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Apropos: Leistbar leben
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Selbstverwaltete Wohnprojekte einst und heute: Österreichische Wohnbauarchitektur der 1970er, betrachtet aus Nutzersicht, ist Thema des Films „Der Stoff, aus dem Träume sind“. Und welche Projekte entstehen aktuell in diesem Geist? Eine Umschau.

4. Oktober 2019 - Ute Woltron
Auch die Architektur lässt sich aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachten und beurteilen. Die langweiligste Perspektive für Normalsterbliche ist gewöhnlich die der Architekten, denn ihre Sprache wird kaum je verstanden. Wenn von Raumvalenzen, Auskragungen, Interventionen und Anmutungen die Rede ist, steigt der Nichtarchitekt aus, und das ist wohl eines der Kernprobleme dieser edlen Zunft. Architekten und Bauherren reden nicht selten aneinander vorbei, und die späteren Benutzer der Gebäude werden gleich gar nicht gefragt.

Die Filmemacherin Lotte Schreiber und der Architekt Michael Rieper haben nun den Spieß umgedreht und einen Film über Architektur vorgelegt, der vor allem die Perspektive der Bewohner einnimmt. „Der Stoff, aus dem Träume sind“ legt zwar den Fokus auf die Geschichte selbstverwalteter Wohnprojekte, wie sie ab den 1970er-Jahren vereinzelt in Österreich entstanden. Doch die Aussagen der Bewohner von damals und heute lassen sich durchaus auf den zeitgenössischen Wohnbau umlegen, egal, ob privatwirtschaftlich oder kommunal, denn die Bedürfnisse waren und sind grundsätzlich dieselben.

Zuallererst kommt mit dem seinerzeit von der Kollegenschaft belächelten, heute längst wiederentdeckten Harry Glück doch ein Architekt zu Wort, damals noch in jugendlicher Vitalität. Sein großdimensioniertes Projekt „Wohnpark Alterlaa“ verfolgte das Konzept des „gestapelten Einfamilienhauses“, und das zur großen Zufriedenheit seiner Bewohner. Glücks 40 Jahre alte Analyse zum Wohnbau klingt keineswegs veraltet: „Wir sind zur Überzeugung gekommen, dass diese monotonen und kasernenhaft wirkenden Wohnstrukturen von den Leuten zwar angenommen werden, weil sie keine andere Möglichkeit haben, eine Wohnung zu finden, dass die Menschen diese eher kasernenhaften Strukturen aber bewusst oder unbewusst als degradierend empfinden.“

Das Stichwort „Möglichkeit“ gibt fortan den Ton oder besser den Film an. Ab den 1970ern fanden sich immer wieder Leute zusammen, die gemeinschaftlich geplante, finanzierte und verwaltete Alternativen zu den anonymen Blockverbauungen in Angriff nahmen. Die Gründe dafür waren Unzufriedenheit mit dem Wohnungsmarkt und die Schwierigkeit, sich ansprechenden Wohnraum leisten zu können. Es entstanden, nicht ohne basisdemokratische Mühen, kollektiv geplante und finanzierte Wohnhausanlagen wie etwa das „Projekt Kooperatives Wohnen in Raaba“ und die zwischenzeitlich zu einem Wahrzeichen der Stadt Graz gereifte „Terrassenhaussiedlung“. Der Film überwindet die Zeitsprünge mit einem charmanten Mix aus Super-8-Format von damals und aktuellen Aufnahmen der Veteranen und in den Projekten aufgewachsenen Nachkommen. Zu sehen sind etwa Archivfilme mit bärtigen jungen Männern, die in Schlaghosen Baugruben abschreiten, mit tatkräftig schaufelnden Frauen und jeder Menge Kindern, die mit Begeisterung in der Erde wühlen. Es weht der Geist der Post-Hippie-Ära, und der ist nicht verflogen, er hat sich lediglich modernisiert, wie historische und aktuelle Interviews mit Initiatoren, Planern und Bewohnern der vorgestellten Projekte unter Beweis stellen.

All diesen Wohnanlagen ist eines gemeinsam: Nicht das Formale, möglicherweise architektonisch Schöne steht im Vordergrund, sondern die individualisierte, auf die Bedürfnisse der Bewohnerschaft zugeschnittene Wohnform mit Gärtchen, begrünten Balkonen und vielen gemeinschaftlich genutzten Flächen, in denen Kinder in einer geregelten Freiheit aufwachsen können, wie es sie heute nicht einmal mehr im Dorf gibt. Das gewaltigste der vorgestellten Projekte ist und bleibt die Terrassenhaussiedlung der Werkgruppe Graz, deren Verwirklichung mit 531 Wohneinheiten und 24 unterschiedlichen Wohnungstypen wahrlich eine Mammutoperation gewesen sein muss.

Es stellt sich die Frage, ob ein ähnliches Projekt unter heutigen Bedingungen, den teils absurd verschärften Normen und den nicht zuletzt dadurch explodierenden Baukosten, realisierbar wäre. Einen gut durchdachten Versuch unternahmen die Architekten Katharina Bayer und Markus Zilker, alias „Einszueins Architektur“, mit ihrem 2013 fertiggestellten „Wohnprojekt Wien“ auf dem Nordbahnhofgelände. Das vielfach ausgezeichnete Niedrigenergiehaus mit 40 Wohneinheiten wird von den Einwohnern selbst verwaltet und besticht durch ein ausgeklügeltes System von Gemeinschaftsflächen wie Mehrzwecksaal, Werkstätten, Musikraum, Gemeinschaftsbibliothek, Gemüsegärten, Carsharing. Ein solches Projekt zu stemmen bedeutet unendlich viele Debatten, drei Jahre Planungszeit, Kompromisse und gewolltes soziales Miteinander, und das ist nicht jedermanns Sache. Auch die Verpflichtung, allmonatlich eine bestimmte Stundenanzahl in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, würde wohl nicht jeder eingehen wollen.

Dennoch tragen all die im „Stoff, aus dem Träume sind“ gezeigten Architekturen eine Botschaft in sich, die allgemeingültig ist: Wir brauchen neben unseren individuellen privaten Wohnungsrefugien dringend auch die räumliche Möglichkeit zusammenzukommen und zu kommunizieren. Dass in manchem kollektiven Wohnprojekt allerdings noch weitere, durchaus politische Dimensionen stecken, demonstrierte eine Gruppe junger Linzer, denen es gelang, ein in Deutschland bereits seit Jahren erprobtes, nachgerade subversives Modell in die österreichische Gesetzes- und Vorschriftslandschaft zu übertragen.

Im Fall des bestehenden 1930er-Jahre-Wohnhauses „Willy*Fred“ geht es um mehr als die gelebte Gemeinschaft, Leistbarkeit und Autonomie. Mittels Crowdfunding und privater Kredite konnten die Eigenmittel für die Bewilligung eines gemeinsamen Kredits aufgebracht werden. Mit 6,35 Euro Miete pro Quadratmeter wird das Haus rückfinanziert. Doch auch wenn der Kredit dereinst Geschichte sein wird, so werden die Mietzahlungen weiterlaufen und in einen Topf für weitere autonom verwaltete Gebäude einbezahlt werden. Als Solidaritätsbeitrag in ein wachsendes System, das sich gegen die sogenannte „Verwertungsspirale“ von Immobilien stemmt. Diese Häuser stehen fürderhin nicht mehr zum Verkauf, sie sind dem Immobilienmarkt bewusst entzogen.

„In Wirklichkeit“, sagt Architekt Markus Zilker von „Einszueins Architektur“, „geht es um leistbares Leben, nicht nur um leistbare Architektur.“ Wie es sich über Jahrzehnte in diesen Projekten lebt, was man daraus gelernt hat, wie groß die Zufriedenheit derjenigen ist, die für solche Wohnformen geeignet sind, all das zeigt Schreibers und Riepers Film auf. Er gibt jedoch auch viele Denkanstöße, die dem zeitgenössischen Wohnungsbau mit all seinen in jeder Hinsicht viel zu eng gewordenen Normen und Grenzen gut tun würden.

[ Am 11. Oktober feiert „Der Stoff, aus dem Träume sind“ Premiere auf dem Filmfestival Rotterdam. Weitere Termine unter www. derstoff.at. Auch „Urbanize!“, das „Internationale Festival für urbane Erkundungen“ in Wien (9. bis 13. Oktober), ist heuer dem Thema Wohnen gewidmet (www.urbanize.at). ]

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