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Her mit der Schönheit!
Gab es einst nicht schöne Scheunen? Was wäre, wenn wir der Schallschutzwand, der Busgarage und dem Lagerhaus dieselbe Sorgfalt widmeten wie dem Schauspielhaus? Ein Aufruf zu mehr Schönheit im Leben und im Alltag.
15. Februar 2020 - Roland Gnaiger
Als er sich endlich bewegte,
blitzte hinter den weit entfernten Gebirgsketten die Sonne hervor
und übergoss die Gipfel mit ihrem Licht, so weich und schön,
dass er hätte lachen können vor reinem Glück.
Robert Seethaler
Schönheit will gefühlt, nicht verstanden werden. Ich nähre mich von Schönem. Es inspiriert meine Arbeit, überlistet mein mangelhaftes Gedächtnis, hegt meinen Gleichmut und lichtet meine Gestimmtheit. Eine vor vierzig Jahren auf Kreta gesehene Vase ist in mir lebendig, als hätte ich sie gestern gesehen, laufe ich an einem liebevoll gepflegten Garten entlang, wird mein Schritt leicht und beschwingt. Trete ich am Ende eines aufreibenden Tages vor mein Haus, um in den sternenklaren Himmel zu sehen, beruhigt und erhellt sich mein Gemüt. Dabei sind mein kunsthistorisches und mein biologisches Wissen dürftig und endet mein astronomisches Verständnis bei „unvorstellbar weit und alt“. Schönheit verändert mich: Im Hof von Haus R oder unter der Kuppel von B breitet sich in mir eine freudvolle Erregung aus. Taucht das einmalige Licht eines jener goldenen Herbsttage die Wälder und Abhänge in diese unvergleichliche Buntheit, dann werden die Grenzen zwischen mir und der Welt durchlässig und unbestimmbar. Schaffe ich bei einem Entwurf den „Durchbruch“, dann senkt mich Beglücktheit in den Sessel.
Botho Strauß kommt mit seiner Feststellung „Das Hässliche ist erklärbar, das Schöne nicht“ der Sache schon sehr nahe. Je näher man der Schönheit mit Begriffen tritt, umso entschiedener weicht sie zurück. Wir alle kennen sie als Erfahrung, aber Erklärungen scheint sie zu fliehen. Überraschen muss das nicht. Ob in der Musik, im Blick auf eine Blume, im Öffnen eines Buches, beim Überqueren eines Platzes, dem Griff nach einem Apfel, am Ende eines Gesprächs, angesichts einer klug konstruierten Brücke, der Formulierung einer Mathematikformel oder eines erhellenden Gedankens – die Ereignisse, Anlässe, Auslöser und Formen unserer Schönheitserfahrung könnten verschiedener nicht sein. Es gibt schöne Dinge, Gedanken und Ereignisse, aber „die“ Schönheit gibt es nicht. Schönheit ist in ihrer Größe, Vielfalt und Vielschichtigkeit undefinierbar. Sie will erlebt und gefühlt, nicht verstanden werden. Darin gleicht sie der Freundschaft, der Liebe, der Kunst, der Intuition, der Weisheit und anderen großen Dingen.
Der Umstand, dass Schönheit undefinierbar ist, dass sie in unterschiedlichen Feldern anzutreffen ist und zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichsten Kleidern erscheint, dass sie individuell erlebt werden muss, Vermittlerdienste ablehnt und jeden Kanon flieht, dass sie sich nur zögerlich preisgibt und auch noch Ansprüche an unser Wahrnehmen stellt, bedeutet nicht, dass sie beliebig und nur subjektiv ist und auf billige Weise relativierbar wäre. Wir vermögen sehr wohl zu gewissen Fragen ihrer Qualität ein hohes Maß an Einigkeit zu erzielen, auch Übereinstimmungen, die Zeiten überdauern.
Doch selbst ohne Aussicht, über Schönheit etwas unverrückbar Gültiges zu sagen – die Befassung mit Schönheit ist weit mehr als eine geistige Überlebensfrage. Als solche bedarf sie im Angesicht einer überbordenden, allgegenwärtigen Hässlichkeit und einer bedrohten Welt eines neuen Impulses.
Der Verrat an der Schönheit. Es scheint Kulturen und Epochen gegeben zu haben, in denen Schönheit den Erzeugnissen und Äußerungen des Alltags auf eine Weise immanent war, dass sie keiner ausdrücklichen Erörterung bedurfte. Spätestens mit der Antike lässt sich ein dezidiertes Nachdenken über das Schöne, sein Wesen, seine Voraussetzungen und Wirkungen verfolgen. An welcher Stelle sich diese Reflexion verläuft, ist weniger wichtig als der Umstand, dass sich Schönheit als Anliegen, Berufung und Bildungsauftrag bis heute verflüchtigt hat. Selbst Bildungsinstitutionen waren daran beteiligt, die ästhetische Schulung und ein reflektierendes Sensorium für Schönes ins Abseits zu drängen.
Noch in meiner Kindheit zählte neben dem Inhalt die „äußere Form der Arbeit“ zu den Beurteilungskriterien einer Schularbeit. Ob diese Formulierung glücklich war, sei dahingestellt. Immerhin, sie belegt eine themenaffine Ausrichtung und Haltung. Irgendwann ist „Schönschreiben“ zum Unwort geworden, und so hat auch die Sache selbst abgedankt. Das Wesen der Formgebung: hinwenden, eindringen, Ordnungen und Beziehungen herstellen und in die Wirklichkeit transformieren verlor an Bedeutung. Schritt um Schritt kam dem Prozess der Herstellung jene Aufmerksamkeit abhanden, die im selben Maß die Resultate gewannen.
Der Bedeutungsverlust des Schönen hinterließ kein Vakuum, sondern ein Diktat von Form und Schönheit. Mit kräftiger Unterstützung der Werbewirtschaft und einer nie gekannten medialen Macht haben sich Konsumtreiber der Definitionsgewalt bemächtigt: „Schön ist, was makellos, glatt, schlank und vor allem jung ist!“ Diese „Schönheit“ verpflichtet uns auf das Perfekte, Dynamische und ewig Jugendliche. Gehalt- und Bedeutungsverlust kompensiert sie mit Lautem, Schrillem und Exaltiertem, mit sündhaft Teurem und kultisch Überhöhtem oder, dem Wechsel zuliebe, mit Schäbigem, Lumpigem und Ausgefranstem. Erheischte Aufmerksamkeit und Kurzlebigkeit sind die bestimmenden Konstanten einer solcherart deklarierten „Schönheit“. Auch in Moderne und Vormoderne hat es postulierte Stile und Schönheitsideale gegeben, immerhin haben deren Vertreter (mitunter mit quasireligiösem Eifer) selbst an diese geglaubt. Heute glaubt und folgt nur der verführte, anhaltend um echte Erfahrungen betrogene Konsument.
Mode ist der postmoderne Maßstab. Nichts ist ihr dienlicher als Orientierungslosigkeit und die um Verwirrung bemühte Schlagzahl des fortwährend Neuen. Gründlich von den Gesetzen des Visuellen dominiert, wird die Welt gemäß diesen Verhältnissen durchdesignt. Die solcherart herbeibeschworene „Schönheit“ erhebt den Anspruch, eine universelle Schönheit zu sein, eine global gültige, eine, die sich nicht um Umstände und Bedingungen und um keine sozialen, kulturellen und geschichtlichen Verhältnisse zu kümmern hat, die befreit ist von Inhalten, Verantwortung und Verpflichtung.
Schönheit ist kein Kriterium der Kunst, sondern des Lebens. Hat Schönheit eine Vertretung, eine Lobby? Wessen Anliegen sollte Schönheit sein? Wer ist ihr verpflichtet? Wer ist es, der ihr seine Stimme leiht?
Wann immer sich eine Veranstaltung oder ein Medium der Schönheit widmet – somit selten genug –, lädt man Künstler oder Theoretiker der Kunst zu Wort. Meist mit dem Ergebnis, dass sie keinen Unterschied machen zwischen ihrer Kunst und unser aller Leben. Welch ein Missverständnis! Auch wenn mancher Schöngeist sich das so wünscht: Die Kunst ist nicht die Repräsentantin der Schönheit. Man stelle sich Shakespeare vor oder die altgriechische Tragödie ohne Verleumdung, ohne hässliche Bosheit und abscheulichen Mord. Oder einen Kubin ohne Düsternis, einen Hieronymus Bosch ohne seine Fratzen. Der Kunst gehört das gesamte Spektrum der Ausdrucksmittel. Das heißt nicht, dass Kunst nicht Schönes schaffen dürfe und in vielen Fällen auch tut. Doch nicht die Kunst ist der Schönheit verpflichtet, sondern der Alltag. Die Verantwortung für Schönheit an die Kunst zu delegieren wäre so, als würden wir die Zuständigkeit für Ethik bei den Vertretern der Kirche belassen. In der Gestaltung unseres Lebensumfelds ist Hässlichkeit kein Ausdrucksmittel, sondern Ausdruck mangelnder Verbundenheit mit der Welt, von Unvermögen und Versagen oder Ignoranz.
Die Verantwortung für Schönes muss in die Hände von Baumeistern und Bauherren gelegt werden. Die Tapezierer, die Schreiner und Schlosser, die Kleidermacher, auch die Bäcker, die Grafiker, alle Möbelbauer und Raumgestalter, die Haushälter . . ., natürlich die Möbelhäuser und Baumärkte auch, alle sind wir der Kultur und der Schönheit verpflichtet. Für Schönheit sind Architekten, Städte- und Straßenbauer, die Kommunalpolitiker, auch die Gärtner und die Wirte verantwortlich. Stellen Sie sich Landwirte nicht als Wüteriche gegen das Schöne vor, Bauern, die nicht jeden Hain, jeden Baum und Strauch, jedes Blühen einer Hecke ihrer monogrünen Wüste opfern, die sich vom Druck befreien, jeden Bach zu begradigen, jede Mulde einzuebnen und jeden Weg zu planieren. Denken Sie an Landgestalter, die unsere Sehnsucht nach bunten Wiesen nicht ins Gebirge – und bei der Zuständigkeit für blühende Bäume und Sträucher nicht an die Städte verweisen.
Wie wäre es, wenn Investoren, wenn auch alle Reichen zu Wortführern des Schönen würden, wenn sie nur noch schüfen, was wieder Sinn, Wert und Dauer verspricht? Gab es einst nicht schöne Scheunen? Was wäre, wenn wir der Schallschutzwand, der Busgarage und dem Lagerhaus dieselbe Sorgfalt widmeten wie dem Schauspielhaus? Schönheit jenseits von Kunstsinn, Luxus und Reichtum! Statt zur Kunst gehört die Schönheit der Lebenskunst, sie gehört in den Alltag und in unser Leben.
Das Schöne ist Frucht, nicht Ziel unserer Arbeit. Vor zwanzig Jahren habe ich formuliert: „Kunst ist besser das Ergebnis der Arbeit als der Anfang der Diskussion.“ Daran hat sich nichts geändert, und doch würde ich heute sagen: Das Schöne ist besser die Frucht als das Ziel unserer Arbeit. Denn die Geschichte warnt uns vor dem Erschlaffen im Formalismus, vor seinen Ausschweifungen und dem in Dekadenz und Wahn gekippten ästhetischen Exzess. Und wir wissen um eine Ästhetik, die sich der Abwesenheit alles Lebendigen verdankt.
Noch bleiben wir bei der Herstellung von Schönem und nicht bei ihrem Erleben. Schönheit als Ertrag menschlichen Tuns bedingt Arbeit, mitunter auch Anstrengung.
Der Verzicht auf Absicht und Ziel macht den Blick für die Prozesse und die Bedingungen frei, denen Schönheit allenfalls erwächst:
– der Fähigkeit zu Konzentration, Gründlichkeit und Ruhe;
– einer Sorgfalt, die mit der Liebe zum Detail verbunden ist;
– dem Zugang zum Zauber und der Schönheit, die im Tun selber liegt;
– genauem Fragen und einem Gehör für die den Fragen einwohnenden Antworten, gepaart mit einer wachen Aufmerksamkeit, dem Sensorium für die zarte und noch vage Spur einer Lösung;
– dem Gleichmut gegenüber dem Zweifel, einer unerschütterlichen, durch Leer- und Irrläufe, Hindernisse, Fehler und Rückschläge nicht zu entmutigenden Verfasstheit;
– einem von entfernten Themen und Problemen nicht restlos besetzten und beschwerten, somit einem der Konzentration fähigen Geist;
– einer von Vorurteilen freien Haltung, damit auch einem guten Verhältnis zwischen dem gesicherten Wissen und einer überraschend neuen Antwort;
– ausreichend Zeit, der Geduld und der Bereitschaft, etwas liegen zu lassen – um ein Thema erst nach Tagen, mitunter Wochen wieder aufzugreifen –, denn damit bekommt das Speicherbewusstsein den ihm gebührenden Raum und wachsen die Erfahrung und das Vertrauen, dass einem „die Lösung“ mitunter von selbst entgegentritt.
Doch ist all das noch nicht genug, denn ohne Übung, Erfahrung und Wissen werden weder die Intuition noch die Formintelligenz genährt und ertüchtigt: Ja, es gibt den schnellen Wurf und ein eruptives Erzeugen. Allerdings ist die ausdauernde Übung den mühelos und leicht hingeworfenen Skizzen Rembrandts, der japanischen Kalligrafie oder Picassos so schnellen wie genialen Pinselstrichen lange vorausgegangen. Unerschütterliches Urteil und Meisterschaft entspringen einem vielfach wiederholten Tun, einer substanziellen Ausrichtung und redlichen Absicht, der Vertrautheit mit dem Material (ob Holz, Sprache oder Nahrungsmittel), dem Wissen um dessen Charakter und dem intimen Verhältnis zum Werkzeug (ob Hobel, Küchenmesser oder Musikinstrument). Ebenso unabdingbar sind Kenntnis über Wandlungsprozesse durch Alterung und Gebrauch, das Wissen um die Möglichkeiten und Grenzen der Herstellungsprozesse und bei Gegenständen der Handhabe das persönliche und konkrete Verhältnis zu deren Anwendung und Funktion.
Gestaltungsarbeit ist auch die Arbeit an den eigenen Motiven, Zielen, an der eigenen Philosophie, Moral und dem persönlichen Weltverständnis. Schönheit erwächst der Nähe und Verbindung mit den Dingen, sie „gehört“ den Genießern. Dort, wo unsere Interessen liegen, der Focus unserer Aufmerksamkeit und Begeisterung, dort liegt das Schöne am nächsten.
Schönheitserfahrung darf nicht zu romantisierten Rückschlüssen bezüglich des Entstehens schöner Dinge verführen. Ist die erlebte Schönheit auch ein Ausfluss des Gefühls, so entspringen schöne Dinge selten allein dem Gefühl, erst recht nicht dessen Überschwang. Zur Herstellung des Schönen gehört das schwebende, schweifende, assoziierende und empfangende Denken und strukturierte, analytische Gedanken. Intuition hilft dem Denken auf die Sprünge. Klar gefasste Gedanken und Fragestellungen nähren die Eingebung. Am Schluss gewinnt das gelungene, das „schöne“ Ergebnis Leichtigkeit und lässt die Aspekte, Schritte und die Mühen des Weges vergessen.
Schönheit ist nicht objektiv, darin liegt ihre Stärke. Wir vermögen den Dingen und Ereignissen nicht anders als über unsere individuellen Sinne zu begegnen. Egal, ob eine Stadt, ein Einkaufszentrum, eine Wanderung, ein Buch oder ein Musikstück, noch kaum je haben zwei Menschen ein und dieselbe Sache in derselben Weise erlebt. Schönheit ist subjektiv, weil wir sie ausschließlich als Subjekte wahrnehmen.
Wie beliebig unser Bewerten, wie konditioniert und fremdbestimmt oder ungetrübt und eigenständig hängt vom Grad unserer Bewusstheit und Bildung ab.
Auch in ästhetischen Fragen befindet Bildung über den Horizont unserer Wahrnehmung und das Niveau unserer Urteilsfähigkeit. Die echte ästhetische Bildung pflanzt nicht Überzeugungen und fremde Werte ein, sondern stellt Urteile in einen lebendigen Wechsel von Fühlen und Denken. Diese Bildung befreit unser Gesichtsfeld von eintrübenden, allzu persönlichen Befindlichkeiten, von verletzter oder geschmeichelter Eitelkeit, von Scham, Wut, von Hoffnungen, Ängsten und Erwartungen und dem allzeit verhängnisvollen Selbstwertmangel. Der Blick für das Schöne ist ein freigeräumter Blick.
Ästhetische Erziehung ist die Einübung in den vorurteilslosen zweiten Blick. Und sie ist die Aufforderung, dem Sehsinn nicht all unser Empfinden zu überlassen, sondern ihm das Tasten, das Hören, Schmecken und Riechen gleichberechtigt zuzugesellen. Gleich einem Gewissen, das eigenständig und den Verhältnissen gemäß über richtig und falsch befindet, hat jedes Individuum das Schönheitsurteil in die eigene Verantwortung zurückzugewinnen. Ästhetische Bildung besteht auch in der größeren Zeitspanne, die wir den Eindrücken gönnen, sich in uns auszubreiten und zu verankern. – Welch fatale Differenz liegt für gewöhnlich doch zwischen der Spanne und Tiefe, in der ein Werk entsteht, und der Sorgfalt, die wir seiner Aufnahme widmen.
In geschenkter Zeit und einem freien Raum liegt der Lehrplan einer Schule des Empfindens und der Schönheit. Solcherart ist das Klima beschaffen, in dem das Schöne sich uns mitzuteilen in der Lage ist. Und auf dieser Grundlage „vermag das Gefühl mit Bestimmtheit zu bejahen oder zu verneinen“, wie der Architekt Bruno Taut das unübertrefflich formuliert hat: „Die schöne Form, so verborgen ihre Quellen sind, wird dann zur objektiven Tatsache.“
Schönheit vermag zu erfreuen, mitunter zu beglücken und die Grenzen der Selbstwahrnehmung auszudehnen. Das Schönheitserlebnis ist eine emotionale Bewegung. Um diese zu vertiefen, haben wir den Sinneseindrücken mit ganzer Achtsamkeit zu folgen und dem emotionalen Fluss unsere ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Der Lohn dieser „Praxis“ ist ein erweitertes Vokabular und das Vermögen, Erlebtes vielschichtig zur Sprache zu bringen. Ein nachklingendes Musikereignis oder die Erfahrung beim Besuch eines außergewöhnlichen Stadtzentrums werden dann nicht alltagssprachlich unbedacht als „schön“ bezeichnet, sondern in der Fülle ihres Bedeutungsgehalts in Worte gefasst und differenziert vermittelt. Solcherart belebt und befruchtet Schönheit den Intellekt.
In derartigen Voraussetzungen beheimatet, vermag das ästhetische Urteil weit über ästhetische Belange hinauszuweisen: Schönheit verrät die Stimmigkeit der Dinge. Adolf Loos hat an der Schwelle zum letzten Jahrhundert eine überzeugende Wegweisung formuliert: „Da das Unpraktische niemals vollkommen ist, so kann es auch nicht schön sein.“ Im Kontext des leer gewordenen Eklektizismus gleicht diese Festlegung einem Wertekompass. Der Kinderherzchirurg René Prêtre spricht von der „Schönheit und dem Charisma des Herzens; (. . .) wenn Sie Herzchirurg werden möchten, brauchen Sie künstlerische Begabung. Sie müssen etwas gestalten können, das ästhetisch ist“, und er meinte von seiner Arbeit, sie habe „etwas von Kunst, von Bildhauerei, wir arbeiten ja in drei Dimensionen. Wenn ein Herz nach der Operation schön aussieht, funktioniert es auch gut.“ Victor Adler hat (wie heute vielfach) Schönheit nicht mit Dekor, Oberfläche oder Luxus verwechselt und demgemäß „Das Recht auf die Frucht der Arbeit, auf Schönheit, auf Gesundheit und Wissen“ gefordert. Könnte die Bedeutung der Sozialdemokratie mit dem Schönheitsanspruch verloren gegangen sein? Für den Benediktiner David Steindl-Rast ist das Gute, Wahre und Schöne nicht zu trennen. Kehren daher politische Dummheit und Lüge im Verbund mit der Hässlichkeit ein? Es scheint, als würden das Gute, Wahre und Schöne Aufstieg oder Niedergang nur im Bunde erleben. Egal, ob im Erzeugen oder Erleben, Sorgfalt und liebevolle Hinwendung sind für Schönes bestimmend. Wenn aber Schönheit der Liebe entspringt (wie nicht nur Platon darlegt), dann hat im Umkehrschluss Hässlichkeit nicht nur denselben Wortstamm, sondern ist Folge und Form von Hass und Lieblosigkeit.
Schönheit ist ein Vehikel der Zusammenschau. Schönheit überwindet Zeiten und Räume, lässt kulturelle Differenzen und Sprachgrenzen vergessen. Der Schönheitssinn begründet ein sehr viel achtsameres, respektvolleres und liebevolleres Verhältnis gegenüber den Dingen, den Menschen und der Welt. Vielleicht hat die Evolution im Schönheitssinn das Sensorium geschaffen, um etwas mehr von der ganzen Welt, ihrer Erscheinungsfülle und Komplexität zu erfassen, denn der Sinn für das Schöne weitet die Grenzen, verbindet und erschließt uns die Welt.
blitzte hinter den weit entfernten Gebirgsketten die Sonne hervor
und übergoss die Gipfel mit ihrem Licht, so weich und schön,
dass er hätte lachen können vor reinem Glück.
Robert Seethaler
Schönheit will gefühlt, nicht verstanden werden. Ich nähre mich von Schönem. Es inspiriert meine Arbeit, überlistet mein mangelhaftes Gedächtnis, hegt meinen Gleichmut und lichtet meine Gestimmtheit. Eine vor vierzig Jahren auf Kreta gesehene Vase ist in mir lebendig, als hätte ich sie gestern gesehen, laufe ich an einem liebevoll gepflegten Garten entlang, wird mein Schritt leicht und beschwingt. Trete ich am Ende eines aufreibenden Tages vor mein Haus, um in den sternenklaren Himmel zu sehen, beruhigt und erhellt sich mein Gemüt. Dabei sind mein kunsthistorisches und mein biologisches Wissen dürftig und endet mein astronomisches Verständnis bei „unvorstellbar weit und alt“. Schönheit verändert mich: Im Hof von Haus R oder unter der Kuppel von B breitet sich in mir eine freudvolle Erregung aus. Taucht das einmalige Licht eines jener goldenen Herbsttage die Wälder und Abhänge in diese unvergleichliche Buntheit, dann werden die Grenzen zwischen mir und der Welt durchlässig und unbestimmbar. Schaffe ich bei einem Entwurf den „Durchbruch“, dann senkt mich Beglücktheit in den Sessel.
Botho Strauß kommt mit seiner Feststellung „Das Hässliche ist erklärbar, das Schöne nicht“ der Sache schon sehr nahe. Je näher man der Schönheit mit Begriffen tritt, umso entschiedener weicht sie zurück. Wir alle kennen sie als Erfahrung, aber Erklärungen scheint sie zu fliehen. Überraschen muss das nicht. Ob in der Musik, im Blick auf eine Blume, im Öffnen eines Buches, beim Überqueren eines Platzes, dem Griff nach einem Apfel, am Ende eines Gesprächs, angesichts einer klug konstruierten Brücke, der Formulierung einer Mathematikformel oder eines erhellenden Gedankens – die Ereignisse, Anlässe, Auslöser und Formen unserer Schönheitserfahrung könnten verschiedener nicht sein. Es gibt schöne Dinge, Gedanken und Ereignisse, aber „die“ Schönheit gibt es nicht. Schönheit ist in ihrer Größe, Vielfalt und Vielschichtigkeit undefinierbar. Sie will erlebt und gefühlt, nicht verstanden werden. Darin gleicht sie der Freundschaft, der Liebe, der Kunst, der Intuition, der Weisheit und anderen großen Dingen.
Der Umstand, dass Schönheit undefinierbar ist, dass sie in unterschiedlichen Feldern anzutreffen ist und zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichsten Kleidern erscheint, dass sie individuell erlebt werden muss, Vermittlerdienste ablehnt und jeden Kanon flieht, dass sie sich nur zögerlich preisgibt und auch noch Ansprüche an unser Wahrnehmen stellt, bedeutet nicht, dass sie beliebig und nur subjektiv ist und auf billige Weise relativierbar wäre. Wir vermögen sehr wohl zu gewissen Fragen ihrer Qualität ein hohes Maß an Einigkeit zu erzielen, auch Übereinstimmungen, die Zeiten überdauern.
Doch selbst ohne Aussicht, über Schönheit etwas unverrückbar Gültiges zu sagen – die Befassung mit Schönheit ist weit mehr als eine geistige Überlebensfrage. Als solche bedarf sie im Angesicht einer überbordenden, allgegenwärtigen Hässlichkeit und einer bedrohten Welt eines neuen Impulses.
Der Verrat an der Schönheit. Es scheint Kulturen und Epochen gegeben zu haben, in denen Schönheit den Erzeugnissen und Äußerungen des Alltags auf eine Weise immanent war, dass sie keiner ausdrücklichen Erörterung bedurfte. Spätestens mit der Antike lässt sich ein dezidiertes Nachdenken über das Schöne, sein Wesen, seine Voraussetzungen und Wirkungen verfolgen. An welcher Stelle sich diese Reflexion verläuft, ist weniger wichtig als der Umstand, dass sich Schönheit als Anliegen, Berufung und Bildungsauftrag bis heute verflüchtigt hat. Selbst Bildungsinstitutionen waren daran beteiligt, die ästhetische Schulung und ein reflektierendes Sensorium für Schönes ins Abseits zu drängen.
Noch in meiner Kindheit zählte neben dem Inhalt die „äußere Form der Arbeit“ zu den Beurteilungskriterien einer Schularbeit. Ob diese Formulierung glücklich war, sei dahingestellt. Immerhin, sie belegt eine themenaffine Ausrichtung und Haltung. Irgendwann ist „Schönschreiben“ zum Unwort geworden, und so hat auch die Sache selbst abgedankt. Das Wesen der Formgebung: hinwenden, eindringen, Ordnungen und Beziehungen herstellen und in die Wirklichkeit transformieren verlor an Bedeutung. Schritt um Schritt kam dem Prozess der Herstellung jene Aufmerksamkeit abhanden, die im selben Maß die Resultate gewannen.
Der Bedeutungsverlust des Schönen hinterließ kein Vakuum, sondern ein Diktat von Form und Schönheit. Mit kräftiger Unterstützung der Werbewirtschaft und einer nie gekannten medialen Macht haben sich Konsumtreiber der Definitionsgewalt bemächtigt: „Schön ist, was makellos, glatt, schlank und vor allem jung ist!“ Diese „Schönheit“ verpflichtet uns auf das Perfekte, Dynamische und ewig Jugendliche. Gehalt- und Bedeutungsverlust kompensiert sie mit Lautem, Schrillem und Exaltiertem, mit sündhaft Teurem und kultisch Überhöhtem oder, dem Wechsel zuliebe, mit Schäbigem, Lumpigem und Ausgefranstem. Erheischte Aufmerksamkeit und Kurzlebigkeit sind die bestimmenden Konstanten einer solcherart deklarierten „Schönheit“. Auch in Moderne und Vormoderne hat es postulierte Stile und Schönheitsideale gegeben, immerhin haben deren Vertreter (mitunter mit quasireligiösem Eifer) selbst an diese geglaubt. Heute glaubt und folgt nur der verführte, anhaltend um echte Erfahrungen betrogene Konsument.
Mode ist der postmoderne Maßstab. Nichts ist ihr dienlicher als Orientierungslosigkeit und die um Verwirrung bemühte Schlagzahl des fortwährend Neuen. Gründlich von den Gesetzen des Visuellen dominiert, wird die Welt gemäß diesen Verhältnissen durchdesignt. Die solcherart herbeibeschworene „Schönheit“ erhebt den Anspruch, eine universelle Schönheit zu sein, eine global gültige, eine, die sich nicht um Umstände und Bedingungen und um keine sozialen, kulturellen und geschichtlichen Verhältnisse zu kümmern hat, die befreit ist von Inhalten, Verantwortung und Verpflichtung.
Schönheit ist kein Kriterium der Kunst, sondern des Lebens. Hat Schönheit eine Vertretung, eine Lobby? Wessen Anliegen sollte Schönheit sein? Wer ist ihr verpflichtet? Wer ist es, der ihr seine Stimme leiht?
Wann immer sich eine Veranstaltung oder ein Medium der Schönheit widmet – somit selten genug –, lädt man Künstler oder Theoretiker der Kunst zu Wort. Meist mit dem Ergebnis, dass sie keinen Unterschied machen zwischen ihrer Kunst und unser aller Leben. Welch ein Missverständnis! Auch wenn mancher Schöngeist sich das so wünscht: Die Kunst ist nicht die Repräsentantin der Schönheit. Man stelle sich Shakespeare vor oder die altgriechische Tragödie ohne Verleumdung, ohne hässliche Bosheit und abscheulichen Mord. Oder einen Kubin ohne Düsternis, einen Hieronymus Bosch ohne seine Fratzen. Der Kunst gehört das gesamte Spektrum der Ausdrucksmittel. Das heißt nicht, dass Kunst nicht Schönes schaffen dürfe und in vielen Fällen auch tut. Doch nicht die Kunst ist der Schönheit verpflichtet, sondern der Alltag. Die Verantwortung für Schönheit an die Kunst zu delegieren wäre so, als würden wir die Zuständigkeit für Ethik bei den Vertretern der Kirche belassen. In der Gestaltung unseres Lebensumfelds ist Hässlichkeit kein Ausdrucksmittel, sondern Ausdruck mangelnder Verbundenheit mit der Welt, von Unvermögen und Versagen oder Ignoranz.
Die Verantwortung für Schönes muss in die Hände von Baumeistern und Bauherren gelegt werden. Die Tapezierer, die Schreiner und Schlosser, die Kleidermacher, auch die Bäcker, die Grafiker, alle Möbelbauer und Raumgestalter, die Haushälter . . ., natürlich die Möbelhäuser und Baumärkte auch, alle sind wir der Kultur und der Schönheit verpflichtet. Für Schönheit sind Architekten, Städte- und Straßenbauer, die Kommunalpolitiker, auch die Gärtner und die Wirte verantwortlich. Stellen Sie sich Landwirte nicht als Wüteriche gegen das Schöne vor, Bauern, die nicht jeden Hain, jeden Baum und Strauch, jedes Blühen einer Hecke ihrer monogrünen Wüste opfern, die sich vom Druck befreien, jeden Bach zu begradigen, jede Mulde einzuebnen und jeden Weg zu planieren. Denken Sie an Landgestalter, die unsere Sehnsucht nach bunten Wiesen nicht ins Gebirge – und bei der Zuständigkeit für blühende Bäume und Sträucher nicht an die Städte verweisen.
Wie wäre es, wenn Investoren, wenn auch alle Reichen zu Wortführern des Schönen würden, wenn sie nur noch schüfen, was wieder Sinn, Wert und Dauer verspricht? Gab es einst nicht schöne Scheunen? Was wäre, wenn wir der Schallschutzwand, der Busgarage und dem Lagerhaus dieselbe Sorgfalt widmeten wie dem Schauspielhaus? Schönheit jenseits von Kunstsinn, Luxus und Reichtum! Statt zur Kunst gehört die Schönheit der Lebenskunst, sie gehört in den Alltag und in unser Leben.
Das Schöne ist Frucht, nicht Ziel unserer Arbeit. Vor zwanzig Jahren habe ich formuliert: „Kunst ist besser das Ergebnis der Arbeit als der Anfang der Diskussion.“ Daran hat sich nichts geändert, und doch würde ich heute sagen: Das Schöne ist besser die Frucht als das Ziel unserer Arbeit. Denn die Geschichte warnt uns vor dem Erschlaffen im Formalismus, vor seinen Ausschweifungen und dem in Dekadenz und Wahn gekippten ästhetischen Exzess. Und wir wissen um eine Ästhetik, die sich der Abwesenheit alles Lebendigen verdankt.
Noch bleiben wir bei der Herstellung von Schönem und nicht bei ihrem Erleben. Schönheit als Ertrag menschlichen Tuns bedingt Arbeit, mitunter auch Anstrengung.
Der Verzicht auf Absicht und Ziel macht den Blick für die Prozesse und die Bedingungen frei, denen Schönheit allenfalls erwächst:
– der Fähigkeit zu Konzentration, Gründlichkeit und Ruhe;
– einer Sorgfalt, die mit der Liebe zum Detail verbunden ist;
– dem Zugang zum Zauber und der Schönheit, die im Tun selber liegt;
– genauem Fragen und einem Gehör für die den Fragen einwohnenden Antworten, gepaart mit einer wachen Aufmerksamkeit, dem Sensorium für die zarte und noch vage Spur einer Lösung;
– dem Gleichmut gegenüber dem Zweifel, einer unerschütterlichen, durch Leer- und Irrläufe, Hindernisse, Fehler und Rückschläge nicht zu entmutigenden Verfasstheit;
– einem von entfernten Themen und Problemen nicht restlos besetzten und beschwerten, somit einem der Konzentration fähigen Geist;
– einer von Vorurteilen freien Haltung, damit auch einem guten Verhältnis zwischen dem gesicherten Wissen und einer überraschend neuen Antwort;
– ausreichend Zeit, der Geduld und der Bereitschaft, etwas liegen zu lassen – um ein Thema erst nach Tagen, mitunter Wochen wieder aufzugreifen –, denn damit bekommt das Speicherbewusstsein den ihm gebührenden Raum und wachsen die Erfahrung und das Vertrauen, dass einem „die Lösung“ mitunter von selbst entgegentritt.
Doch ist all das noch nicht genug, denn ohne Übung, Erfahrung und Wissen werden weder die Intuition noch die Formintelligenz genährt und ertüchtigt: Ja, es gibt den schnellen Wurf und ein eruptives Erzeugen. Allerdings ist die ausdauernde Übung den mühelos und leicht hingeworfenen Skizzen Rembrandts, der japanischen Kalligrafie oder Picassos so schnellen wie genialen Pinselstrichen lange vorausgegangen. Unerschütterliches Urteil und Meisterschaft entspringen einem vielfach wiederholten Tun, einer substanziellen Ausrichtung und redlichen Absicht, der Vertrautheit mit dem Material (ob Holz, Sprache oder Nahrungsmittel), dem Wissen um dessen Charakter und dem intimen Verhältnis zum Werkzeug (ob Hobel, Küchenmesser oder Musikinstrument). Ebenso unabdingbar sind Kenntnis über Wandlungsprozesse durch Alterung und Gebrauch, das Wissen um die Möglichkeiten und Grenzen der Herstellungsprozesse und bei Gegenständen der Handhabe das persönliche und konkrete Verhältnis zu deren Anwendung und Funktion.
Gestaltungsarbeit ist auch die Arbeit an den eigenen Motiven, Zielen, an der eigenen Philosophie, Moral und dem persönlichen Weltverständnis. Schönheit erwächst der Nähe und Verbindung mit den Dingen, sie „gehört“ den Genießern. Dort, wo unsere Interessen liegen, der Focus unserer Aufmerksamkeit und Begeisterung, dort liegt das Schöne am nächsten.
Schönheitserfahrung darf nicht zu romantisierten Rückschlüssen bezüglich des Entstehens schöner Dinge verführen. Ist die erlebte Schönheit auch ein Ausfluss des Gefühls, so entspringen schöne Dinge selten allein dem Gefühl, erst recht nicht dessen Überschwang. Zur Herstellung des Schönen gehört das schwebende, schweifende, assoziierende und empfangende Denken und strukturierte, analytische Gedanken. Intuition hilft dem Denken auf die Sprünge. Klar gefasste Gedanken und Fragestellungen nähren die Eingebung. Am Schluss gewinnt das gelungene, das „schöne“ Ergebnis Leichtigkeit und lässt die Aspekte, Schritte und die Mühen des Weges vergessen.
Schönheit ist nicht objektiv, darin liegt ihre Stärke. Wir vermögen den Dingen und Ereignissen nicht anders als über unsere individuellen Sinne zu begegnen. Egal, ob eine Stadt, ein Einkaufszentrum, eine Wanderung, ein Buch oder ein Musikstück, noch kaum je haben zwei Menschen ein und dieselbe Sache in derselben Weise erlebt. Schönheit ist subjektiv, weil wir sie ausschließlich als Subjekte wahrnehmen.
Wie beliebig unser Bewerten, wie konditioniert und fremdbestimmt oder ungetrübt und eigenständig hängt vom Grad unserer Bewusstheit und Bildung ab.
Auch in ästhetischen Fragen befindet Bildung über den Horizont unserer Wahrnehmung und das Niveau unserer Urteilsfähigkeit. Die echte ästhetische Bildung pflanzt nicht Überzeugungen und fremde Werte ein, sondern stellt Urteile in einen lebendigen Wechsel von Fühlen und Denken. Diese Bildung befreit unser Gesichtsfeld von eintrübenden, allzu persönlichen Befindlichkeiten, von verletzter oder geschmeichelter Eitelkeit, von Scham, Wut, von Hoffnungen, Ängsten und Erwartungen und dem allzeit verhängnisvollen Selbstwertmangel. Der Blick für das Schöne ist ein freigeräumter Blick.
Ästhetische Erziehung ist die Einübung in den vorurteilslosen zweiten Blick. Und sie ist die Aufforderung, dem Sehsinn nicht all unser Empfinden zu überlassen, sondern ihm das Tasten, das Hören, Schmecken und Riechen gleichberechtigt zuzugesellen. Gleich einem Gewissen, das eigenständig und den Verhältnissen gemäß über richtig und falsch befindet, hat jedes Individuum das Schönheitsurteil in die eigene Verantwortung zurückzugewinnen. Ästhetische Bildung besteht auch in der größeren Zeitspanne, die wir den Eindrücken gönnen, sich in uns auszubreiten und zu verankern. – Welch fatale Differenz liegt für gewöhnlich doch zwischen der Spanne und Tiefe, in der ein Werk entsteht, und der Sorgfalt, die wir seiner Aufnahme widmen.
In geschenkter Zeit und einem freien Raum liegt der Lehrplan einer Schule des Empfindens und der Schönheit. Solcherart ist das Klima beschaffen, in dem das Schöne sich uns mitzuteilen in der Lage ist. Und auf dieser Grundlage „vermag das Gefühl mit Bestimmtheit zu bejahen oder zu verneinen“, wie der Architekt Bruno Taut das unübertrefflich formuliert hat: „Die schöne Form, so verborgen ihre Quellen sind, wird dann zur objektiven Tatsache.“
Schönheit vermag zu erfreuen, mitunter zu beglücken und die Grenzen der Selbstwahrnehmung auszudehnen. Das Schönheitserlebnis ist eine emotionale Bewegung. Um diese zu vertiefen, haben wir den Sinneseindrücken mit ganzer Achtsamkeit zu folgen und dem emotionalen Fluss unsere ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Der Lohn dieser „Praxis“ ist ein erweitertes Vokabular und das Vermögen, Erlebtes vielschichtig zur Sprache zu bringen. Ein nachklingendes Musikereignis oder die Erfahrung beim Besuch eines außergewöhnlichen Stadtzentrums werden dann nicht alltagssprachlich unbedacht als „schön“ bezeichnet, sondern in der Fülle ihres Bedeutungsgehalts in Worte gefasst und differenziert vermittelt. Solcherart belebt und befruchtet Schönheit den Intellekt.
In derartigen Voraussetzungen beheimatet, vermag das ästhetische Urteil weit über ästhetische Belange hinauszuweisen: Schönheit verrät die Stimmigkeit der Dinge. Adolf Loos hat an der Schwelle zum letzten Jahrhundert eine überzeugende Wegweisung formuliert: „Da das Unpraktische niemals vollkommen ist, so kann es auch nicht schön sein.“ Im Kontext des leer gewordenen Eklektizismus gleicht diese Festlegung einem Wertekompass. Der Kinderherzchirurg René Prêtre spricht von der „Schönheit und dem Charisma des Herzens; (. . .) wenn Sie Herzchirurg werden möchten, brauchen Sie künstlerische Begabung. Sie müssen etwas gestalten können, das ästhetisch ist“, und er meinte von seiner Arbeit, sie habe „etwas von Kunst, von Bildhauerei, wir arbeiten ja in drei Dimensionen. Wenn ein Herz nach der Operation schön aussieht, funktioniert es auch gut.“ Victor Adler hat (wie heute vielfach) Schönheit nicht mit Dekor, Oberfläche oder Luxus verwechselt und demgemäß „Das Recht auf die Frucht der Arbeit, auf Schönheit, auf Gesundheit und Wissen“ gefordert. Könnte die Bedeutung der Sozialdemokratie mit dem Schönheitsanspruch verloren gegangen sein? Für den Benediktiner David Steindl-Rast ist das Gute, Wahre und Schöne nicht zu trennen. Kehren daher politische Dummheit und Lüge im Verbund mit der Hässlichkeit ein? Es scheint, als würden das Gute, Wahre und Schöne Aufstieg oder Niedergang nur im Bunde erleben. Egal, ob im Erzeugen oder Erleben, Sorgfalt und liebevolle Hinwendung sind für Schönes bestimmend. Wenn aber Schönheit der Liebe entspringt (wie nicht nur Platon darlegt), dann hat im Umkehrschluss Hässlichkeit nicht nur denselben Wortstamm, sondern ist Folge und Form von Hass und Lieblosigkeit.
Schönheit ist ein Vehikel der Zusammenschau. Schönheit überwindet Zeiten und Räume, lässt kulturelle Differenzen und Sprachgrenzen vergessen. Der Schönheitssinn begründet ein sehr viel achtsameres, respektvolleres und liebevolleres Verhältnis gegenüber den Dingen, den Menschen und der Welt. Vielleicht hat die Evolution im Schönheitssinn das Sensorium geschaffen, um etwas mehr von der ganzen Welt, ihrer Erscheinungsfülle und Komplexität zu erfassen, denn der Sinn für das Schöne weitet die Grenzen, verbindet und erschließt uns die Welt.
Der Autor:
Geboren 1951 in Bregenz. Architekt. Studierte an der Akademie der bildenden Künste in Wien bei Roland Rainer und an der Technischen Universität Eindhoven. Symposion zum Thema am 27. Februar von 15 bis 20 Uhr: „Behutsam oder radikal?“, Sky Conference der RBI, Am Stadtpark 9, 1030 Wien.
Geboren 1951 in Bregenz. Architekt. Studierte an der Akademie der bildenden Künste in Wien bei Roland Rainer und an der Technischen Universität Eindhoven. Symposion zum Thema am 27. Februar von 15 bis 20 Uhr: „Behutsam oder radikal?“, Sky Conference der RBI, Am Stadtpark 9, 1030 Wien.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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