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Chaotische Strukturen, verstopfte Elendsviertel, schlechte Infrastruktur: Afrikas Megacityswachsen seit 20 Jahren explosionsartig an – Industrialisierung und erhöhte Produktivität bleiben aber aus. Davon hängt die ökologische Zukunft des Planeten ab.

7. September 2019 - Ute Woltron
Die Geschichte der Urbanisierung des Globus gleicht einem Wettrennen. Etwa um das Jahr 1800 überschritt die bis dahin sehr gemächlich wachsende Weltbevölkerung erstmals die Milliardengrenze. Gerade einmal drei Prozent der Menschheit lebten damals in Städten. In den folgenden 200 Jahren stieg die Erdbevölkerung bekanntlich explosionsartig an. Sie beträgt laut UNO derzeit etwa 7,7 Milliarden Menschen, und ebenso explosionsartig erfolgte die Verstädterung. Mittlerweile lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in der Stadt. Tendenz immer noch stark steigend.

Europa hat diese Entwicklung hinter sich und ist damit befasst, alte Strukturen zu optimieren und neue Stadtgebiete behutsam zu implementieren. Die großen Zentren der atemberaubenden Urbanisierung liegen nun in Asien, Südamerika und in Afrika – um genau zu sein im sogenannten Subsahara-Afrika. Der große Unterschied zur europäischen Landflucht und Stadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts besteht in der unvergleichlich größeren Menge an Menschen, die täglich in diese Städte strömt.

Daressalam in Tansania beispielsweise verzeichnete im Jahr 2014 einen Zuzug von durchschnittlich 48 Menschen pro Stunde. In Addis Abeba, Äthiopien, waren es 23, in Lagos, Nigeria, 26. Damit liegt Afrika mit einem städtischen Bevölkerungszuwachs von jährlich 1,06 Prozent nach Asien mit 1,47 Prozent in Sachen Urbanisierung gleich an zweiter Stelle. In Zahlen ausgedrückt bedeutet das, dass sich die Stadtbevölkerung Afrikas in nur zwei Jahrzehnten, zwischen 1995 und 2016, von 236 Millionen auf 500 Millionen mehr als verdoppelt hat. Bis 2040 dürften Studien zufolge jährlich weitere 20 Millionen Stadtbewohner dazukommen.

Glaubt man Wissenschaftlern und Stadtforschern, erleben wir momentan eine zwar immense, doch enden wollende Entwicklung. Für den Ökonomen Nicholas Stern und den Stadtforscher Dimitri Zenghelis, beide von London School of Economics (LSE), ist diese globale Urbanisierung ein „kurzes, in der Menschheitsgeschichte einzigartiges Phänomen“, das sich jedoch in relativ naher Zukunft wieder entschleunigen dürfte. Zugleich ist dieser Moment aber in vielerlei Hinsicht elementar, denn ein kluger, vorausschauender Städtebau wird die ökologische Zukunft des Planeten maßgeblich mitbestimmen. Investitionen in saubere, funktionierende Städte sind einer der Schlüssel dazu, doch die meisten der afrikanischen Megacitys zeigen derzeit gerade auf, wie das Gegenteil davon entsteht.

In Addis Abeba etwa beträgt der Anteil der in informellen Siedlungen lebenden Menschen knapp 70 Prozent, in Luanda, Angola sind es etwa 75 Prozent. Im Schnitt lässt sich sagen, dass etwa zwei Drittel der afrikanischen Stadtbevölkerung in slumartigen Quartieren leben. Während die Urbanisierung in anderen Weltgegenden stets mit Industrialisierungsprozessen und einer Steigerung der Produktivität einherging, lässt dieser Effekt in Afrika derzeit noch auf sich warten, und dafür ist die chaotische Struktur der Städte nicht allein, doch maßgeblich mitverantwortlich. Um einen positiven Kreislauf in Schwung zu bringen, braucht es Dichte, intelligente Verkehrskonzepte, verlässliche Eigentums- und Landnutzungsrechte. In Städten konzentrieren sich Geld, Know-how, Geschwindigkeit. Deshalb ziehen gut organisierte Megastädte Unternehmen und multinationale Konzerne an.

Doch all diese Faktoren sind in den wenigsten Städten Afrikas gegeben. Sie sind vielmehr chaotisch strukturiert und überfüllt. Die Menschen siedeln seit jeher in die Stadt, um Arbeit zu finden. Doch schlechte Verkehrsinfrastrukturen bedeuten auch schlechte Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen für die millionenstarke Arbeitsfront, die an den Stadträndern wohnt. Mangelnde Erschließung und fehlender öffentlicher Nahverkehr zwingen die Bevölkerung zudem dazu, ihre informellen Quartiere auch in der Nähe ihrer Arbeitsplätze aufzuschlagen, was verstopfte, unübersichtliche Elendsviertel in innerstädtischen Lagen zur Folge hat. Zugleich werden die Freiflächen der Stadt oftmals zu wenig genutzt. So blieben bisher mehr als 30 Prozent der zentrumsnahen Flächen beispielsweise von Harare und Maputo unbebaut, weil es keinen funktionierenden Immobilienmarkt, unklare Nutzungs- und Eigentumsrechte und auch keine Anstrengung der Stadtregierungen gibt, das Land sinnvoll zu entwickeln. Anstatt die Städte klug zu erschließen und an richtiger Stelle zu verdichten, entstehen zudem allerorten sogenannte Leap-Frog-Städte, also Siedlungen außerhalb der eigentlichen Stadt, was enorme großflächige Zersiedelung bedeutet.

Institutionen wie etwa die Weltbank sehen in der mangelhaften Erschließung, in der Fragmentierung und den damit verbundenen hohen Lebenshaltungskosten die maßgebliche Bremse für dringend benötigte Investoren. Tatsächlich befinden sich zwei der teuersten Städte für Auslandsentsendungen von Fach- und Führungskräften in Afrika. N'Djamena im Tschad liegt an zehnter, Luanda in Angola gar an erster Stelle.

Eine gut funktionierende Stadt ist von niedrigen Transportkosten, einem dynamischen Arbeitsmarkt, der Ballung von Wissen und Innovation geprägt. Doch das in den vergangenen Jahrzehnten beschleunigte, derzeit wieder gebremste Wachstum der afrikanischen Volkswirtschaften beruht hauptsächlich auf Gewinnung und Export von Rohstoffen. Auch deshalb bleibt der Anteil der verarbeitenden Industrie am BIP im Schnitt bei niedrigen zehn Prozent, wohingegen der Anteil des Dienstleistungssektors fast 60 Prozent beträgt. Der Grund dafür: Die Profiteure der Rohstoffgewinnung konzentrieren sich in den Städten und ziehen Heerscharen unterbezahlter, meist gering qualifizierter Dienstleister an.

Die großen Vorgaben, was eine Stadt funktionieren lässt, sind klar dargelegt. Erstens: Wo Städte über ihre organisatorischen Grenzen weit hinausgewachsen sind, müssen die Stadtgrenzen neu definiert werden, um die Megacitys in ihrer Gesamtheit steuern zu können. Zweitens: Wichtige Entscheidungsinstanzen, die etwa Stadtplanung, Verkehr, Umweltpolitik, Energie steuern, müssen in den Kompetenzbereich der Stadt und nicht des Staates fallen, um effiziente Maßnahmen setzen zu können. Drittens: Städte müssen legislativ in der Lage sein, Geld aufzustellen, um diese Maßnahmen auch umsetzen zu können.

Die Frage, wie sich die Städte Afrikas entwickeln werden, betrifft nicht zuletzt uns alle, denn die ökologische Zukunft des Planeten wird in den Städten entschieden. In Afrikas Megacitys, so meinen die Experten unisono, werden jetzt die Weichen gestellt beziehungsweise sollten sie jetzt gestellt werden. Nicht zuletzt ist der Schutz der Umwelt zu einem vorrangigen Thema geworden. Jeder bangt um den Fortbestand der Regenwälder, um das Überleben der Artenvielfalt und blickt besorgt der Klimaveränderung entgegen. Ein ähnliches Interesse an den Umständen menschlicher Existenz ist nicht zu beobachten, obwohl das eine mit dem anderen Hand in Hand geht.

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