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Wandel im ehemaligen Rotlichtviertel: Lend - und wie weiter?
Spectrum

Lange war er als Rotlichtviertel und Substandard-Lebensraum verschrien: der Grazer Bezirk Lend. Mittlerweile ist der Wandel nicht mehr zu übersehen. Ob die Erfolgsgeschichte nördlich des Lendplatzes weitergehen wird, entscheidet sich jetzt. Eine Stadtwanderung.

23. Februar 2019 - Karin Tschavgova
Wenn Narrative über die Entwicklung von Stadtquartieren als touristische Attraktion vereinnahmt werden, so ruft das bei mir Skepsis hervor. Gemeinhin wird der Beginn des Aufschwungs im Grazer Lendviertel am Kulturhauptstadtjahr 2003 und der zeitgleichen Eröffnung des Kunsthauses, das genau an der Grenzlinie zwischen den Bezirken Lend und Gries liegt, festgemacht. Als ehemalige Handwerksquartiere am rechten Murufer, in die über lange Zeit nichts investiert worden war, hatten beide ein eher tristes Dasein gefristet. Gleich hinter der repräsentativen Gründerzeitbebauung am Kai hatte sich eine Nachtclub- und Rotlichtszene etabliert, und frei werdender Substandard-Wohnraum war vor der Jahrtausendwende fast nur mehr an Migranten vermietbar.

2003 gab zweifellos den wichtigsten Impuls für die Transformation des Umfelds um den Südtiroler Platz. Im Rücken des Kunsthauses, in der Mariahilferstraße, wurde diese Veränderung schneller sichtbar. Dort standen mehrere Häuser zum Verkauf, wurden saniert, und in die freien Geschäftslokale zogen Mutige aus der Kreativszene und Sozialvereine wie „Tagwerk“ ein. Dass sie von der Stadt unterstützt wurden, um die Mieten für ihre Ladenlokale aufbringen zu können, ist eine der Legenden über den Aufschwung des Lendviertels. Der Wandel hatte schon 1999 mit der gelungenen Neugestaltung des Lendplatzes durch Norbert Müller im Rahmen der Initiative „Platz für Menschen“ des jung verstorbenen Vizebürgermeisters Erich Edegger begonnen. Der dortige Bauernmarkt wurde zum beliebten Treffpunkt, die türkischen Läden trugen zur Attraktivierung bei. Die aktive nachbarschaftliche Aneignung des öffentlichen Raums als Stadtraum, der nicht bloß kommerziellen Interessen vorbehalten ist, ist das Anliegen des „Lendwirbels“, der heuer zum elften Mal im Frühling stattfindet. Seine Initiatoren und sozialen Netzwerker tragen heute mehr zur gedeihlichen Entwicklung des Lendviertels bei als die Stadtplanung – ja, sie bilden mit ihren Anliegen für eine entscheidungsoffene Mitgestaltung des eigenen Lebensraums eine kritische Instanz gegenüber Tendenzen, ihr Viertel als Teil der „City of Design“ für den Tourismus und die sogenannte Kreativwirtschaft zu vermarkten.

Immobilienentwickler, die auf eine Aufwertung des Viertels durch höchste Qualität setzen, sind rar. Megaron, hinter der die Grazer Gruppe Pentaplan in Personalunion als Architekten und Bauträger steht, ist einer. Sie haben risikoreich auf die steigende Attraktivität des Lendviertels gesetzt und waren mit einem markanten urbanen Gebäude mit gemischter Geschäfts-, Büro- und Wohnnutzung im Jahr 2000 Impulsgeber. Zwei Jahre lang verkauften sie nichts, doch ihr Gespür für Orte und Entwicklungen mit Lebensqualität machte das Unterfangen letztlich zum Gewinn. 2004 ersteigerten sie eine Immobilie am Platz und planten mit einer Förderung zur Schaffung von Wohnraum durch umfassende Sanierung anhaltend nachgefragte Mietwohnungen. Der preisgekrönte „Goldene Engel“ führt das Urbane des Platzes mit einer repräsentativen Stadtfassade und mit öffentlich zugänglichen Flächen im Erdgeschoß fort und ist ein gutes Beispiel für die sozialverträgliche Transformation des Bezirks, der zwischen 2006 und 2011 zum am schnellsten wachsenden der Stadt wurde. Das Wohnen am rechten Murufer wurde für die Jungen attraktiv. Alteingesessene, Migranten und Studenten prägen das Stadtbild in einem lebendigen Nebeneinander. In der öffentlichen Wahrnehmung endet das heute nach wie vor mit dem Lendplatz. Das vorstädtisch klein geprägte Gewerbe- und Wohngebiet um die Wiener Straße bis zum Kalvariengürtel bleibt noch ausgeblendet, obwohl sich dorthin bereits die Begehrlichkeiten von Immobilienentwicklern verlagert haben.

Dazu der Versuch einer Charakteristik des Vorgefundenen: AVL, ein international tätiger Motoren- und Prüfsystementwickler, besetzt mit einem stetig wachsendem Konglomerat aus Büro- und Forschungsbauten und einer massigen Hochgarage ein großes Areal am Beginn der Wiener Straße – introvertiert, abgeschlossen und unter Privatisierung einer ehemals durchs Firmenareal führenden Straße. Das Gebiet östlich der Wiener Straße hingegen, entlang von drei parallel geführten Nord-Süd-Verbindungen, ist stark durchmischt. Mehrgeschoßige Wohnbauten, denen man ablesen kann, dass sie an der Stelle von früheren Einfamilienhäusern und Gewerbebetrieben sitzen, wechseln sich ab mit kleinen Vorstadthäusern in großen Obstgärten. Eingeschoßige, teils winzige hundertjährige Wohnhäuser stehen neben neuen Wohnblöcken, die ihre Areale bis auf ein Maximum der erlaubten Bebauungsdichte im Kerngebiet bebaut haben. Das treibt kuriose, teils gar nicht stadtverträgliche Blüten. Ein Beispiel? Austritte oder kleine Terrassen von Wohnungen im Erdgeschoß bis an den Gehsteigrand, abgetrennt durch eine mauerdichte Umzäunung. Zwei neue Bauten stechen wohltuend hervor, der neueste Coup von Pentaplan: die 2018 mit dem Bauherrenpreis ausgezeichnete „Prinzessin Veranda“. Das Wohngebäude ist ebenso als herausragender urbaner Solitär in einen Zwickel zwischen zwei Straßen gesetzt wie das Hotel Lend, das Nicole Lam ins ehemalige Niemandsland neben Bordell und Hochgarage gesetzt hat.

Gebaut wird hier bald an allen Ecken und Enden. Für das nächste große Investment, kolportierte 300 Wohnungen in einem noch gewerblich genutzten Areal am Beginn der Wiener Straße, hat die Stadt einen Bebauungsplan erstellt. Dieser könnte überall im Stadtgebiet umgesetzt werden, die vorgesehene geschlossene Blockrandbebauung nimmt leider keine der jetzt noch vorhandenen raumbildenden Merkmale des Stadtteils auf – weder Öffnungen noch Durchblicke in die Grundstückstiefe noch Wegeführung durch das Areal. Genau das aber macht für den aufmerksamen Stadtwanderer den Charme der noch rudimentär vorhandenen alten Vorstadt zwischen Lendkai und Wiener Straße aus. Dass das Alte, Kleinteilige bald Vergangenheit sein wird, ist eine Realität. Zu groß sind die Begehrlichkeiten für das zentrumsnahe, gut erschlossene Quartier. Stadtverdichtung als Devise ist in einer Stadt der kurzen, fußläufigen Wege nicht falsch. Doch halt! Einiges an den liebenswerten Besonderheiten könnte in die Transformation des Gebiets aufgenommen werden. Die großen, nur mit Stichstraßen erschlossenen Flächen geben es vor: Durchblicke und bis weit in tiefe, schmale Grundstücke hineinführende Wege, die aufgenommen, öffentlich gemacht und weitergeführt werden könnten, ohne Einzäunungen. Stadt ist nun einmal eine dichte Gemengelage aus öffentlichen, halb öffentlichen und privaten Interessen.

Für das Lendviertel gilt: Seine Heterogenität ist eine feinkörnige Durchmischung, seine Vielfalt eine Ressource und ein Schatz, der nicht durch 08/15-Neuplanung verschwinden darf.

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