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Die Städte werden langsamer. Die urbane Architektur muss es ihnen gleichtun
Die Baukunst liefert einen wichtigen Beitrag für den städtischen Lebensraum. Sie muss ästhetisch wie bautechnisch den Erfordernissen der modernen Stadt gerecht werden.
4. Februar 2019 - Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zeiten verlangen nach einer neuen Baukunst. Der moderne Bürger ist bestenfalls summarisch gebildet und kann ein anspruchsvolles ikonografisches Programm nicht mehr verstehen. Ausserdem nimmt er Architektur auf dem eiligen Gang durch die Stadt unaufmerksam und flüchtig wahr. Somit muss die neue Architektur stark vereinfacht sein und ihren Charakter aus wenigen einprägsamen Elementen erhalten. Sie muss das Detail dem Ganzen unterordnen, so wie Claude Monet oder Edgar Degas malten. Sie muss impressionistisch werden.
Es war der niederländische Architekt Hendrik Petrus Berlage, der vor über hundert Jahren diese Auffassung vertrat, und zwar in einem Vortrag mit dem Titel «Baukunst und Impressionismus». Bis dahin waren die städtischen Häuser Gebilde mit komplex artikulierten Hüllen gewesen. Sie waren in Hauptteil, Basis und Attika gegliedert, die jeweils anders gestaltet und oft auch aus anderen Materialien hergestellt waren: der Sockel widerstandsfähig, weil am exponiertesten, und schwer, um Solidität zu vermitteln, die Attika leicht und licht, allenfalls mit kräftigem Gesims, um den oberen Gebäudeabschluss zu markieren. Dazwischen waren die Fenster rhythmisch in die Fassade eingeschnitten, wobei Rahmen oder Faszien den Übergang zwischen Fläche und Öffnung thematisierten.
Die Fensterbänke standen stärker vor, um Wassernasen zu vermeiden, aber auch um dem Fenster mehr Halt in der Wand zu verleihen. Die Fensterläden waren in die Gesamtkomposition integriert. Flächige oder plastische Zierelemente unterstrichen sie und fügten dekorative und erzählende Dimensionen hinzu, die das Haus mit seiner Nutzung, seinem Bauherrn oder einfach nur seiner Zeit verknüpften. All das, so Berlage, war nunmehr anachronistische Verschwendung und würde vom neuen, rasanten Lebensrhythmus dahingerafft werden.
Im Rausch der Geschwindigkeit
Der Vortrag hatte bei den Zuhörern keinen Erfolg, aber die Vorstellung einer Stadtbaukunst, die sich der Geschwindigkeit des modernen Lebens fügen, ja sogar aus ihr ableiten sollte, prägte von nun an die urbanistische Diskussion. Der französische Kunst- und Literaturhistoriker Émile Magne sah aus dem immer schneller fahrenden Verkehr eine puristische «Esthetique des Villes» entstehen – so der Titel seines 1908 erschienenen Buchs.
Peter Behrens, der Doyen der deutschen Architektur der Moderne, schrieb zwei Jahre später: «Eine Eile hat sich unserer bemächtigt, die keine Musse gewährt, sich in Einzelheiten zu verlieren. Wenn wir im überschnellen Gefährt durch die Strassen unserer Grossstadt jagen, können wir nicht mehr die Details der Gebäude gewahren.»
Die grossen städtebaulichen Utopien des 20. Jahrhunderts, allen voran Le Corbusiers Ville contemporaine von 1923, wurden für jenen rasanten Autoverkehr konzipiert, der als Symbol und Ausdruck des Fortschritts galt. Und die auf schlichte Volumina reduzierte, karge, dekorationslose Architektur des neuen Bauens war die Antwort auf die hastige, oberflächliche Wahrnehmung, die aus der triumphal zunehmenden urbanen Geschwindigkeit resultierte.
Noch in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ging man generell davon aus, dass der Städtebau in erster Linie mit dem Automobilfahrer zu rechnen hätte; davon abweichende Auffassungen wie jene der Townscape-Bewegung, die in der britischen Zeitschrift «The Architectural Review» entwickelt wurde und ein pittoreskes Menschenmass forderte, blieben marginal. Ein Jahrzehnt später begann man, sich von der Vorstellung der autogerechten Stadt zu verabschieden.
Die Fussgängerzonen, die nach ihrem Debüt mit der vielbeachteten Einkaufsstrasse Lijnbaan in Rotterdam von 1953 schüchterne Auftritte erhalten hatten und nur in Kopenhagen bereits 1962 im grossen Massstab eingeführt worden waren, breiteten sich aus. Die sogenannten Begegnungszonen kamen hinzu, und insgesamt wurden in den europäischen Städten die Höchstgeschwindigkeitsgrenzen für den Automobilverkehr drastisch herabgesetzt. Was nur wenige Jahrzehnte zuvor enthusiastisch begrüsst worden war, hatte sich als Zerstörer des urbanen Lebensraums erwiesen.
Heute sind sich alle einig darüber, dass die Städte zugunsten des Langsamverkehrs umgerüstet werden müssen. Behrens’ «überschnelle Gefährte» rasen nicht mehr durch die Strassen unserer Grossstädte, sondern schlängeln sich durch lauschige Quartierstrassen und werden angehalten, dem Fussgänger Vortritt zu gewähren. Und als moderne Flaneure kämpfen wir gegen die Eile an.
Davon scheinen unsere Häuser nichts gemerkt zu haben. Weiterhin gebärden sie sich kubisch und karg, zeigen einheitliche glatte Oberflächen und unvermittelt eingeschnittene Fensteröffnungen, versuchen zuweilen durch spektakuläre skulpturale Verrenkungen oder plakative Elemente auf sich aufmerksam zu machen. Ob minimalistisch oder ikonisch, sie setzen sich für einen rasanten Städter in Szene, der im Aussterben begriffen ist. Der zeitgenössische Fussgänger, der zeitgenössische Fahrradfahrer findet an den abstrakt abrasierten Fassaden keine Wohltat und keinen Trost. Dafür muss er sich in die Altstädte oder in die Gründerzeitviertel begeben, wo er noch Details und Schmuckformen findet, die seinen Weg kurzweilig gestalten.
Schlampige Architektur
Die langsame Stadt, die in Anlehnung an die 1999 in Italien begründete Cittàslow-Bewegung die Entschleunigung auf ihre Fahnen schreibt, muss nicht nur anders funktionieren als die Stadt der Geschwindigkeit, sie muss auch anders aussehen. Ihre Gestaltung, für deren Wahrnehmung neue Musse vorhanden ist, kann dichter und anspruchsvoller sein. Die Hausfassaden können wieder, wie es die historischen getan haben und immer noch tun, Aufmerksamkeit erregen, Geschichten erzählen, Augen- und Tastsinn erfreuen. Sie können es nicht nur, sie müssen. Tun sie das nicht, geraten die Strecken, die wieder gemächlich zurückgelegt werden, eintönig, langweilig, ermüdend und freudlos.
Doch es geht bei der Bereicherung und Belebung der Stadtarchitektur zum Wohl des Fussgängers und des Fahrradfahrers nicht einfach um eine neue Architekturspielart. Berlages Befund, der die Ära der impressionistischen Baukunst einläutete, berücksichtigte neben der Eile des Betrachters auch jene des Bauherrn. Dieser sei nicht länger Willens, in umständlichen Zierrat zu investieren, weil er rasch bauen wolle, um die Laufzeit der Kredite für die Baufinanzierung kurz zu halten und überhaupt so schnell wie möglich Rendite aus den Gebäuden zu erwirtschaften. Auch und vor allem daraus leitete sich in den Augen des niederländischen Architekten die Notwendigkeit einer nüchtern detaillosen Architektur ab.
Die darauffolgende Entwicklung übertraf seine pessimistischsten Voraussagen. Die Optimierung des Bauprozesses führte zu zunehmend schlampigen Ausführungen. Die Investoren verbündeten sich mit der Bauindustrie und erfanden immer billigere, immer ärmere und simplere Baustoffe, Elemente und Oberflächen. Die Architekten fügten sich dem Trend zur ästhetischen und materiellen Verarmung, den sie mit der mehr oder minder aufrichtigen Bezugnahme auf die Bauhaus-Tradition und auf minimalistische Kunsttendenzen kulturell rechtfertigten und adelten.
Wenn sie nun, um den Anforderungen der neuen urbanen Langsamkeit Genüge zu tun, einen Paradigmenwechsel vollziehen sollen, kann dieser nicht nur ästhetisch, sondern muss auch ökonomisch sein. Die Baumeister müssen sich auf andere Referenzen besinnen als jene, welche die orthodoxe Moderne bietet, und diese Referenzen kreativ einsetzen. Sie müssen mehr konzipieren, mehr ins Detail gehen, mehr zeichnen, kurz: mehr arbeiten. Doch müssen die Auftraggeber sie in die Lage versetzen, diesen Mehraufwand leisten zu können: mit angemessenem Budget, mit angemessener Honorierung und vor allem mit angemessener Zeit.
Kluge Investitionen
Ist das im Hochkapitalismus, in dem es keinen Platz für Mäzene und Kunstliebhaber zu geben scheint und alles Bauen vom Gesetz der maximalen Rendite beherrscht wird, überhaupt realistisch? Ja, ist es. Die weitsichtigen, klugen Entwickler haben es bereits erkannt, den weniger weitsichtigen und weniger klugen dämmert es allmählich: Alle urbane Investition setzt auf die Aufwertung ihres Standortes. Jeder, der in der Stadt baut, ist an deren Erfolg beteiligt, ja auf deren Erfolg angewiesen. Eine Architektur, die sich auf den Wandel von der rasanten zur langsamen Stadt einlässt und diesen unterstützt, fördert die Stadtentwicklung. Das kommt der Stadt, aber ebenso der einzelnen Baumassnahme zugute – auch ökonomisch.
So sind Zeit und Geld, die für werthaltige, sorgfältig entworfene und ästhetisch dichte Architektur eingesetzt werden, nicht nur Wohltaten für die urbane Umwelt: Sie sind auch und vor allem kluge Investitionen. Sie tragen zur Angemessenheit und Lebensfähigkeit der Stadt bei und schaffen sich so ein kongeniales Umfeld. Sie bewähren sich in der Zeit nicht zuletzt dadurch, dass sie zu einem robusten, dauerhaften, dauerhaft attraktiven Kontext beitragen. Sie stellen eine langfristige Anlage dar, die von jener urbanen Nachhaltigkeit profitiert, die sie materiell und ästhetisch demonstrieren.
Würde Berlage heute eine Analyse des sozialen und ökonomischen Umfelds des Bauens unternehmen, würde er eine neue, aufgeklärte Gesellschaft beschreiben, die langfristig denkt und jede private Initiative gemeinschaftlich bewertet. Er würde eine Marktwirtschaft schildern, die den Wert ihrer Einzelinvestitionen an ihrer Verträglichkeit mit, ja an ihrem Beitrag zu einem nachhaltigen gemeinschaftlichen Aufbau misst. Und er würde daraus die Forderung einer Baukunst ableiten, die wieder zur durchgearbeiteten Fassade, zum bewusst ausgewählten Material, zum sorgfältig komponierten Detail, zum aussagekräftigen Dekor zurückfindet und sich selbstbewusst und gelassen die dafür erforderliche Zeit nimmt.
Es war der niederländische Architekt Hendrik Petrus Berlage, der vor über hundert Jahren diese Auffassung vertrat, und zwar in einem Vortrag mit dem Titel «Baukunst und Impressionismus». Bis dahin waren die städtischen Häuser Gebilde mit komplex artikulierten Hüllen gewesen. Sie waren in Hauptteil, Basis und Attika gegliedert, die jeweils anders gestaltet und oft auch aus anderen Materialien hergestellt waren: der Sockel widerstandsfähig, weil am exponiertesten, und schwer, um Solidität zu vermitteln, die Attika leicht und licht, allenfalls mit kräftigem Gesims, um den oberen Gebäudeabschluss zu markieren. Dazwischen waren die Fenster rhythmisch in die Fassade eingeschnitten, wobei Rahmen oder Faszien den Übergang zwischen Fläche und Öffnung thematisierten.
Die Fensterbänke standen stärker vor, um Wassernasen zu vermeiden, aber auch um dem Fenster mehr Halt in der Wand zu verleihen. Die Fensterläden waren in die Gesamtkomposition integriert. Flächige oder plastische Zierelemente unterstrichen sie und fügten dekorative und erzählende Dimensionen hinzu, die das Haus mit seiner Nutzung, seinem Bauherrn oder einfach nur seiner Zeit verknüpften. All das, so Berlage, war nunmehr anachronistische Verschwendung und würde vom neuen, rasanten Lebensrhythmus dahingerafft werden.
Im Rausch der Geschwindigkeit
Der Vortrag hatte bei den Zuhörern keinen Erfolg, aber die Vorstellung einer Stadtbaukunst, die sich der Geschwindigkeit des modernen Lebens fügen, ja sogar aus ihr ableiten sollte, prägte von nun an die urbanistische Diskussion. Der französische Kunst- und Literaturhistoriker Émile Magne sah aus dem immer schneller fahrenden Verkehr eine puristische «Esthetique des Villes» entstehen – so der Titel seines 1908 erschienenen Buchs.
Peter Behrens, der Doyen der deutschen Architektur der Moderne, schrieb zwei Jahre später: «Eine Eile hat sich unserer bemächtigt, die keine Musse gewährt, sich in Einzelheiten zu verlieren. Wenn wir im überschnellen Gefährt durch die Strassen unserer Grossstadt jagen, können wir nicht mehr die Details der Gebäude gewahren.»
Die grossen städtebaulichen Utopien des 20. Jahrhunderts, allen voran Le Corbusiers Ville contemporaine von 1923, wurden für jenen rasanten Autoverkehr konzipiert, der als Symbol und Ausdruck des Fortschritts galt. Und die auf schlichte Volumina reduzierte, karge, dekorationslose Architektur des neuen Bauens war die Antwort auf die hastige, oberflächliche Wahrnehmung, die aus der triumphal zunehmenden urbanen Geschwindigkeit resultierte.
Noch in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ging man generell davon aus, dass der Städtebau in erster Linie mit dem Automobilfahrer zu rechnen hätte; davon abweichende Auffassungen wie jene der Townscape-Bewegung, die in der britischen Zeitschrift «The Architectural Review» entwickelt wurde und ein pittoreskes Menschenmass forderte, blieben marginal. Ein Jahrzehnt später begann man, sich von der Vorstellung der autogerechten Stadt zu verabschieden.
Die Fussgängerzonen, die nach ihrem Debüt mit der vielbeachteten Einkaufsstrasse Lijnbaan in Rotterdam von 1953 schüchterne Auftritte erhalten hatten und nur in Kopenhagen bereits 1962 im grossen Massstab eingeführt worden waren, breiteten sich aus. Die sogenannten Begegnungszonen kamen hinzu, und insgesamt wurden in den europäischen Städten die Höchstgeschwindigkeitsgrenzen für den Automobilverkehr drastisch herabgesetzt. Was nur wenige Jahrzehnte zuvor enthusiastisch begrüsst worden war, hatte sich als Zerstörer des urbanen Lebensraums erwiesen.
Heute sind sich alle einig darüber, dass die Städte zugunsten des Langsamverkehrs umgerüstet werden müssen. Behrens’ «überschnelle Gefährte» rasen nicht mehr durch die Strassen unserer Grossstädte, sondern schlängeln sich durch lauschige Quartierstrassen und werden angehalten, dem Fussgänger Vortritt zu gewähren. Und als moderne Flaneure kämpfen wir gegen die Eile an.
Davon scheinen unsere Häuser nichts gemerkt zu haben. Weiterhin gebärden sie sich kubisch und karg, zeigen einheitliche glatte Oberflächen und unvermittelt eingeschnittene Fensteröffnungen, versuchen zuweilen durch spektakuläre skulpturale Verrenkungen oder plakative Elemente auf sich aufmerksam zu machen. Ob minimalistisch oder ikonisch, sie setzen sich für einen rasanten Städter in Szene, der im Aussterben begriffen ist. Der zeitgenössische Fussgänger, der zeitgenössische Fahrradfahrer findet an den abstrakt abrasierten Fassaden keine Wohltat und keinen Trost. Dafür muss er sich in die Altstädte oder in die Gründerzeitviertel begeben, wo er noch Details und Schmuckformen findet, die seinen Weg kurzweilig gestalten.
Schlampige Architektur
Die langsame Stadt, die in Anlehnung an die 1999 in Italien begründete Cittàslow-Bewegung die Entschleunigung auf ihre Fahnen schreibt, muss nicht nur anders funktionieren als die Stadt der Geschwindigkeit, sie muss auch anders aussehen. Ihre Gestaltung, für deren Wahrnehmung neue Musse vorhanden ist, kann dichter und anspruchsvoller sein. Die Hausfassaden können wieder, wie es die historischen getan haben und immer noch tun, Aufmerksamkeit erregen, Geschichten erzählen, Augen- und Tastsinn erfreuen. Sie können es nicht nur, sie müssen. Tun sie das nicht, geraten die Strecken, die wieder gemächlich zurückgelegt werden, eintönig, langweilig, ermüdend und freudlos.
Doch es geht bei der Bereicherung und Belebung der Stadtarchitektur zum Wohl des Fussgängers und des Fahrradfahrers nicht einfach um eine neue Architekturspielart. Berlages Befund, der die Ära der impressionistischen Baukunst einläutete, berücksichtigte neben der Eile des Betrachters auch jene des Bauherrn. Dieser sei nicht länger Willens, in umständlichen Zierrat zu investieren, weil er rasch bauen wolle, um die Laufzeit der Kredite für die Baufinanzierung kurz zu halten und überhaupt so schnell wie möglich Rendite aus den Gebäuden zu erwirtschaften. Auch und vor allem daraus leitete sich in den Augen des niederländischen Architekten die Notwendigkeit einer nüchtern detaillosen Architektur ab.
Die darauffolgende Entwicklung übertraf seine pessimistischsten Voraussagen. Die Optimierung des Bauprozesses führte zu zunehmend schlampigen Ausführungen. Die Investoren verbündeten sich mit der Bauindustrie und erfanden immer billigere, immer ärmere und simplere Baustoffe, Elemente und Oberflächen. Die Architekten fügten sich dem Trend zur ästhetischen und materiellen Verarmung, den sie mit der mehr oder minder aufrichtigen Bezugnahme auf die Bauhaus-Tradition und auf minimalistische Kunsttendenzen kulturell rechtfertigten und adelten.
Wenn sie nun, um den Anforderungen der neuen urbanen Langsamkeit Genüge zu tun, einen Paradigmenwechsel vollziehen sollen, kann dieser nicht nur ästhetisch, sondern muss auch ökonomisch sein. Die Baumeister müssen sich auf andere Referenzen besinnen als jene, welche die orthodoxe Moderne bietet, und diese Referenzen kreativ einsetzen. Sie müssen mehr konzipieren, mehr ins Detail gehen, mehr zeichnen, kurz: mehr arbeiten. Doch müssen die Auftraggeber sie in die Lage versetzen, diesen Mehraufwand leisten zu können: mit angemessenem Budget, mit angemessener Honorierung und vor allem mit angemessener Zeit.
Kluge Investitionen
Ist das im Hochkapitalismus, in dem es keinen Platz für Mäzene und Kunstliebhaber zu geben scheint und alles Bauen vom Gesetz der maximalen Rendite beherrscht wird, überhaupt realistisch? Ja, ist es. Die weitsichtigen, klugen Entwickler haben es bereits erkannt, den weniger weitsichtigen und weniger klugen dämmert es allmählich: Alle urbane Investition setzt auf die Aufwertung ihres Standortes. Jeder, der in der Stadt baut, ist an deren Erfolg beteiligt, ja auf deren Erfolg angewiesen. Eine Architektur, die sich auf den Wandel von der rasanten zur langsamen Stadt einlässt und diesen unterstützt, fördert die Stadtentwicklung. Das kommt der Stadt, aber ebenso der einzelnen Baumassnahme zugute – auch ökonomisch.
So sind Zeit und Geld, die für werthaltige, sorgfältig entworfene und ästhetisch dichte Architektur eingesetzt werden, nicht nur Wohltaten für die urbane Umwelt: Sie sind auch und vor allem kluge Investitionen. Sie tragen zur Angemessenheit und Lebensfähigkeit der Stadt bei und schaffen sich so ein kongeniales Umfeld. Sie bewähren sich in der Zeit nicht zuletzt dadurch, dass sie zu einem robusten, dauerhaften, dauerhaft attraktiven Kontext beitragen. Sie stellen eine langfristige Anlage dar, die von jener urbanen Nachhaltigkeit profitiert, die sie materiell und ästhetisch demonstrieren.
Würde Berlage heute eine Analyse des sozialen und ökonomischen Umfelds des Bauens unternehmen, würde er eine neue, aufgeklärte Gesellschaft beschreiben, die langfristig denkt und jede private Initiative gemeinschaftlich bewertet. Er würde eine Marktwirtschaft schildern, die den Wert ihrer Einzelinvestitionen an ihrer Verträglichkeit mit, ja an ihrem Beitrag zu einem nachhaltigen gemeinschaftlichen Aufbau misst. Und er würde daraus die Forderung einer Baukunst ableiten, die wieder zur durchgearbeiteten Fassade, zum bewusst ausgewählten Material, zum sorgfältig komponierten Detail, zum aussagekräftigen Dekor zurückfindet und sich selbstbewusst und gelassen die dafür erforderliche Zeit nimmt.
Vittorio Magnago Lampugnani ist Architekt in Mailand und Zürich und Professor emeritus für Städtebaugeschichte an der ETH Zürich.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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