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Ein Zürcher Wohnkoloss ist am Ende seiner Geschichte angelangt, nun hofft das einstige Arbeiterviertel auf eine «grüne» Zukunft
Zwei Wohnbaugenossenschaften planen an der Zürcher Seebahnstrasse Ersatzneubauten für 1000 Bewohner. Noch geniessen dort Studierende und Lehrlinge das Flair der 1930er Jahre – aber nicht mehr lange.
9. August 2019 - Dorothee Vögeli
Eines ist sicher: Irgendwann wird Lena Conrad zurückkommen ins Quartier rund um den Zürcher Bullingerplatz. Nach dem Vorbild von Wien und Berlin sind hier in der Zwischenkriegszeit breite Alleen entstanden, die ein Ensemble von Wohnhöfen säumen. Die «Kolonien», wie die gemeinnützigen Wohnsiedlungen des roten Zürich genannt werden, zählen zu den grössten und besterhaltenen Europas. Eine davon ist die Blockrandbebauung der Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals (BEP) an der Seebahnstrasse. Ihr Markenzeichen ist ein weitläufiger Innenhof, der an einen englischen Park erinnert. Weit weg ist der Lärm der Transitachse, die vor den Haustüren vorbeiführt. Im Gras zirpen Grillen, in den Baumkronen zwitschern Vögel. Manchmal hat sich Lena auf der Wiese niedergelassen und Texte gelernt.
Während ihrer Ausbildung zur Schauspielerin bewohnte sie in der Seebahn-Siedlung ein WG-Zimmer für monatlich 470 Franken. Nun hat sie die Zügelkisten gepackt; ein Theater in Brandenburg hat die 28-Jährige engagiert. Bevor sie geht, schmückt sie die Wäschestangen auf dem Dach für die Abschiedsparty. Mit Wehmut. Denn sie weiss, dass sie hier höchstens noch Besucherin, aber nie mehr Bewohnerin sein wird: Die BEP wird die Siedlung abbrechen und hat die 113 Wohnungen dem Jugendwohnnetz (Juwo) zur Zwischennutzung übergeben. Dieses hat klare Kriterien: Wer in seine Liegenschaften zieht, darf höchstens 28 Jahre alt sein und muss eine Ausbildung absolvieren.
Ein Kameramann geht durch den Hof – das Ambiente aus den 1930er Jahren spricht nicht nur Studierende an, auch das Schweizer Fernsehen hat den Ort als Drehkulisse entdeckt. Die Küchenloggien, Parkett- und Terrazzoböden, die Einbauschränke oder auch die Sprossenfenster in den Treppenhäusern stammen aus der Zeit, als hier noch Arbeiterfamilien lebten. Viele hatten zuvor in Mietskasernen ohne Bad, mit Holzherden und in zum Teil fensterlosen Räumen gehaust. Jetzt erlebten sie einen Quantensprung, nicht nur bezüglich Licht und Begrünung: Ausser einer zentralen Heizung und Warmwasserversorgung standen ihnen in der Wohnkolonie Seebahn erstmals elektrische Waschmaschinen zur Verfügung – moderne Einrichtungen, wie sie vorher nur im gehobenen Wohnungsbau zu finden waren.
Ohne «Knigge» geht es nicht
Vorbei waren also die Zeiten holzgefeuerter Kessel und Tröge, die Ära der Aufwertung der Waschküchen war angebrochen: Die vom BEP-Architekten Pietro Giumini konzipierten «Waschsalons» und Trockenräume befinden sich noch heute im Dachstock mit Sicht in den Hof. Verbunden sind sie über grosse Dachterrassen, die nicht nur dem Aufhängen der Wäsche, sondern bereits damals auch der Erholung dienten. Für die heutigen Bewohnerinnen und Bewohner sind die Terrassen vor allem ein Treffpunkt. Das hat auch schon zu Lärmklagen geführt. Inzwischen hat eine Gruppe junger Männer die Verantwortung für die allgemeinen Räume übernommen, an einschlägigen Orten prangt auf gelbem Papier ein gut sichtbarer «Knigge». In Anbetracht der hohen Dichte junger Menschen – 275 Bewohnerinnen und Bewohner leben in der Kolonie Seebahn – laufe es sehr gut, sagt Patrik Suter, CEO der gemeinnützigen Organisation Juwo.
Die Kolonie Seebahn ist 1930 entstanden, kurz nach der 1927 abgeschlossenen Tieferlegung der Bahnlinie vom Güterbahnhof zum Bahnhof Wiedikon. Der neu geschaffene Seebahngraben beseitigte die Warterei vor den Barrieren der vorher auf Strassenniveau geführten Zuggleise. Nun wurde das Kulturland Sihlfeld zum Bauland, auf dem die Stadt und diverse Genossenschaften Wohnraum für die rasch wachsende Arbeiterschaft schufen. 1927/28 baute die Stadt zwischen der neuen Stauffacherbrücke und der Hohlstrasse den Erismannhof mit 169 Wohnungen. 1929 erstellte die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich (ABZ) nach Plänen von Otto Streicher (1887–1968) die wuchtige Kolonie Sihlfeld mit 147 Wohnungen. Dieses an den Bullingerplatz grenzende, rot verputzte Vorzeigestück der ABZ hat Wilhelm Hartung (1879–1957) mit Dutzenden von Wandbildern bemalt. An prominenter Stelle befindet sich heute das Café du Bonheur, ein beliebter Treffpunkt für Menschen aus dem ganzen Quartier.
1930 realisierte die ABZ – unmittelbar neben der BEP-Siedlung – die ebenfalls von Otto Streicher entworfene Kolonie Kanzleistrasse. Wiederum war Wilhelm Hartung für den Freskenschmuck zuständig. Erfolglos kämpfte der Heimatschutz gegen die Entlassung der beiden Wohnhöfe aus dem Schutzinventar. Vor zwei Jahren lehnte das Verwaltungsgericht die Beschwerden ab, weil im Bullingerquartier bereits mehrere typische Beispiele unter Denkmalschutz stehen. Inzwischen überarbeiten ABZ und BEP ihre Ersatzneubauprojekte. Als Nächstes folgt der gemeinsame Gestaltungsplan Seebahnhöfe, den das Gemeindeparlament bewilligen muss. Danach reichen die Genossenschaften die Baugesuche ein. Der Mediensprecher Mike Weibel rechnet frühstens 2023 mit dem Baubeginn.
Der Gärtner ist weiterhin im Einsatz
Das Fernsehteam packt seine Sachen, ein junger Mann hat sich auf einem Liegestuhl im Hof niedergelassen. Oben auf der Terrasse geniesst eine Studentin den weiten Blick zum Lochergut und zum Üetliberg, die Sonne versinkt zwischen den Hardtürmen in einer Wolkenwand. Die 23-Jährige ist eben erst eingezogen. Immerhin bleiben ihr noch mindestens dreieinhalb Jahre am «schönsten Ort, an dem ich je wohnte», wie sie sagt. Dass direkt unter ihrem Balkon die Lastwagen vorbeifahren, beeinflusst diese Gewissheit nicht. Auch der Verkehrslärm und das metallische Surren der Bahn gehören für sie zum urbanen Lebensgefühl. Den Charme einer Abbruchliegenschaft umschreibt sie so: «Wir haben das Glück, an einem Ort zu leben, wo während fast 100 Jahren unterschiedliche Menschen gewohnt haben. Wir beenden ihre Geschichten und die Geschichte dieser Siedlung.»
Obwohl das Ende naht, pflegt ein Gärtner nach wie vor die wuchernde Natur im Hof und die Vorgärten an der Seebahnstrasse. Die Verwalterin sorgt zudem dafür, dass die Siedlung sicher und funktionstüchtig bleibt, wie Weibel sagt. Die Zusammenarbeit mit dem Juwo funktioniere bestens, gegenüber der jungen Bewohnerschaft wolle man nicht pingelig sein. Diese nutzt die Seebahn-Facebook-Gruppe gerne auch zur Selbsthilfe: «Hat vielleicht noch jemand weisse Farbe für die Wände übrig?», heisst es zum Beispiel.
Die Frage, was in dreieinhalb Jahren sein wird, hängt manchmal wie eine dunkle Wolke über den jungen Bewohnern. Wie stehen sie dann im Leben? Was geschieht mit dem Innenhof? Lena Conrads Antwort ist nicht frei von Pathos: «Sollte der Park verschwinden, wäre ich bereit, mich an einen Baum zu ketten.» Der Umgang mit dem alten Baumbestand nehmen die Bauherren allerdings nicht auf die leichte Schulter: BEP wie ABZ planen wiederum geschlossene Blockrandbauten mit grosszügigen Innenhöfen. Die ABZ kann sogar ihre ursprüngliche Idee eines einzigen grossen freien Innenraums realisieren: 193o hatte die Stadt der Genossenschaft noch die Bewilligung von fünf Etagen verweigert. Die Reduktion des Blockrands auf vier Geschosse hatte einen Gebäuderiegel mitten im Hof zur Folge – anders liessen sich die Mieten nicht tief halten.
Das aus einem Wettbewerb hervorgegangene Siegerprojekt von Müller Sigrist Architekten und Westpol soll nun fünf- bis siebenstöckig werden. Dadurch lässt sich die Zahl der ABZ-Wohnungen von bisher 156 auf 205 erhöhen und eine zusammenhängende Freifläche im Innern schaffen. Diese werden einige besonders prächtige Bäume schmücken, die aus Schutzgründen nicht gefällt werden dürfen. Auch das von Harder Spreyermann Architekten konzipierte Siegerprojekt der BEP wird maximal siebengeschossig. Die Zahl der Wohnungen erhöht sich von 113 auf 146, die Balkone gruppieren sich ebenfalls um einen Innenhof. Laut Weibel wird dessen Fläche im Vergleich zu heute nur leicht schrumpfen. Weil darunter die gemeinsame Tiefgarage geplant ist, lässt sich der Baumbestand allerdings nicht erhalten. Die Aussenraumgestaltung sei noch in Arbeit, sagt Weibel. Der BEP sei aber viel Grün ein Anliegen, auch höhere Bäume sollen wachsen können. Bereits jetzt ist hingegen klar, dass sich die «Waschsalons» im Erdgeschoss befinden werden – mit Sichtverbindung in den Hof.
Eine Parkidee erhält neuen Schub
Auf der Hitzekarte der ETH ist der Kreis 4, zu dem das Bullingerquartier gehört, tiefrot eingefärbt. Thomas Brunner kommt deshalb mit der Neuauflage einer alten Idee, der Überdeckung des Seebahngrabens zwischen Bahnhof Wiedikon und Güterbahnhof, im richtigen Moment. Zusammen mit weiteren pensionierten Mitstreitern hat der Rechtsanwalt und Gründer des Hotel Greulich einen Verein ins Leben gerufen, um dem Konzept eines über vier Hektaren grossen Parks zum Durchbruch zu verhelfen.
Im neuen kommunalen Richtplan ist das auf gegen 400 Millionen Franken geschätzte Projekt eingetragen, im Herbst wird der Gemeinderat darüber diskutieren. Offen zeigen sich die Stadträte Richard Wolff, André Odermatt und Filippo Leutenegger. Im Hinblick auf die weitere Verdichtung im bereits heute mit Grünraum unterversorgten Kreis 4 begrüssen sie Freiraumkonzepte, denen kein Land geopfert werden müsste. Auch das Echo der SBB ist positiv: Erfahrungen zeigten, dass ein solcher Deckel technisch machbar sei, sagt ein Pressesprecher.
Wann sich die künftigen Bewohner der Seebahnhöfe im neuen Park tummeln können, steht in den Sternen. Vorerst lädt Lena Conrad auf der Dachterrasse zu einem Apéro ein. Sie feiert ihren Abschied. Ein rauschendes Fest wird es nicht. Aber ein Abend voller Geschichten, die sie nie vergessen wird.
Während ihrer Ausbildung zur Schauspielerin bewohnte sie in der Seebahn-Siedlung ein WG-Zimmer für monatlich 470 Franken. Nun hat sie die Zügelkisten gepackt; ein Theater in Brandenburg hat die 28-Jährige engagiert. Bevor sie geht, schmückt sie die Wäschestangen auf dem Dach für die Abschiedsparty. Mit Wehmut. Denn sie weiss, dass sie hier höchstens noch Besucherin, aber nie mehr Bewohnerin sein wird: Die BEP wird die Siedlung abbrechen und hat die 113 Wohnungen dem Jugendwohnnetz (Juwo) zur Zwischennutzung übergeben. Dieses hat klare Kriterien: Wer in seine Liegenschaften zieht, darf höchstens 28 Jahre alt sein und muss eine Ausbildung absolvieren.
Ein Kameramann geht durch den Hof – das Ambiente aus den 1930er Jahren spricht nicht nur Studierende an, auch das Schweizer Fernsehen hat den Ort als Drehkulisse entdeckt. Die Küchenloggien, Parkett- und Terrazzoböden, die Einbauschränke oder auch die Sprossenfenster in den Treppenhäusern stammen aus der Zeit, als hier noch Arbeiterfamilien lebten. Viele hatten zuvor in Mietskasernen ohne Bad, mit Holzherden und in zum Teil fensterlosen Räumen gehaust. Jetzt erlebten sie einen Quantensprung, nicht nur bezüglich Licht und Begrünung: Ausser einer zentralen Heizung und Warmwasserversorgung standen ihnen in der Wohnkolonie Seebahn erstmals elektrische Waschmaschinen zur Verfügung – moderne Einrichtungen, wie sie vorher nur im gehobenen Wohnungsbau zu finden waren.
Ohne «Knigge» geht es nicht
Vorbei waren also die Zeiten holzgefeuerter Kessel und Tröge, die Ära der Aufwertung der Waschküchen war angebrochen: Die vom BEP-Architekten Pietro Giumini konzipierten «Waschsalons» und Trockenräume befinden sich noch heute im Dachstock mit Sicht in den Hof. Verbunden sind sie über grosse Dachterrassen, die nicht nur dem Aufhängen der Wäsche, sondern bereits damals auch der Erholung dienten. Für die heutigen Bewohnerinnen und Bewohner sind die Terrassen vor allem ein Treffpunkt. Das hat auch schon zu Lärmklagen geführt. Inzwischen hat eine Gruppe junger Männer die Verantwortung für die allgemeinen Räume übernommen, an einschlägigen Orten prangt auf gelbem Papier ein gut sichtbarer «Knigge». In Anbetracht der hohen Dichte junger Menschen – 275 Bewohnerinnen und Bewohner leben in der Kolonie Seebahn – laufe es sehr gut, sagt Patrik Suter, CEO der gemeinnützigen Organisation Juwo.
Die Kolonie Seebahn ist 1930 entstanden, kurz nach der 1927 abgeschlossenen Tieferlegung der Bahnlinie vom Güterbahnhof zum Bahnhof Wiedikon. Der neu geschaffene Seebahngraben beseitigte die Warterei vor den Barrieren der vorher auf Strassenniveau geführten Zuggleise. Nun wurde das Kulturland Sihlfeld zum Bauland, auf dem die Stadt und diverse Genossenschaften Wohnraum für die rasch wachsende Arbeiterschaft schufen. 1927/28 baute die Stadt zwischen der neuen Stauffacherbrücke und der Hohlstrasse den Erismannhof mit 169 Wohnungen. 1929 erstellte die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich (ABZ) nach Plänen von Otto Streicher (1887–1968) die wuchtige Kolonie Sihlfeld mit 147 Wohnungen. Dieses an den Bullingerplatz grenzende, rot verputzte Vorzeigestück der ABZ hat Wilhelm Hartung (1879–1957) mit Dutzenden von Wandbildern bemalt. An prominenter Stelle befindet sich heute das Café du Bonheur, ein beliebter Treffpunkt für Menschen aus dem ganzen Quartier.
1930 realisierte die ABZ – unmittelbar neben der BEP-Siedlung – die ebenfalls von Otto Streicher entworfene Kolonie Kanzleistrasse. Wiederum war Wilhelm Hartung für den Freskenschmuck zuständig. Erfolglos kämpfte der Heimatschutz gegen die Entlassung der beiden Wohnhöfe aus dem Schutzinventar. Vor zwei Jahren lehnte das Verwaltungsgericht die Beschwerden ab, weil im Bullingerquartier bereits mehrere typische Beispiele unter Denkmalschutz stehen. Inzwischen überarbeiten ABZ und BEP ihre Ersatzneubauprojekte. Als Nächstes folgt der gemeinsame Gestaltungsplan Seebahnhöfe, den das Gemeindeparlament bewilligen muss. Danach reichen die Genossenschaften die Baugesuche ein. Der Mediensprecher Mike Weibel rechnet frühstens 2023 mit dem Baubeginn.
Der Gärtner ist weiterhin im Einsatz
Das Fernsehteam packt seine Sachen, ein junger Mann hat sich auf einem Liegestuhl im Hof niedergelassen. Oben auf der Terrasse geniesst eine Studentin den weiten Blick zum Lochergut und zum Üetliberg, die Sonne versinkt zwischen den Hardtürmen in einer Wolkenwand. Die 23-Jährige ist eben erst eingezogen. Immerhin bleiben ihr noch mindestens dreieinhalb Jahre am «schönsten Ort, an dem ich je wohnte», wie sie sagt. Dass direkt unter ihrem Balkon die Lastwagen vorbeifahren, beeinflusst diese Gewissheit nicht. Auch der Verkehrslärm und das metallische Surren der Bahn gehören für sie zum urbanen Lebensgefühl. Den Charme einer Abbruchliegenschaft umschreibt sie so: «Wir haben das Glück, an einem Ort zu leben, wo während fast 100 Jahren unterschiedliche Menschen gewohnt haben. Wir beenden ihre Geschichten und die Geschichte dieser Siedlung.»
Obwohl das Ende naht, pflegt ein Gärtner nach wie vor die wuchernde Natur im Hof und die Vorgärten an der Seebahnstrasse. Die Verwalterin sorgt zudem dafür, dass die Siedlung sicher und funktionstüchtig bleibt, wie Weibel sagt. Die Zusammenarbeit mit dem Juwo funktioniere bestens, gegenüber der jungen Bewohnerschaft wolle man nicht pingelig sein. Diese nutzt die Seebahn-Facebook-Gruppe gerne auch zur Selbsthilfe: «Hat vielleicht noch jemand weisse Farbe für die Wände übrig?», heisst es zum Beispiel.
Die Frage, was in dreieinhalb Jahren sein wird, hängt manchmal wie eine dunkle Wolke über den jungen Bewohnern. Wie stehen sie dann im Leben? Was geschieht mit dem Innenhof? Lena Conrads Antwort ist nicht frei von Pathos: «Sollte der Park verschwinden, wäre ich bereit, mich an einen Baum zu ketten.» Der Umgang mit dem alten Baumbestand nehmen die Bauherren allerdings nicht auf die leichte Schulter: BEP wie ABZ planen wiederum geschlossene Blockrandbauten mit grosszügigen Innenhöfen. Die ABZ kann sogar ihre ursprüngliche Idee eines einzigen grossen freien Innenraums realisieren: 193o hatte die Stadt der Genossenschaft noch die Bewilligung von fünf Etagen verweigert. Die Reduktion des Blockrands auf vier Geschosse hatte einen Gebäuderiegel mitten im Hof zur Folge – anders liessen sich die Mieten nicht tief halten.
Das aus einem Wettbewerb hervorgegangene Siegerprojekt von Müller Sigrist Architekten und Westpol soll nun fünf- bis siebenstöckig werden. Dadurch lässt sich die Zahl der ABZ-Wohnungen von bisher 156 auf 205 erhöhen und eine zusammenhängende Freifläche im Innern schaffen. Diese werden einige besonders prächtige Bäume schmücken, die aus Schutzgründen nicht gefällt werden dürfen. Auch das von Harder Spreyermann Architekten konzipierte Siegerprojekt der BEP wird maximal siebengeschossig. Die Zahl der Wohnungen erhöht sich von 113 auf 146, die Balkone gruppieren sich ebenfalls um einen Innenhof. Laut Weibel wird dessen Fläche im Vergleich zu heute nur leicht schrumpfen. Weil darunter die gemeinsame Tiefgarage geplant ist, lässt sich der Baumbestand allerdings nicht erhalten. Die Aussenraumgestaltung sei noch in Arbeit, sagt Weibel. Der BEP sei aber viel Grün ein Anliegen, auch höhere Bäume sollen wachsen können. Bereits jetzt ist hingegen klar, dass sich die «Waschsalons» im Erdgeschoss befinden werden – mit Sichtverbindung in den Hof.
Eine Parkidee erhält neuen Schub
Auf der Hitzekarte der ETH ist der Kreis 4, zu dem das Bullingerquartier gehört, tiefrot eingefärbt. Thomas Brunner kommt deshalb mit der Neuauflage einer alten Idee, der Überdeckung des Seebahngrabens zwischen Bahnhof Wiedikon und Güterbahnhof, im richtigen Moment. Zusammen mit weiteren pensionierten Mitstreitern hat der Rechtsanwalt und Gründer des Hotel Greulich einen Verein ins Leben gerufen, um dem Konzept eines über vier Hektaren grossen Parks zum Durchbruch zu verhelfen.
Im neuen kommunalen Richtplan ist das auf gegen 400 Millionen Franken geschätzte Projekt eingetragen, im Herbst wird der Gemeinderat darüber diskutieren. Offen zeigen sich die Stadträte Richard Wolff, André Odermatt und Filippo Leutenegger. Im Hinblick auf die weitere Verdichtung im bereits heute mit Grünraum unterversorgten Kreis 4 begrüssen sie Freiraumkonzepte, denen kein Land geopfert werden müsste. Auch das Echo der SBB ist positiv: Erfahrungen zeigten, dass ein solcher Deckel technisch machbar sei, sagt ein Pressesprecher.
Wann sich die künftigen Bewohner der Seebahnhöfe im neuen Park tummeln können, steht in den Sternen. Vorerst lädt Lena Conrad auf der Dachterrasse zu einem Apéro ein. Sie feiert ihren Abschied. Ein rauschendes Fest wird es nicht. Aber ein Abend voller Geschichten, die sie nie vergessen wird.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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