab kommenden Mai an der Währinger Straße, Wien-Alsergrund, geprobt werden: „Vinzirast-Mittendrin“ – vom Zusammenbringen und Dazugehören.

Es zischt, es pocht, es wummert, es kracht. Schlagbohrmaschinen nagen sich in jahrhundertealtes Gemäuer, im Hof wird frischer Mörtel angerührt, unter dem Dach sind die Anstreicher zugange, vor dem Haus wachen die Bauzäune. Vorbei ist es mit der Stille, die das weit in die Währinger Straße vorspringende Haus Nummer 19 jahrelang umflort hat. Bis vor Kurzem ließ sich wenigstens noch an der Fassade ablesen, was da in den Erdgeschoßauslagen einst zu sehen war: Doch auch der Schriftzug „Kinderwagen“ ist mittlerweile unter heller Tünche verschwunden.

„Das Gebäude“, erzählt Alexander Hagner, „ist jahrelang leer gestanden. Die Investoren, die sich das angeschaut haben, sind immer abgesprungen, weil hier nur Bauklasse zwei ist, und das fand jeder uninteressant.“ Bauklasse zwei bedeutet: eine maximale Gebäudehöhe von zwölf Metern. „Das war unser großes Glück“, weiß Hagner, „denn wo findet man sonst in einer Innenstadtlage einen Bauplatz, für den sich niemand interessiert.“ Wiewohl die Bezeichnung „Innenstadtlage“ nicht so ganz genau die örtliche Situierung der Liegenschaft charakterisiert: Zentrumsnah ist sie allemal und, umzingelt von etlichen Universitätsinstituten, den Campus des alten AKH im Rücken, quasi im Mittelpunkt hiesigen Wissenschafts- und Studienbetriebs.

„Man hätte das Haus auch abreißen können“, erläutert Hagner, „aber es war schnell klar, dass wir mit der Grundstruktur des Vorhandenen arbeiten können.“ Hagner ist Hälftepartner des schon mehrfach erfreulich auffällig gewordenen Architekturbüros Gaupenraub. Doch wenn er hier von „wir“ spricht, dann sind nicht er und seine Gaupenraub-Partnerin Ulrike Schartner gemeint, sondern die von Cecily Corti initiierte Vinzenzgemeinschaft Sankt Stephan, die er seit Gründungstagen mit planerischer Tat und fachlichem Rat unterstützt. Das Haus in der Währinger Straße 19 nämlich wird ein Projekt beherbergen, das unter der Ägide von Corti und ihren Vinzi-Mitstreitern entsteht: In der „Vinzirast-Mittendrin“ soll das gemeinsame Leben und gemeinsame Arbeiten von Studenten und Obdachlosen geprobt werden.

Und das kommt so. 2002 lernt Cecily Corti anlässlich eines Vortrags in Wien den Grazer Armenpfarrer Wolfgang Pucher kennen. Der, Mitglied der Vinzenzgemeinschaft, hat 1993 mit einem Dorf aus Baucontainern einen hierzulande neuen Zugang zum Thema Obdachlosenasyl geöffnet: Im „Vinzidorf“geht es nicht darum, jene Menschen, die Zuflucht suchen, zu „resozialisieren“, was sich etwas weniger wolkig als „gesellschaftsfähig machen“ übersetzen ließe, hier will man vor allem deren elementare Bedürfnisse – Essen, Schlafen, Waschen, im Bedarfsfall medizinische Versorgung – befriedigen, ohne diesen Dienst am Nächsten gleich mit einer Art Zurichtungsabsicht zu verbinden.

„Fragen wir den Haselsteiner“

Puchers Ideen folgend, begibt sich Corti, bis dahin in keiner Weise mit dem Thema Obdachlosigkeit befasst, auf die Suche. Ein erster Versuch, die Dorfidee auch in Wien umzusetzen, scheitert am Widerstand von Anrainern, doch die namhafte Spende eines Unternehmers, der das Glück, das er in seinem Erwerbsleben gehabt hat, jetzt, in seiner Pension, teilen will, schafft die finanzielle Basis für den Ankauf eines Gründerzeithauses in der Meidlinger Wilhelmstraße, in dessen Erdgeschoß zügig die Produktion von Pizzateig einer Notschlafstelle weicht. Die „Vinzirast“ ist geboren.

2008 schließlich kann Cortis Vinzenzgemeinschaft Sankt Stephan die Substandardquartiere in den Stockwerken darüber zu Übergangswohnungen ausbauen, in denen ab da Wohnungslose erste Schritte zurück in ein geregeltes Leben tun. Und diesmal ist es der Bauindustrielle Hans Peter Haselsteiner, der dem Vorhaben nicht nur ideell, sondern vor allem mit den erforderlichen finanziellen Mitteln zur Seite steht. Es spricht für sich und für die gute Gesprächsbasis zwischen Haselsteiner und den Wiener Vinzi-Aktivisten, dass Haselsteiner Monate später bei Corti Rat sucht, als sich eine Studentengruppe mit einer einigermaßen ungewöhnlichen Idee an ihn wendet. Die ist im Zuge der Proteste gegen Studienbeschränkungen, landesweit bekannt unter dem Signet „Uni brennt“, im Spätherbst 2009 mit Obdachlosen in Kontakt gekommen, die in besetzten Hörsälen temporär Quartier nahmen und sich nebstbei nützlich machten. „Da ging es darum, schmutziges Geschirr wegzubringen, abzuwaschen, Kaffee auszuteilen, Matratzen herzuräumen, Matratzen wegzuräumen, Gelegenheitsarbeiten eben“, weiß Cecily Corti. „Daraus wollte diese Gruppe ein Projekt entwickeln: Wir bieten Obdachlosen gratis Beratung, und dafür leisten die uns gratis Arbeit, beispielsweise in Form von Putzen. Zufällig kamen sie an dem Haus in der Währinger Straße vorbei, haben gesehen, dass das leer steht. Und da haben sie, wunderbar wahnsinnig, wie Studierende halt manchmal sind, gedacht: Fragen wir den Haselsteiner, vielleicht kauft er uns das.“

Haselsteiner seinerseits, keineswegs einschlägigen Engagements, jedoch einschlägiger Expertise bar, erkundigt sich dort, wo er Expertise vermuten darf: bei Cecily Corti. „Ich hab gesagt: Ja, eine interessante Idee, aber ein bisschen naiv; aus unserer Erfahrung wissen wir beispielsweise, dass man Obdachlose zu Kontinuität und Verantwortung erst langsam hinführen muss.“ Corti und ihre Mitstreiter setzen sich mit den Studenten in Verbindung, gemeinschaftlich feilt man an einem Konzept, das allzu hochfliegenden Idealismus im Boden mehrjähriger Sozialarbeitspraxis verankert. Einer der wichtigeren Punkt, die man in das Studentenkonzept einbringt: dass das Haus nicht einzig von Förderungen leben kann. „Nach Vorstellung der Studenten sollte in dem Haus nur beraten und gearbeitet werden“, erinnert sich Cortis Geschäftsleiter, Christian Spiegelfeld. „Wir aber wussten, es muss da auch eine Wohnsituation sein, aus der wir Mieten generieren, damit das Haus ein Grundeinkommen hat.“

Mittlerweile hat das Vorhaben längst nicht nur auf dem Papier, sondern auch räumlich Kontur gewonnen. Im Haus Währinger Straße 19, mit Haselsteiners Unterstützung angekauft, sind die gröbsten Baumaßnahmen so gut wie abgeschlossen, jetzt steht die innere Feinarbeit auf dem Programm. „Das ist frisch gelegt, bitte nicht draufsteigen!“ Die Intervention des Fliesenlegers kommt fast zu spät, als wir einen gekachelten Treppenabsatz queren. „Hab ich etwas kaputt gemacht?“ Cecily Corti blickt geknickt, doch der Fliesenleger winkt ab: Gerade noch einmal gut gegangen.

Wir wechseln in den zweiten Stiegenaufgang, der uns bis unters Dach führt, vorbei an den zehn WGs mit insgesamt 27 Wohnplätzen, die gleichsam das Herzstück der „Vinzirast-Mittendrin“ bilden. „Für die studentischen Bewohner wird es ein Auswahlverfahren geben“, erläutert Cecily Corti, „da sind wir gerade dabei, das zu definieren. Und bei den Obdachlosen haben wir schon angefangen zu überlegen, wer dafür infrage kommt aus dem Umfeld, das wir kennen. Das sind Menschen, die eine gewisse Hilfe brauchen, weil sie längere Zeit wohnungslos waren oder weil sie ein großes Alkoholproblem hatten.“ Ziel sei freilich auch hier „nicht Integration im üblichen Sinn oder Resozialisierung“: „Das wollen wir offenlassen. Jeder Mensch entwickelt das, was er zu entwickeln imstande ist. Aber die Unterstützung wollen wir geben, dass er an sein Potenzial so weit wie möglich herankommt und nicht ewig den Stempel hat, eine Belastung für die Gesellschaft zu sein.“ Rund 300 Euro Miete pro WG-Zimmer sind zu bezahlen. „Das ist“, meint Christian Spiegelfeld, „für Studenten nach unseren Recherchen ein sehr günstiger Preis, für die Obdachlosen dagegen nicht, aber es ist uns wichtig, dass die Miete für beide Gruppen gleich hoch ist, damit wir nicht schon da eine Abstufung haben.“

Hineinwachsen in die Gemeinschaft

Den erwünschten Begegnungsfluss sollen die Gemeinschaftsküchen in jeder Etage befördern. Oder das Lokal im Erdgeschoß, das, öffentlich zugänglich, auch der Klientel des Umfelds „gutes, günstiges Essen“ – so Cecily Corti – bieten soll. Im großen Veranstaltungsraum des Souterrains sind zudem Diskussionen, Vorträge, Lesungen, Filmvorführungen, kurz Austauschaktivitäten aller Art geplant. Mit den hauseigenen Werkstätten wiederum will man den Obdachlosen ein Hineinwachsen in die Gemeinschaft erleichtern. „Das ist der schwierige Punkt“, weiß Cecily Corti, „dieses Miteinander so zu gestalten, dass die Obdachlosen Anerkennung finden, Freude finden, dass sie Arbeit haben, dass sie Verantwortung übernehmen – begleitet von unseren Ehrenamtlichen. Da geht es nicht darum zu kontrollieren, ob sie ihre Arbeit genau und in der Zeit erledigen, sondern um die Klarheit einer Struktur, die Halt gibt.“

Von all dem wird man sich allerdings ein noch viel besseres Bild machen können, wenn erst der letzte Estrich getrocknet, die letzte alte Tür neu lackiert, der letzte Boden geschliffen ist. Und wenn es gelungen ist, Unterstützer für all die schönen Einrichtungsdinge zu finden, an denen es noch fehlt. Als da derzeit wären: 30 Kleiderschränke und 30 Tische für die Zimmer, 70 Stapelsessel für den Veranstaltungsraum, Innenhandläufe, Feuerlöscher und so weiter und so fort kreuz und quer durch den Interieurbedarf. „Können Sie vielleicht unauffällig unterbringen, dass noch Sponsorengelder notwendig sind?“, fragt Cecily Corti vorsichtig an. Aber gern, schon geschehen.

„Das Projekt ist von Anfang an ein einziger Glücksfall gewesen.“ Alexander Hagner steht zufrieden im Erdgeschoß, dort wo sich dereinst zwischen Tischen und Sesseln, Gläsern und Tellern Begegnung ereignen soll. Und: „Für uns gehören obdachlose Menschen nicht irgendwie raus aus der Gesellschaft, sie gehören dazu. Und dieses Dazugehören, das ist das, was hier städtebaulich, architektonisch transportiert werden soll.“ Dass eine schief geratene Dachrinne an der Fassade seine Architektenseele kränkt, wird er sicher bald vergessen haben. Und übrigens: Im Leben geht – wir wissen es – ja auch nicht alles grad.

24. September 2011 Spectrum

Boarding mit Josef Frank

Eine Schau in San Francisco – und was sie über Wien erzählt.

So dringlich kann der Aufruf zum Boarding gar nicht sein, dass man sich nicht doch die Zeit nähme, vor dieser verschwenderischen Pracht innezuhalten: vor den floral überwucherten Möbelstoffen, die da in großen Glasvitrinen den Flugpassagieren auch längere Wartefristen verkürzen. Sorgsam ist die Entwicklung der Entwürfe aus den Illustrationen schlichter Naturkundeführer nachgezeichnet, sorgsam der Lebensgeschichte des Entwerfers gedacht, sorgsam seine Zusammenarbeit mit dem schwedischen Designunternehmen Svenskt Tenn dargestellt, dessen Bestände die kleine Ausstellung ermöglichten.

Es sind Entwürfe des großen Josef Frank, geboren 1885 zu Baden bei Wien, aber es ist nicht der Flughafen Wien, in dem sie zu sehen sind, vielmehr der Flughafen einer Stadt, die mit Frank so gut wie nichts verbindet: San Francisco nämlich. Noch den ganzen Oktober werden im International Terminal „The Enduring Designs of Josef Frank“ gezeigt. Und da kann man dann schon ins Grübeln geraten: wieso Frank am Pazifik womöglich bekannter ist als an der Donau, wieso man ihn dort mit größter Selbstverständlichkeit mitten ins Leben platziert, während in seiner Heimatstadt einschlägig Bemühte auf den Knien um die Aufmerksamkeit politischer Entscheidungsträger betteln müssen, wenn sie die Errichtung eines kleinen Museums zu Franks Wiener Werkbundsiedlung für angezeigt halten.

Richtig, der Amerikaner an sich, wir Europäer sind uns da üblicherweise ganz sicher, ist ja in kulturellen Belangen eher unbedarft. Im Wiener Rathaus geht es gewiss ganz anders zu.

10. September 2011 Spectrum

Rand? Erscheinung!

Friedrich Kurrent zum 80. Geburtstag.

Am 10. September vor zehn Jahren wurde sein Siebziger im Wiener Semperdepot groß gefeiert. „Einen Tag später“, erinnert sich Friedrich Kurrent heute, hätte man nicht mehr feiern können, ja „nicht mehr dürfen“. Und wenn es am heurigen 10. September seinen Achtziger zu feiern gilt, dann wird zwangsläufig sehr viel mehr von jenem Tag danach die Rede sein.

So sei wenigstens in dieser Randspalte an einen erinnert, der gewiss keine Randerscheinung ist: nicht zuletzt als Mitglied der legendären „Arbeitsgruppe 4“ wesentlicher Mitgestalter der heimischen Nachkriegsarchitektur, stets streitbar, widerständig – und bis weit in einen Lebensabschnitt, den andere Ruhestand nennen, von einer Rührigkeit, die nicht so leicht etwas ruhen oder stehen lässt. Dieser Tage erscheint bei Müry Salzmann, Salzburg, sein neues Buch, den „Nullerjahren“ gewidmet. Und es wäre nicht Friedrich Kurrent, fände sich darin nicht auch eine Zukunftsvision: das Projekt einer Synagoge am Wiener Ring, das Kurrent erstmals vor drei Jahren im Architekturzentrum Wien vorgestellt hat.

Der Schmerlingplatz, „zwischen Parlament und Palais Epstein, im Schutze des Justizpalastes“, sei dafür „die richtige Stelle“, meint Kurrent. „Viele Freunde und Fachleute haben mich bisher beim Synagogenprojekt unterstützt. Vom Wiener Bürgermeister erwarte ich eine Antwort.“ Und die sollte er nicht erst zu seinem Hunderter erhoffen dürfen.

3. September 2011 Spectrum

Die Lust am Zusammenhang

Baukunst als Markenartikel? Nein: „Kontextarchitektur“!

Einem Bau von Frank O. Gehry oder Richard Meier könne man „heute weltweit begegnen“: „Ihre Wiedererkennbarkeit ist in einem Maße prägnant, dass man in diesen Fällen von Markenartikeln zu sprechen begonnen hat“, meint Frank Maier-Solgk, Publizist zu München. Und: In der jüngsten Vergangenheit mache sich „eine entgegengesetzte Entwicklung bemerkbar. Gegen die globale Uniformität von Marken und gegen einen einheitlichen formalen ,Stil‘ gerichtet, meldet sich ein altes Kriterium zurück: das Prinzip der Kontextualität, das auf die spezifischen urbanen Umfelder Bezug nimmt.“

Was manche gerne hören werden. Vor allem jene, denen die Architekturjahrmärkte längst auf die Nerven gehen, die eine rund um den Globus vazierende Truppe internationaler Stars in und an Städten hinterlassen, als ginge es weder um Funktion noch um Einbettung in einen vorhandenen Zusammenhang, sondern einzig um Selbstverwirklichung. Irgendwann hat man sich ja auch an all den architektonischen Freakshows sattgesehen, an den Damen ohne Unterleib, Elefantenmenschen, siamesischen Zwillingen. Gewiss: erstaunlich, was alles möglich ist – aber wozu?

Also, nur herbei mit der „Kontextarchitektur“, die Maier-Solgk nebst vier weiteren Beiträgern zumindest auf dem Gebiet des Museumsbau umkreist: in einem Band der Reihe „Kunst und Philosophie“, seinerseits gedrucktes Ergebnis eines Netzwerkprojekts, das die deutsche Kulturstiftung gemeinsam mit der Ludwig-Maximilian-Universität München zwischen Herbst 2009 und diesem Sommer organisiert hat.

27. August 2011 Spectrum

Fairness im Unterland

Alpbach auf der Suche nach der „gerechten Stadt“.

Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst.“ So weit der kühle urbanistische Kriterienkatalog eines Karl Kraus. Und der scheint gedanklich ziemlich weit von jenem Thema entfernt, dem sich die diesjährigen Alpbacher Baukulturgespräche widmen. Da fragt man voll Emphase: „Gibt es die gerechte Stadt?“

Freilich, ehe wir mit Kraus erwidern: Genau so, wie eine Stadt nicht gemütlich sein könne, vermag sie auch nicht gerecht zu sein, das obliege doch wohl eher ihren Einwohnern, werfen wir noch einen zweiten Blick in die Programmvorschau und entdecken dabei Präzisierungen, die die Sache auch dem nüchternen Stadtbetrachter plausibler machen: „In Ghana werden eigenständige und nachhaltige urbane Entwicklungen durch die Dominanz internationaler Investoren infrage gestellt.“ Oder: „Thailand setzt verstärkt auf ökologische Gerechtigkeit und fördert entsprechende infrastrukturelle Konzepte.“ Oder: „Inwiefern sind gerechte Entwicklungen in europäischen Städten in ungerechten Zuständen anderswo begründet?“

Wir sehen schon, da geht's ziemlich weltläufig zu, und weltläufig ist denn auch die Beiträgerrunde, die im Tiroler Unterland zusammenkommt: Zheng Shiling, Leiter des Architekturinstituts an der Tongji Universität von Shanghai. Und: Teekayupun Teerasuk, Vizebürgermeister der thailändischen Regionalhauptstadt Khon Kaen. Und: Dinesh Mohan, Professor am Indian Institute of Technology in New Delhi. Und so weiter und so fort. Ja, auch Wien ist vertreten, mit Maria Vassilakou – denn die ist, was manchem bis dato vielleicht entgangen sein mag, mittlerweile seit einem Dreivierteljahr hierorts amtsführende Stadträtin für Stadtentwicklung.

Eröffnung: 2.September, 9.30 Uhr. Finale: 3.September, 13 Uhr.

13. August 2011 Spectrum

Denker mit Zauberstift

Raimund-Abraham-Mono- grafie, erweitert: „(Un)Built“.

Während meine frühen Projekte Zeugnis ablegen von meiner Bestimmung, nach einer Architektur zu suchen, die ihre Ursprünge im Zusammenprall grundsätzlich abstrakter Formen mit der Topografie einer Landschaft hat, sind meine späteren Häuserserien Bekundungen meiner Obsession, das archetypische Ritual des Wohnens zu erfassen und zu planen.“ Also schrieb Raimund Abraham Anfang der 1990er, da stand die erste Monografie seines Schaffens, „(Un)Built“, vor ihrem Abschluss.

Jetzt, keine zwei Jahrzehnte später und ein Jahr nach Abrahams Unfalltod, liegt „(Un)Built“ wieder vor: in einer zweiten, erweiterten Auflage. „Die erste Auflage war schnell ausverkauft“, berichtet Herausgeberin Brigitte Groihofer, „und über die Jahre habe ich oft mit Raimund Abraham darüber gesprochen, eine erweiterte Neuausgabe anzugehen, aber das Vorhaben kam aus verschiedenen Gründen nicht recht voran.“ Unter anderem deshalb, weil Abraham „immer vorwärts blickte, sich auf die laufenden und auf neue Projekte konzentrierte“.

Abrahams Tochter, Una, gewährte Groihofer Zugang zum Nachlass, nicht zuletzt, um die Dokumentation der noch nicht erfassten Arbeiten Abrahams zu ermöglichen. Der Neuausgabe beigefügt finden sich zudem Texte über Abraham, die Freunde verfasst haben: Kenneth Frampton. Lebbeus Woods. Oder Wolf D. Prix: „Ich sehe Raimund auf einer weiten Ebene, es könnte das Meer sein, er sitzt auf den Grundsteinen seiner Häuser. Seine Augen liegen im Schatten seines Huts, seine Haltung ist die von Rodins Denker. Die linke Hand stützt seinen Kopf, aber die rechte liegt nicht auf seinem Knie, sie hält auch keinen Bleistift. Stattdessen hält sie einen Zauberstift, mit dem er auf seinem Laptop zeichnet.“

Brigitte Groihofer (Hrsg.) Raimund Abraham – (Un)Built, 348S., geb., €74,85 (Springer Verlag, Wien)

30. Juli 2011 Spectrum

Schöner sterben

Tanja Jankowiak berichtet über „Architektur und Tod“.

Krankheit, Hinfälligkeit, Tod: Das, könnte man meinen, seien nicht gerade Themen für den freizeitgesellschaftlichen Smalltalk. Andererseits: Was sonst liefert öfter Stoff für unsere Gespräche als die jüngste Diagnose oder der Abschied von einem geschätzten/geliebten Menschen? Ganz abgesehen von den Massen an TV-Unterhaltungsware, die uns mit Einschlägigem versorgen – von der Spitalsserie bis zur Bestattungsinstituts-Saga.

Spätestens seit „Six Feet Under“ wissen wir ja: „Gestorben wird immer.“ Und so wird es niemanden wundern, dass auch die Architektur von alters her Antworten auf vorletzte und letzte Fragen zu geben hatte. „Architektur und Tod“ ist sohin ein reichlich weitläufiges Feld, das die Kulturwissenschaftlerin Tanja Jankowiak für ihr Buch gleichen Namens auf fünf Kernbereiche einengt: Altenheim, Krankenhaus, Hospiz, Bestattungsunternehmen, Krematorium. „Wie die Gebäude, in denen Menschen heute in überwiegendem Maße sterben, gestaltet sind“, will sie zeigen. Und darüber hinaus: „inwiefern auf dem Gebiet der Architektur aktuelle Umgangsweisen mit Sterben, Trauer und Bestattung zum Tragen kommen, und was sich andererseits an der gebauten Architektur über den Umgang mit diesen Themen in unserer Gesellschaft zeigt“.

Entstanden ist daraus ein voluminöses Kompendium, das sich zwar in den fünf im Detail vorgestellten Beispielprojekten auf Berlin konzentriert, in den umfänglichen historischen Einführungen zu jedem der fünf Bereiche freilich weit über Spree und Havel hinausgreift. Ergebnis: wertvolle Einblicke in eine sonst eher vernachlässigte Materie.

23. Juli 2011 Spectrum

Lust auf Land?

Sabine Pollak sucht die „Zukunft des ruralen Wohnens“.

Die „Freuden des Landlebens“? Den Titel könnte man für Ironie, wenn nicht gar Zynismus halten. Stundenlanges Pendeln zum Arbeitsplatz; infrastrukturelle Unterversorgung vom Greißler bis zum Zahnarzt; und wenn das letzte Unkraut gezupft, der letzte Fensterrahmen frisch lackiert, der letzte Dachziegel zurechtgerückt ist – was tut man eigentlich dann?

„Ich bin eine Landpomeranze“, bekennt Ute Woltron in einem Beitrag zu dem Band „Die Freuden des Landlebens“. Und weil es darin der Herausgeberin, Sabine Pollak, um nicht mehr und nicht weniger als die „Zukunft des ruralen Wohnens“ getan ist, vorgestellt am Beispiel Niederösterreich, erklärt Frau Woltron auch, warum das so bleiben wird: „Das Leben auf dem Land erscheint heute in einem völlig veränderten Licht als vor 20 Jahren.“ Denn: „Vor allem die Informationstechnologie spielt dem Land ungeheuer zu.“ Die „leichtfüßige Szene der sogenannten Kreativen“ sei keineswegs mehr ortsgebunden. Die Folge: Immer öfter werde sie in Wien gefragt, „ob man nicht eine nette Immobilie ,da draußen‘ kenne“. Am besten samt Garten und Gemüsebeet, schließlich habe auch das „Wühlen in der Erde“ Hochkonjunktur. Nachzulesen in Woltrons allsamstäglicher Kolumne „Gartenkralle“ in der „Presse“.

Selbstredend hat Sabine Pollak nicht nur persönliche Bekenntnisse wie dieses in ihrem Band versammelt, sondern auch raum- und städteplanerische Theorie oder architektonisch Exemplarisches. Wirklich glaubwürdig werden all die schönen Worte freilich erst im gelebten Alltag.

26. März 2011 Spectrum

Wer als Dritter Erster wird

Zum 125. Geburtstag: Poschs Holzmeister-Biografie lesen!

Zu seinem 124. Geburtstag am letztjährigen 27. März musste man noch warten. Jetzt, zum 125., dürfen wir endlich darin lesen: in der ersten „politischen“ Biografie Clemens Holzmeisters. Wilfried Posch, vormals Leiter der Linzer Lehrkanzel für Städtebau, hat sie vorgelegt – und es nimmt doch einigermaßen wunder, dass sich nicht schon sehr viel früher einer fand, dieses so ergiebige Themenfeld zu beackern: An welcher Person und an welchem Werk ließe sich besser die Verstrickung von Architektur und Politik demonstrieren?

Und zwar gleichsam von Karriereanfang an. Schon das Wiener Krematorium erweist den gebürtigen Tiroler als souveränen Strippenzieher zwischen und über allen politischen Lagern: Wie sich da ein Mittdreißiger gerade noch der katholischen Kirche angedient hat und im nächsten Augenblick bei einem sozialdemokratischen Vorzeigeprojekt reüssiert, das vom Roten Wien gegen den erbitterten Widerstand ebendieser katholischen Kirche durchgesetzt wird, wie er die Voraussetzungen schafft, dass sein Projekt, wiewohl im Wettbewerb nur als eines von mehreren drittgereiht, letztlich als gleichsam einzig richtiges übrig bleibt, das beweist Talente, die über unmittelbar künstlerische Meisterschaft weit hinausgehen. Und die Wilfried Posch am Beispiel Holzmeister paradigmatisch vorführt.

Zeiten ändern sich, ästhetische Vorstellungen auch; Mechanismen der Macht dagegen bleiben erstaunlich beständig. Holzmeister lebt und wird weiter leben. Nicht nur in der (und in seiner) Architektur.

28. August 2010 Spectrum

Unentbehrlich, seit 300 Jahren

Alpbacher Nachhaltigkeit: Am 3. September beginnen die Baukulturgespräche.

Dass Architektur für sich genommen schon von Vornherein eine eher nachhaltig wirksame Angelegenheit ist, wird jedem einleuchten, der vor den Pyramiden steht. Nachhaltigkeit im engeren begrifflichen Sinne freilich ist nicht seit 5000, sondern erst seit 300 Jahren belegt: Da bekundete ein sächsischer Berghauptmann, eine „nachhaltende Nutzung“ der Wälder sei eine „unentbehrliche Sache“. Spätestens mit Energiekrise und „Grenzen-des-Wachstums“-Debatten erreichte die Idee von den natürlich regenerierbaren Systemen schließlich außerwäldlerische Gedankenkreise. Und weil seither auch schon wieder etliche Jahrzehnte vergangen sind, könnte man meinen, sie sei mittlerweile längst interdisziplinäre Selbstverständlichkeit.

Von wegen. Allein die Tatsache, wie viele Veranstaltungen der vergangenen (wie der künftigen) Monate die Nachhaltigkeit im Titel tragen, lässt ahnen, dass sich auf dem vermeintlichen Gemeinplatz noch immer nur eine Minderheit umtut. Jedenfalls in der Architektur. Und wenn die diesjährigen Alpbacher Baukulturgespräche fragen: „Gehören Nachhaltigkeitskonzepte mittlerweile nicht zum State of the Art jeder Stadt- und Siedlungsentwicklung?“, dann lehrt uns etwa die Wiener Planungspraxis, dass diese Frage weniger rhetorisch ist, als offenbar gedacht. Wer's nicht glaubt, mag in diesem „Spectrum“ bei Reinhard Seiß die Geschichte der Wiener Donau City nachlesen.

Seiß zeichnet übrigens mitverantwortlich für das Programm der Alpbacher Baukulturgespräche, die heuer am 3. und 4.September in Szene gehen. Passendes Motto: „Nachhaltigkeit. Entwürfe und Wirklichkeiten“. Näheres im Internet unter www.alpbach.org.

25. Januar 2009 Spectrum

Wie mobil kann ein Museum sein?

„Bis vor wenigen Jahren wäre ein derartiges Projekt nahezu unbaubar gewesen.“ Elke Delugan-Meissl, Roman Delugan und Martin Josst über ihr Porsche-Museum, das kommende Woche in Stuttgart-Zuffenhausen eröffnet wird.

Das Thema Automobilmuseum gehört als Bauaufgabe nicht gerade zum Standardrepertoire der Architektur und fällt auch aus dem bis zur Auftragserteilung 2005 zusammengekommenen Delugan-Meissl-Repertoire heraus. Was hat Sie bewogen, sich um dieses Projekt zu bewerben: die Aufgabe? Die Marke Porsche? Die Chance, auf internationalem Parkett zu reüssieren?

Roman Delugan: Die Umsetzung eines Museumsbaus in seiner Typologie war eine sehr reizvolle Herausforderung, genauso wie die Aufgabe, durch eine Marke wie Porsche ausgelöste Emotionen in eine architektonische Sprache zu übersetzen. Das Unternehmen Porsche an sich war ebenfalls eine Inspiration. Porsche ist mit Leidenschaft, mit Innovation, aber auch mit Tradition und der Neuinterpretation von Bewährtem assoziiert.

Automobilmuseum: Das ist ein in zwei entgegengesetzte Richtungen weisender Begriffszwitter. Museum signalisiert Beharrung und Festhalten, Automobil ist untrennbar mit Bewegung verbunden. Wie kann man das unter ein Dach bringen?

Elke Delugan-Meissl: Im Gegensatz zum Autobau oder etwa zur Raumfahrt gilt der Anspruch auf Mobilität in der Architektur in den seltensten Fällen. Dennoch treffen Begriffe wie „Mobilität“ und „Dynamik“ den Kern unseres architektonischen Zugangs. Die räumliche Organisation, das Leitsystem, Wegrelationen, Räume unterschiedlicher Zonierungen implementieren die Auseinandersetzung mit Geschwindigkeit und Bewegung. Die architektonischen Gegebenheiten im Inneren des Gebäudes werden durch ihre sinnliche Erfahrbarkeit in eine subtile Steuerung der Bewegungsabläufe transferiert. Das weitläufige Raumvolumen des Vorplatzes bis hin zum Foyer, der schmale Zugang über den zentralen Treppenlauf in den darüberliegenden Museumsbereich, der sich nach oben hin weitet und schließlich in eine vollkommene Öffnung des Blickes über den Ausstellungsraum mündet, erzeugen ein kraftvolles Wechselspiel aus Geschwindigkeit und Spannung, Gelassenheit und Ruhe.

Porsche ist als Autohersteller mit seinen musealen Ambitionen im Deutschland dieser Tage nicht allein: Im Mai 2006 öffnete, gleichfalls in Stuttgart, das Mercedes-Benz-Museum seine Pforten, verantwortet von Ben van Berkels UNStudio; im Oktober 2007 folgte in München die BMW-Welt von Coop Himmelb(l)au. Haben diese Entwürfe Ihre Arbeit beeinflusst? Wie ordnen Sie in diesem Umfeld Ihr Porsche-Museum ein?

Martin Josst: Wie am Beginn jedes Entwurfsprozesses haben wir uns natürlich auch im Vorfeld dieses Projektes mit Bestehendem auseinandergesetzt. Wir sehen das Museum in einer Reihe mit bestehenden Automuseen, allerdings nicht in der architektonischen Sprache. Die Frage nach einer Reihung neben Coop oder UN haben wir uns nie gestellt.

Das Jahr 2005 brachte für Sie nicht nur den Zuschlag für das Porsche-Museum, sondern auch für den Neubau des Filmmuseums Amsterdam. Beiden ist der äußeren Gestalt nach eine auffallende Ähnlichkeit eigen. Ein Zufall? Oder haben wir es da mit Markenbildung zu tun: einem Delugan-Meissl-Signet?

Roman Delugan: Das Porsche-Museum ist ohne Zweifel eines unserer wichtigsten Projekte, denn stärker als bei vorangehenden Bauten hatten wir hier die Chance, unsere Auffassung von Architektur umzusetzen und Entwurfsideen in ihrer Gesamtheit zu entfalten. Der gestalterischen Freiheit wurden keine Grenzen gesetzt, die architektonische Sprache wurde seitens der Auftraggeber in hohem Maße anerkannt. In seiner baulichen Erscheinung verkörpert das Museum durchgehend unsere architektonische Vision – ein „lupenreines“ Projekt.

Inzwischen sind für Ihr Büro weitere internationale Großprojekte dazugekommen: Wie weit ist es erstrebenswert, zu den Global Playern der Architektenschaft zu gehören – und unter welchen Umständen nicht mehr?

Roman Delugan: Die Einordnung in die Riege der Global Player geschieht von außen – wenn die eigene Architektur nur noch einer erwarteten Stilrichtung zugeordnet wird, der sogenannte Starkult permanent mit einer starren ästhetischen Aussage verbunden wird und Weiterentwicklung unerwünscht ist, dann ist die Grenze erreicht.

Die soziale Verantwortung des Architekten ist Ihnen etwa dort, wo es um das Thema Wohnbau geht, immer wieder artikuliertes Anliegen. Wie fühlt sich der sozial bewegte Architekt, wenn er in Zeiten der großen Klimadebatten für den Hersteller eher zweckfreier Kohlendioxidschleudern baut und seine Walhalla zur höheren Ehre der Luxusgüterindustrie dann auch noch mitten in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren eröffnet wird?

Elke Delugan-Meissl: Nachhaltigkeit und ökologisches Bauen müssen im Fall des Porsche-Museums in einem größeren, in einem Gesamtzusammenhang betrachtet werden. Das Porsche-Museum stellt eine Aufwertung für das Gebiet dar, eine Initialzündung im Sinne einer Weiterentwicklung des Quartiers Zuffenhausen.

Als Fertigstellungsjahr des Porsche-Museums war ursprünglich 2007 annonciert, die Baukosten wurden mit 50 Millionen Euro angekündigt. Jetzt schreiben wir 2009, und die Baukosten werden unter der Hand mit 100 Millionen Euro angegeben. Worauf sind Verzögerung und doch eher dramatische Baukostenerhöhung zurückzuführen?

Martin Josst: Bis vor wenigen Jahren wäre ein derartiges Projekt aufgrund seiner statischen und konstruktiven Komplexität nahezu unbaubar gewesen. Aufgrund der komplexen Geometrie entstanden unzählige Arbeitsmodelle, anhand derer wir die räumliche Komposition und deren Wirkung konstant weiterentwickelten. Die Übertragung der Gebäudekräfte in die drei tragenden Kerne erforderten Ingenieurleistung von höchster Präzision.