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Die grosse Wette auf das Fertigsuppen-Tal: Wie das legendäre Maggi-Areal in Kemptthal wiederbelebt wird
Als «The Valley» soll das weitläufige Fabrikgelände zwischen Winterthur und Zürich bis zu 2000 Arbeitsplätze beherbergen, Läden und eine Rooftop-Bar. Der industrielle Charme ist intakt. Doch wer wird hierherzügeln?
15. August 2019 - André Müller
Eines der wichtigsten Schweizer Industriedenkmäler? Wer mit der S7 am Bahnhof Kemptthal ankommt, spürt zunächst wenig davon: Die Unterführung ist schmal und dunkel, die Decke mit Spinnweben übersät. Am Perronrand wuchert Gras in den Ritzen des brüchigen Asphalts; der Interregio brettert vorbei, sonst ereignet sich hier auf den ersten Blick wenig. Wo früher die kräftigen Düfte der Maggi-Suppen-Produktion die Nase grüssten, riecht man – nichts.
Doch der erste Eindruck trügt. Das geschichtsträchtige Fabrikareal erwacht derzeit zu neuem Leben, was sich aber erst ein paar Schritte abseits der Gleise erschliesst. Grosse gelbe Lettern, prominent über einem hohen Dach angebracht, preisen «The Valley» an – unter diesem Namen wird das frühere Maggi-Areal seit Ende 2018 vermarktet.
Immobilienentwickler Mikula Gehrig soll dafür sorgen, dass das industrielle Kleinod wieder aufblüht. Die Mettler2Invest hat letztes Jahr zusammen mit der Motorworld-Gruppe aus Deutschland den grössten Teil des Geländes dem Aromen- und Duftstoffhersteller Givaudan abgekauft und grosse Pläne für das Tal präsentiert: Insgesamt sollen rund 100 000 Quadratmeter Geschossfläche für rund 1500 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Zusammen mit 500 Givaudan-Mitarbeitern sollen sie Kemptthal in eine pulsierende kleine Fabrikstadt verwandeln.
Die Suppen sind weg, aber nicht vergessen
Das neue «Valley» darf aber nicht auf dem Reissbrett entstehen. Ein grosser Teil der Produktions- und Lagergebäude des Maggi-Areals ist Kulturgut von nationaler Bedeutung, der Rest gehört zu den kantonalen Schutzobjekten. Kurz: Ohne den Denkmalschutz läuft hier gar nichts.
Das Fabrikgelände in Kemptthal verfügt schliesslich auch über eine reiche Geschichte: Der Müllerssohn Julius Maggi übernahm 1869 die lokale Mühle von seinem Vater und entwickelte hier in den 1880er Jahren sein Geschäft mit neuartigen Mehlen und Fertigsuppen auf Basis von Hülsenfrüchten. In Kemptthal entstanden 1886 die Maggi-Flüssigwürze und 1908 die ikonischen, gelb-rot verpackten Suppenwürfel, die seither einen beispiellosen Siegeszug über alle Kontinente der Erde angetreten haben und als Inbegriff der Globalisierung gelten dürfen.
Kemptthal blieb lange das Herz dieser Expansion, bis in die 1940er Jahre wurde die Fabrik sukzessive ausgebaut. Weil die Kempt und die Bahnlinie im Osten und die Kantonsstrasse im Westen das Areal einhegen, geschah dies vor allem nach Süden. Das Fabrikgelände ist daher kaum mehr als 100 Meter breit, erstreckt sich aber auf über 800 Meter Länge.
Maggi, beziehungsweise deren deutsche Tochterfirma, galt in der NS-Zeit als arischer Musterbetrieb und war während des Zweiten Weltkriegs einer der wichtigsten Lieferanten der Wehrmacht. Die Fusion mit Nestlé erfolgte 1947 unter anderem auch, um diesen Makel wettzumachen. Nestlé entwickelte das Kemptthaler Areal über die Jahrzehnte weiter und stellte hier noch lange Bouillonwürfel und Flädlisuppe her – was auch die Automobilisten auf der 1974 fertiggestellten Autobahn rochen. Der Riechstoff-Hersteller Givaudan kaufte das Areal 2002 zusammen mit der Aromenproduktion von der Vorgängerin Nestlé, welche die Suppenherstellung nach Singen verlagerte.
Konzentration aufs Wesentliche
Für Givaudan habe damals die Übernahme des Aromen-Geschäfts von Nestlé im Zentrum gestanden, sagt Unternehmenssprecher Markus Gautschi. Der Erwerb der historischen Gebäude war somit eher ein Nebeneffekt. Einiges sei damals brachgelegen. 2013 fiel der Entscheid, die Forschungsabteilung von Dübendorf in einem Neubau in Kemptthal unterzubringen. Parallel dazu begann auch die Suche nach einem Käufer für das restliche Areal. «Wir wollten uns auf unsere Kernkompetenz beschränken. Das ist die Entwicklung von Aromen und Duftstoffen, nicht das Immobilienmanagement.»
Das neue Innovation-Center wurde diesen Juni eröffnet; 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entwickeln darin neue Duftstoffe für Parfums sowie Aromen für Lebensmittel aller Art: Schokolade, Kaugummis, Brot- und Fleischwaren, Milchprodukte und Glacen. Givaudan belebt so das Areal und stellt den Hauptharst an Kunden für das neue Restaurant «The Valley». Das Innovation-Center, welches das Fabrikareal nach Süden abschliesst, ist aber auch architektonisch eine feine Leistung.
Weil das ehemalige Maggi-Areal als Ganzes schützenswert ist, arbeiteten die Planer von Beginn weg eng mit der kantonalen Denkmalpflege zusammen: Die Stützmauer unter dem höher gelegenen Parkplatz ist strukturiert, um den stimmigen Gesamteindruck entlang der Hauptachse des Areals zu erhalten. Mit der Hülle aus Klinkersteinen nimmt das Innovation-Center auch die Bauweise des Areals auf, mit einem «Knick» im Eingangsbereich folgt es dem Richtungswechsel der Kempt.
Forschung ist Teamarbeit. Im Inneren sollen daher durchdachte Architektur und einige Details die Mitarbeiter zur Zusammenarbeit anregen, erklärt Markus Gautschi. Die Kaffeemaschinen stünden zum Beispiel nur an zentralen Orten rund um die hohen, hellen Gemeinschaftsräume. «Die Leute sollen zu den Labors und Büros herauskommen und hier ihren Kaffee gemeinsam trinken», sagt Gautschi. Die Transparenz geht in beide Richtungen: Die Labors und Testkammern sind verglast, die Forschung wird so nicht vor Besuchern versteckt, sondern präsentiert.
Im Gebäude selbst riecht es neutral. 160 000 Kubikmeter Frischluft müssen dafür stündlich zugeführt werden – bei Givaudan ist sie geschäftsrelevant. «Die Nase ist ein zentrales Instrument in unserer Forschung», sagt Gautschi. Die Luft wird in einem Turm weit ausserhalb angesogen und durchs Erdreich geführt – was sie im Winter wärmt und im Sommer kühlt. Ganze 72 Erdsonden, die jeweils über 300 Meter in die Tiefe reichen, versorgen das Gebäude mit Wärme, was dem Gebäude das US-Nachhaltigkeitslabel Leed eingebracht hat.
Ab Ende August richtet sich Givaudan zudem in einem Bürohaus mit weiteren 200 Mitarbeitern ein, die derzeit noch in provisorischen Büros arbeiten. Dafür wurde just das Gebäude ausgebaut und aufgestockt, wo früher die Suppenwürfel konfektioniert und eingepackt wurden. Der Innenausbau war knifflig, wie Markus Gautschi erläutert. Zwischengeschosse, schützenswerte pilzförmige Säulen in den Hallen oder auch Vorgaben zum Erdbebenschutz schränkten den Gestaltungsspielraum ein; meist fanden die Architekten aber kreative Lösungen.
Die von Bouillon geprägte Vergangenheit riecht man im Übrigen nicht mehr – anders als in einigen anderen Gebäuden, die noch nicht ausgebaut worden sind, wo die Nase zumindest einen Hauch der Vergangenheit ausmachen kann.
Das Schwungrad in Gang bringen
Das gesamte Maggi-Areal war, wie viele andere Industriegelände, für die Öffentlichkeit früher nicht zugänglich; eine vergitterte, verbotene Stadt. Auch das wird sich ändern, die Gitter sind bereits abgebaut und das Gelände ist tagsüber frei zugänglich. Allerdings trifft man derzeit noch auf manche Baustelle. Nachdem seit den 1990er Jahren kein Gebäude mehr erstellt worden war, ging es zuletzt Schlag auf Schlag: Nach den beiden Gebäuden für Givaudan soll bis Ende Jahr das Restaurant deutlich erweitert werden. Auch die neue Rooftop-Bar auf dem alten Silogebäude soll vor Jahresende eröffnet werden.
Im zweiten Quartal 2020 zieht dann die Motorworld Group ein: Das deutsche Unternehmen, das nebst Mettler2Invest ebenfalls zur Hälfte am Areal beteiligt ist, wird eine grosse Halle zum Showroom für Oldtimer umwandeln, darum herum sind Tagungsräume geplant. Laut Gehrig sollen gezielt auch zugewandte Betriebe angelockt werden: Ein Sattler für die Lederbezüge etwa oder Startups, die an neuartigen Mobilitätslösungen forschen. «Mit dem Wachstum auf dem Areal verhält es sich wie mit einem Schwungrad: Es beschleunigt von selbst», sagt Gehrig.
Bis das ehemalige Maggi-Areal als «The Valley» in voller Blüte steht, wird es nach den Plänen der Entwickler fünf bis zehn Jahre dauern. Mikula Gehrig muss dafür vor allem ein Henne-Ei-Problem lösen: Arbeitgeber ziehen hierher, wenn es Restaurants oder ein Fitnesscenter für ihre Mitarbeiter gibt. Fitnesscenter-Betreiber brauchen hingegen eine Mindestzahl an Arbeitnehmern, um profitabel zu arbeiten. Man müsse eben schrittweise vorgehen, sagt der Entwickler.
Nebst dem neu eröffneten Restaurant und der Bar wird bis Ende Jahr auch ein Postschalter eingerichtet. Die Ansiedlung von zwei Lebensmittelläden sei auf gutem Wege, mit verschiedenen Fitnesscenter-Betreiber sei man im Gespräch. Nebst Givaudan sind auch die Axa, das IT-Unternehmen Axept und das Kantonsspital Winterthur auf dem Areal eingemietet, zudem haben sich mehrere Bauleitungen angesiedelt. Startups stellen Schokolade, Mozzarella oder Tirggelschnaps her und halten so den historischen Bezug zur Nahrungsmittelindustrie aufrecht.
Lage, Lage, Lage
Eine zweite Herausforderung ist die Verkehrserschliessung. Kemptthal ist zugleich peripher und sehr zentral gelegen: Hier trifft sich so viel Verkehr wie wohl nirgendwo sonst in der Schweiz. Das Gelände wird von der A 1, einer Kantonsstrasse und der betriebsamsten zweigleisigen Zugstrecke des Landes umschlossen und liegt überdies unter der Anflugschneise des Flughafens. Dennoch schaffen die nahen Wälder auf beiden Seiten eine angenehme Ruhe: Wer aus den Givaudan-Labors in die Ferne blickt, sieht fast nur Wiesen und Wälder. Die teilweise Renaturierung der Kempt trägt viel bei zum Eindruck, «im Grünen» zu arbeiten. Viele Mitarbeiter setzten sich mittags mit ihrem Sandwich an den Fluss, sagt Markus Gautschi. Weil es auf dem Fabrikgelände keine Wohnungen gibt, kommt schon fast Campus-Atmosphäre auf.
Doch im Büromarkt geht meist die Lage über alles – kann Kemptthal da mit den grossen Zentren mithalten? Über die A 1 ist man hervorragend ans Strassennetz angebunden, doch die Autobahn ist stauanfällig, besonders für Pendler, die zu Stosszeiten den Gubrist und die Nordumfahrung befahren. Der Bahnhof Kemptthal wird halbstündlich von der S-Bahn angefahren: Von Winterthur her ideal und nahe, nach Zürich dauert es etwas länger, weil die S7 einen Umweg über Bassersdorf und Kloten nimmt.
Für die Zugpendler müssten die SBB den Bahnhof sicherlich, mit Blick auf die Kreuzspinnen in der dunklen Unterführung, in ein freundlicheres Eingangstor ausbauen. Das Behindertengleichstellungsgesetz wird ein Treiber sein: Bis 2023 müssten alle Haltestellen im Land behindertengerecht ausgebaut werden; in Kemptthal wird es bis etwa 2025 so weit sein, doch dürfte der Bahnhof dabei auch eine Auffrischung erfahren. Laut Gehrig steht man mit den SBB diesbezüglich bereits im Austausch. Die Sanierung des Bahnhofs komme dann nicht nur dem «Valley», sondern auch den umliegenden Dörfern zugute.
Kemptthal ist als Arbeitsplatzgebiet im kantonalen Richtplan eingetragen. Wenn hier dereinst 2000 Personen arbeiten, muss es auch im Interesse des Kantons liegen, dass viele in den Zug statt ins Auto steigen. Einen Viertelstundentakt mit der S-Bahn wird es aber auf lange Zeit nicht geben – der zweigleisige Abschnitt zwischen Effretikon und Winterthur verträgt keinen Mehrverkehr. Erst der parallel verlaufende, auf 2035 hin vorgesehene Brüttener Tunnel würde Spielraum schaffen; doch derart weit in die Zukunft denkt kein Arbeitgeber, der heute Büros für seine Mitarbeiter sucht. Mikula Gehrig sagt, dass im öffentlichen Verkehr bereits mit einem dichteren Busangebot zwischen Winterthur und Effretikon einiges machbar wäre.
Auf dem Zürcher Büromarkt ist noch immer ein harter Verdrängungswettkampf in Gang. Auch gut erschlossene städtische Standorte kämpfen um Mieter. Doch Gehrig zeigt sich zufrieden mit dem Belegungsstand; gegen die Hälfte der Flächen sei schon vermietet, der Ausbau der einzelnen Gebäude werde rollend vorangetrieben, sobald dafür genug Mieter gefunden seien.
Mettler2Invest setzt bei der Vermietung auf die reiche Geschichte seines Areals – für einmal wird die Denkmalpflege da zum Verbündeten des Entwicklers. «Wir haben zu grossen Teilen dieselben Ziele: Wir möchten die baulichen Strukturen erhalten und zeigen», sagt Gehrig. «Die Zusammenarbeit mit Ämtern und Behörden ist enorm wichtig. Wer auf eigene Faust drauflosplant, kommt bei einem solchen Areal nicht weit.» Die Substanz der Fabrik- und Lagergebäude sei gut, man brauche also nichts abzureissen, um schöne Büros und Gewerberäume zu erstellen.
Schwieriger sei es bisweilen, die Brandschutzbestimmungen einzuhalten. So wollten die Denkmalpflege und die Entwickler die Stahl- und Gusseisenträger im Gebäudeinneren erhalten und in Szene setzen, was aber punkto Feuerschutz Probleme bereitete. Die Träger wurden nun eingeschalt; für beide Seiten ein gangbarer Kompromiss.
Derzeit liegt der Gestaltungsplan beim Kanton zur Vorprüfung. Mehrere Ämter sind daran beteiligt, weil zum Beispiel auch der Gewässerschutz rund um die Kempt geprüft wird. Klar ist, dass auf dem Maggi-Areal keine Loft-Wohnungen entstehen können. «Eine Mischnutzung würde das Areal beleben, das wurde vom Kanton aber von Beginn weg als schwierig eingestuft», sagt Gehrig. Damit müsse man sich arrangieren. Der Austausch mit den Behörden sei gut, brauche aber naturgemäss seine Zeit. Von der Gemeinde Lindau, zu der Kemptthal gehört, und von der Standortförderung Winterthur komme jedenfalls wichtiger Support.
Zurück in die Stadt
Am Frühabend nimmt der Baustellenverkehr im Areal ab. Es ist ein schöner Sommertag, da fällt das Warten auf die S-Bahn zurück nach Zürich leicht. Die Kempt plätschert gegen den vorbeirauschenden Intercity an, entlang des Feldwegs hinter den Gleisen wächst dichtes, frisch duftendes Buschwerk. Fast möchte man den aufgemalten gelben Rauten folgen und den Weg nach Zürich zu Fuss anpacken. Auf dem Perron am Bahnhof Kemptthal tröpfeln ein paar Mitarbeiter ein, die lieber mit der S7 um 17 Uhr 09 nach Zürich fahren; man hört entspannte Feierabendgespräche, auf Deutsch und Englisch. Wie üblich ist der Wagen bis Bassersdorf erst halb voll. Wenn Mikula Gehrigs Wette aufgeht, wird es hier drin bald bedeutend enger.
Doch der erste Eindruck trügt. Das geschichtsträchtige Fabrikareal erwacht derzeit zu neuem Leben, was sich aber erst ein paar Schritte abseits der Gleise erschliesst. Grosse gelbe Lettern, prominent über einem hohen Dach angebracht, preisen «The Valley» an – unter diesem Namen wird das frühere Maggi-Areal seit Ende 2018 vermarktet.
Immobilienentwickler Mikula Gehrig soll dafür sorgen, dass das industrielle Kleinod wieder aufblüht. Die Mettler2Invest hat letztes Jahr zusammen mit der Motorworld-Gruppe aus Deutschland den grössten Teil des Geländes dem Aromen- und Duftstoffhersteller Givaudan abgekauft und grosse Pläne für das Tal präsentiert: Insgesamt sollen rund 100 000 Quadratmeter Geschossfläche für rund 1500 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Zusammen mit 500 Givaudan-Mitarbeitern sollen sie Kemptthal in eine pulsierende kleine Fabrikstadt verwandeln.
Die Suppen sind weg, aber nicht vergessen
Das neue «Valley» darf aber nicht auf dem Reissbrett entstehen. Ein grosser Teil der Produktions- und Lagergebäude des Maggi-Areals ist Kulturgut von nationaler Bedeutung, der Rest gehört zu den kantonalen Schutzobjekten. Kurz: Ohne den Denkmalschutz läuft hier gar nichts.
Das Fabrikgelände in Kemptthal verfügt schliesslich auch über eine reiche Geschichte: Der Müllerssohn Julius Maggi übernahm 1869 die lokale Mühle von seinem Vater und entwickelte hier in den 1880er Jahren sein Geschäft mit neuartigen Mehlen und Fertigsuppen auf Basis von Hülsenfrüchten. In Kemptthal entstanden 1886 die Maggi-Flüssigwürze und 1908 die ikonischen, gelb-rot verpackten Suppenwürfel, die seither einen beispiellosen Siegeszug über alle Kontinente der Erde angetreten haben und als Inbegriff der Globalisierung gelten dürfen.
Kemptthal blieb lange das Herz dieser Expansion, bis in die 1940er Jahre wurde die Fabrik sukzessive ausgebaut. Weil die Kempt und die Bahnlinie im Osten und die Kantonsstrasse im Westen das Areal einhegen, geschah dies vor allem nach Süden. Das Fabrikgelände ist daher kaum mehr als 100 Meter breit, erstreckt sich aber auf über 800 Meter Länge.
Maggi, beziehungsweise deren deutsche Tochterfirma, galt in der NS-Zeit als arischer Musterbetrieb und war während des Zweiten Weltkriegs einer der wichtigsten Lieferanten der Wehrmacht. Die Fusion mit Nestlé erfolgte 1947 unter anderem auch, um diesen Makel wettzumachen. Nestlé entwickelte das Kemptthaler Areal über die Jahrzehnte weiter und stellte hier noch lange Bouillonwürfel und Flädlisuppe her – was auch die Automobilisten auf der 1974 fertiggestellten Autobahn rochen. Der Riechstoff-Hersteller Givaudan kaufte das Areal 2002 zusammen mit der Aromenproduktion von der Vorgängerin Nestlé, welche die Suppenherstellung nach Singen verlagerte.
Konzentration aufs Wesentliche
Für Givaudan habe damals die Übernahme des Aromen-Geschäfts von Nestlé im Zentrum gestanden, sagt Unternehmenssprecher Markus Gautschi. Der Erwerb der historischen Gebäude war somit eher ein Nebeneffekt. Einiges sei damals brachgelegen. 2013 fiel der Entscheid, die Forschungsabteilung von Dübendorf in einem Neubau in Kemptthal unterzubringen. Parallel dazu begann auch die Suche nach einem Käufer für das restliche Areal. «Wir wollten uns auf unsere Kernkompetenz beschränken. Das ist die Entwicklung von Aromen und Duftstoffen, nicht das Immobilienmanagement.»
Das neue Innovation-Center wurde diesen Juni eröffnet; 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entwickeln darin neue Duftstoffe für Parfums sowie Aromen für Lebensmittel aller Art: Schokolade, Kaugummis, Brot- und Fleischwaren, Milchprodukte und Glacen. Givaudan belebt so das Areal und stellt den Hauptharst an Kunden für das neue Restaurant «The Valley». Das Innovation-Center, welches das Fabrikareal nach Süden abschliesst, ist aber auch architektonisch eine feine Leistung.
Weil das ehemalige Maggi-Areal als Ganzes schützenswert ist, arbeiteten die Planer von Beginn weg eng mit der kantonalen Denkmalpflege zusammen: Die Stützmauer unter dem höher gelegenen Parkplatz ist strukturiert, um den stimmigen Gesamteindruck entlang der Hauptachse des Areals zu erhalten. Mit der Hülle aus Klinkersteinen nimmt das Innovation-Center auch die Bauweise des Areals auf, mit einem «Knick» im Eingangsbereich folgt es dem Richtungswechsel der Kempt.
Forschung ist Teamarbeit. Im Inneren sollen daher durchdachte Architektur und einige Details die Mitarbeiter zur Zusammenarbeit anregen, erklärt Markus Gautschi. Die Kaffeemaschinen stünden zum Beispiel nur an zentralen Orten rund um die hohen, hellen Gemeinschaftsräume. «Die Leute sollen zu den Labors und Büros herauskommen und hier ihren Kaffee gemeinsam trinken», sagt Gautschi. Die Transparenz geht in beide Richtungen: Die Labors und Testkammern sind verglast, die Forschung wird so nicht vor Besuchern versteckt, sondern präsentiert.
Im Gebäude selbst riecht es neutral. 160 000 Kubikmeter Frischluft müssen dafür stündlich zugeführt werden – bei Givaudan ist sie geschäftsrelevant. «Die Nase ist ein zentrales Instrument in unserer Forschung», sagt Gautschi. Die Luft wird in einem Turm weit ausserhalb angesogen und durchs Erdreich geführt – was sie im Winter wärmt und im Sommer kühlt. Ganze 72 Erdsonden, die jeweils über 300 Meter in die Tiefe reichen, versorgen das Gebäude mit Wärme, was dem Gebäude das US-Nachhaltigkeitslabel Leed eingebracht hat.
Ab Ende August richtet sich Givaudan zudem in einem Bürohaus mit weiteren 200 Mitarbeitern ein, die derzeit noch in provisorischen Büros arbeiten. Dafür wurde just das Gebäude ausgebaut und aufgestockt, wo früher die Suppenwürfel konfektioniert und eingepackt wurden. Der Innenausbau war knifflig, wie Markus Gautschi erläutert. Zwischengeschosse, schützenswerte pilzförmige Säulen in den Hallen oder auch Vorgaben zum Erdbebenschutz schränkten den Gestaltungsspielraum ein; meist fanden die Architekten aber kreative Lösungen.
Die von Bouillon geprägte Vergangenheit riecht man im Übrigen nicht mehr – anders als in einigen anderen Gebäuden, die noch nicht ausgebaut worden sind, wo die Nase zumindest einen Hauch der Vergangenheit ausmachen kann.
Das Schwungrad in Gang bringen
Das gesamte Maggi-Areal war, wie viele andere Industriegelände, für die Öffentlichkeit früher nicht zugänglich; eine vergitterte, verbotene Stadt. Auch das wird sich ändern, die Gitter sind bereits abgebaut und das Gelände ist tagsüber frei zugänglich. Allerdings trifft man derzeit noch auf manche Baustelle. Nachdem seit den 1990er Jahren kein Gebäude mehr erstellt worden war, ging es zuletzt Schlag auf Schlag: Nach den beiden Gebäuden für Givaudan soll bis Ende Jahr das Restaurant deutlich erweitert werden. Auch die neue Rooftop-Bar auf dem alten Silogebäude soll vor Jahresende eröffnet werden.
Im zweiten Quartal 2020 zieht dann die Motorworld Group ein: Das deutsche Unternehmen, das nebst Mettler2Invest ebenfalls zur Hälfte am Areal beteiligt ist, wird eine grosse Halle zum Showroom für Oldtimer umwandeln, darum herum sind Tagungsräume geplant. Laut Gehrig sollen gezielt auch zugewandte Betriebe angelockt werden: Ein Sattler für die Lederbezüge etwa oder Startups, die an neuartigen Mobilitätslösungen forschen. «Mit dem Wachstum auf dem Areal verhält es sich wie mit einem Schwungrad: Es beschleunigt von selbst», sagt Gehrig.
Bis das ehemalige Maggi-Areal als «The Valley» in voller Blüte steht, wird es nach den Plänen der Entwickler fünf bis zehn Jahre dauern. Mikula Gehrig muss dafür vor allem ein Henne-Ei-Problem lösen: Arbeitgeber ziehen hierher, wenn es Restaurants oder ein Fitnesscenter für ihre Mitarbeiter gibt. Fitnesscenter-Betreiber brauchen hingegen eine Mindestzahl an Arbeitnehmern, um profitabel zu arbeiten. Man müsse eben schrittweise vorgehen, sagt der Entwickler.
Nebst dem neu eröffneten Restaurant und der Bar wird bis Ende Jahr auch ein Postschalter eingerichtet. Die Ansiedlung von zwei Lebensmittelläden sei auf gutem Wege, mit verschiedenen Fitnesscenter-Betreiber sei man im Gespräch. Nebst Givaudan sind auch die Axa, das IT-Unternehmen Axept und das Kantonsspital Winterthur auf dem Areal eingemietet, zudem haben sich mehrere Bauleitungen angesiedelt. Startups stellen Schokolade, Mozzarella oder Tirggelschnaps her und halten so den historischen Bezug zur Nahrungsmittelindustrie aufrecht.
Lage, Lage, Lage
Eine zweite Herausforderung ist die Verkehrserschliessung. Kemptthal ist zugleich peripher und sehr zentral gelegen: Hier trifft sich so viel Verkehr wie wohl nirgendwo sonst in der Schweiz. Das Gelände wird von der A 1, einer Kantonsstrasse und der betriebsamsten zweigleisigen Zugstrecke des Landes umschlossen und liegt überdies unter der Anflugschneise des Flughafens. Dennoch schaffen die nahen Wälder auf beiden Seiten eine angenehme Ruhe: Wer aus den Givaudan-Labors in die Ferne blickt, sieht fast nur Wiesen und Wälder. Die teilweise Renaturierung der Kempt trägt viel bei zum Eindruck, «im Grünen» zu arbeiten. Viele Mitarbeiter setzten sich mittags mit ihrem Sandwich an den Fluss, sagt Markus Gautschi. Weil es auf dem Fabrikgelände keine Wohnungen gibt, kommt schon fast Campus-Atmosphäre auf.
Doch im Büromarkt geht meist die Lage über alles – kann Kemptthal da mit den grossen Zentren mithalten? Über die A 1 ist man hervorragend ans Strassennetz angebunden, doch die Autobahn ist stauanfällig, besonders für Pendler, die zu Stosszeiten den Gubrist und die Nordumfahrung befahren. Der Bahnhof Kemptthal wird halbstündlich von der S-Bahn angefahren: Von Winterthur her ideal und nahe, nach Zürich dauert es etwas länger, weil die S7 einen Umweg über Bassersdorf und Kloten nimmt.
Für die Zugpendler müssten die SBB den Bahnhof sicherlich, mit Blick auf die Kreuzspinnen in der dunklen Unterführung, in ein freundlicheres Eingangstor ausbauen. Das Behindertengleichstellungsgesetz wird ein Treiber sein: Bis 2023 müssten alle Haltestellen im Land behindertengerecht ausgebaut werden; in Kemptthal wird es bis etwa 2025 so weit sein, doch dürfte der Bahnhof dabei auch eine Auffrischung erfahren. Laut Gehrig steht man mit den SBB diesbezüglich bereits im Austausch. Die Sanierung des Bahnhofs komme dann nicht nur dem «Valley», sondern auch den umliegenden Dörfern zugute.
Kemptthal ist als Arbeitsplatzgebiet im kantonalen Richtplan eingetragen. Wenn hier dereinst 2000 Personen arbeiten, muss es auch im Interesse des Kantons liegen, dass viele in den Zug statt ins Auto steigen. Einen Viertelstundentakt mit der S-Bahn wird es aber auf lange Zeit nicht geben – der zweigleisige Abschnitt zwischen Effretikon und Winterthur verträgt keinen Mehrverkehr. Erst der parallel verlaufende, auf 2035 hin vorgesehene Brüttener Tunnel würde Spielraum schaffen; doch derart weit in die Zukunft denkt kein Arbeitgeber, der heute Büros für seine Mitarbeiter sucht. Mikula Gehrig sagt, dass im öffentlichen Verkehr bereits mit einem dichteren Busangebot zwischen Winterthur und Effretikon einiges machbar wäre.
Auf dem Zürcher Büromarkt ist noch immer ein harter Verdrängungswettkampf in Gang. Auch gut erschlossene städtische Standorte kämpfen um Mieter. Doch Gehrig zeigt sich zufrieden mit dem Belegungsstand; gegen die Hälfte der Flächen sei schon vermietet, der Ausbau der einzelnen Gebäude werde rollend vorangetrieben, sobald dafür genug Mieter gefunden seien.
Mettler2Invest setzt bei der Vermietung auf die reiche Geschichte seines Areals – für einmal wird die Denkmalpflege da zum Verbündeten des Entwicklers. «Wir haben zu grossen Teilen dieselben Ziele: Wir möchten die baulichen Strukturen erhalten und zeigen», sagt Gehrig. «Die Zusammenarbeit mit Ämtern und Behörden ist enorm wichtig. Wer auf eigene Faust drauflosplant, kommt bei einem solchen Areal nicht weit.» Die Substanz der Fabrik- und Lagergebäude sei gut, man brauche also nichts abzureissen, um schöne Büros und Gewerberäume zu erstellen.
Schwieriger sei es bisweilen, die Brandschutzbestimmungen einzuhalten. So wollten die Denkmalpflege und die Entwickler die Stahl- und Gusseisenträger im Gebäudeinneren erhalten und in Szene setzen, was aber punkto Feuerschutz Probleme bereitete. Die Träger wurden nun eingeschalt; für beide Seiten ein gangbarer Kompromiss.
Derzeit liegt der Gestaltungsplan beim Kanton zur Vorprüfung. Mehrere Ämter sind daran beteiligt, weil zum Beispiel auch der Gewässerschutz rund um die Kempt geprüft wird. Klar ist, dass auf dem Maggi-Areal keine Loft-Wohnungen entstehen können. «Eine Mischnutzung würde das Areal beleben, das wurde vom Kanton aber von Beginn weg als schwierig eingestuft», sagt Gehrig. Damit müsse man sich arrangieren. Der Austausch mit den Behörden sei gut, brauche aber naturgemäss seine Zeit. Von der Gemeinde Lindau, zu der Kemptthal gehört, und von der Standortförderung Winterthur komme jedenfalls wichtiger Support.
Zurück in die Stadt
Am Frühabend nimmt der Baustellenverkehr im Areal ab. Es ist ein schöner Sommertag, da fällt das Warten auf die S-Bahn zurück nach Zürich leicht. Die Kempt plätschert gegen den vorbeirauschenden Intercity an, entlang des Feldwegs hinter den Gleisen wächst dichtes, frisch duftendes Buschwerk. Fast möchte man den aufgemalten gelben Rauten folgen und den Weg nach Zürich zu Fuss anpacken. Auf dem Perron am Bahnhof Kemptthal tröpfeln ein paar Mitarbeiter ein, die lieber mit der S7 um 17 Uhr 09 nach Zürich fahren; man hört entspannte Feierabendgespräche, auf Deutsch und Englisch. Wie üblich ist der Wagen bis Bassersdorf erst halb voll. Wenn Mikula Gehrigs Wette aufgeht, wird es hier drin bald bedeutend enger.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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