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Gute Bausünden gesucht
Der Standard

Nicht nur gut gemachte Architektur fasziniert die Menschen, sondern auch weniger gelungene. Eine deutsche Architekturhistorikerin ist seit 18 Jahren auf der Suche nach den besten Bausünden.

9. November 2019 - Franziska Zoidl
W enn die deutsche Architekturhistorikerin Turit Fröbe in einer neuen Stadt ist, ist sie am liebsten mit ihrem Klapprad unterwegs. Besonders gern kurvt sie durch Einfamilienhaussiedlungen. Schmucke Vorgärten und geschmackvolle Fassaden lassen sie dabei kalt. Fröbe interessiert das für das Auge weniger Angenehme: die Bausünde. „Je hässlicher, desto mehr freue ich mich“, sagt sie. Mittlerweile weiß sie nach wenigen Minuten in einer fremden Stadt, ob sie eine Bausünde finden wird oder nicht.

Seit 18 Jahren lichtet Fröbe weniger gelungene Architektur ab. Heuer erschien ihr Kalender 366 Bausünden zum Abreißen beim Dumont-Verlag zum dritten Mal. Die Idee dahinter: Im kommenden Jahr kann so jeden Tag eine Bausünde abgerissen werden. An hohen Feiertagen sind es Kirchen, am Wochenende Eigenheime, zum Sommeranfang eine Eisdiele und zu Allerheiligen ein Bestattungsinstitut. Alles metaphorisch, versteht sich: Denn dass als wuchtige Ritterburgen getarnte Einfamilienhäuser hinter überdimensionalen Gabionenzäunen wirklich dem Erdboden gleichgemacht werden, will Fröbe nicht. Ganz im Gegenteil: „Gute Bausünden sollte man schützen.“

Diese sind allerdings schwer zu finden. Eine gute Bausünde habe einen hohen Wiedererkennungswert, sie erfordere Mut und Gestaltungswillen. Und es müsse sich dabei um ein Unikat handeln: Die Bausünde könne genau so nur in dieser einen Stadt an diesem einen Ort stehen.

Oftmals handle es sich dabei um eigentlich gute Architektur, die aus der Mode gekommen ist. Schlechte Bausünden seien im Unterschied dazu austauschbar. „Daran rutscht das Auge ab“, sagt Fröbe. Sie kritisiert: „Schlechte Bausünden machen die Städte zu Einheitsbrei.“

Bausünden in Österreich

Auf der Suche nach diesen guten Bausünden ist Fröbe hauptsächlich in Deutschland unterwegs, aber auch in Österreich wurde sie schon fündig. Und Bausünden gibt es keineswegs nur in Einfamilienhaussiedlungen. Aber in Innenstädten lehne man sich heute architektonisch nicht mehr so weit aus dem Fenster, kritisiert Fröbe. Und wo der Mut zu guter Architektur fehlt, gebe es auch weniger architektonisch Missglücktes.

Darum ist Fröbe gern in Einfamilienhaussiedlungen unterwegs. Dort würden sich die Bauherren und -frauen immer noch selbst verwirklichen. Träume und Wohnwünsche ließen sich an den Fassaden der Häuser ablesen. Man erkenne, wo das Haus eigentlich stehen sollte oder welche Hobbys der Besitzer hat.

Bausünden, so erklärt die Architekturhistorikerin, treten meist in Nestern auf. „Nachbarn spornen sich da gegenseitig an. Wenn jemand in Berlin seine Träume an die Fassade hängt, wird der Nachbar antworten.“

Die Expertin bemerkt auch große regionale Unterschiede. „Das Saarland ist ein ganz bausündenstarkes Land“, sagt sie. Das führt sie darauf zurück, dass es sich um eine Häuslbauerregion handelt. Baden-Württemberg, eigentlich ebenso eine Häuslbauerregion, sei dafür, was Bausünden angeht, enttäuschend. Auch dort war Fröbe schon mit Kamera und Klapprad unterwegs. „Aber ich musste mit der Lupe nach Bausünden suchen.“ Auch die Mode verändere sich dabei. Früher manifestierte sich die Bausünde eher bei der Fassadengestaltung. Heute stößt Fröbe besonders oft im Garten darauf. „Ich habe ein echtes Problem mit Schottergärten“, sagt sie. Gleich mehrere davon finden sich im Abrisskalender. Schrecklich sind für Fröbe auch Instant-Zäune mit Fototapeten. Das sind Gartenzäune, auf denen keine Pflanzen ranken, dafür aber ein Fotomotiv – besonders häufig Steine oder Efeu. „Da hört es sich bei mir tatsächlich auf“, sagt sie.

Den Gestaltungswillen hinter einer solchen Freiraumgestaltung findet sie dennoch faszinierend. Und sie betont auch, dass die Eigenheime, die Architekten den Angstschweiß auf die Stirn treiben, liebevoll gestaltet sind – und nicht aus Böswilligkeit so aussehen. Überhaupt will Fröbe dazu aufrufen, sich nicht über bereits gebaute Bausünden zu ärgern. „Aber wir sollten alle Energie hineinstecken, zu verhindern, was sich noch verhindern lässt.“

Daher plädiert die Expertin für baukulturelle Bildung, damit die Menschen wieder einen Blick für Architektur entwickeln. Das lasse sich an einer Bausünde besonders gut üben, weil man sich dabei mehr traue.

Die, die in diesen Häusern wohnen, würde man damit aber nicht erreichen. Mit einer Ausnahme: Unter einem von Fröbes Büchern findet sich auf Amazon eine Rezension eines Hausbesitzers, der sein Zuhause entdeckt hat, erzählt Fröbe: „Er hat sich mein Buch gekauft und kam zu dem Schluss, dass er stolz darauf ist.“

[ Turit Fröbe, „Der Abrisskalender 2020. 366 Bausünden zum Abreißen“. Dumont-Buchverlag ]

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