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Architekt Max Graf war ein Konstrukteur mit Intuition
Neue Zürcher Zeitung

Der Max-Bill-Schüler und St. Galler Architekt ist am 19. April gestorben. Sein Bau für das Kinderdorf Pestalozzi in Trogen brachte Bills konkrete Moderne ins Appenzellerland.

27. April 2020 - Thomas K. Keller
Wer in das Kinderdorf Pestalozzi auf dem Trogener Büel einfährt, wird zuerst die appenzellischen Kinderhäuser von Hans Fischli wahrnehmen, um dann bald seine Augen auf das organisch-expressive Andachtshaus von Ernst Gisel zu richten. Eher unscheinbar liegt am Rande des Plateaus das Oberstufenschulhaus, das der St. Galler Architekt Max Graf von 1959 bis 1960 erbaut hat. Als modular konzipierter Bau kontrastiert die Schule stark mit dem gemässigten Vierziger-Jahre-Modernismus, auf welchem die Stiftung Kinderdorf ihre bauliche Identität bis heute aufbaut. Ein Wettbewerb verhalf dem jungen Bill-Schüler Max Graf und seiner Flachdachmoderne in Trogen zum Durchbruch.

Max Graf wurde 1926 in St. Gallen geboren und absolvierte nach einer Eisenbetonzeichnerlehre das Hochbau-Technikum in Winterthur. Seine ersten Arbeitsjahre hatte er als Konstrukteur in renommierten St. Galler Büros absolviert, ehe er eine einjährige Reise nach Finnland unternahm. Dort wurde er auf das Buch «Form» von Max Bill und auf das Projekt für die Ulmer Hochschule für Gestaltung aufmerksam. Dank Selbsterspartem konnte er mit 28 Jahren nochmals eine weiterführende Ausbildung angehen und wurde ab 1954 einer der ersten Schweizer Studierenden an der 1953 gegründeten Institution, die nicht zuletzt dank der Figur Max Bill zum Flaggschiff der konkreten Gestaltung und – wie einige behaupten – zur Nachfolgeinstitution des Bauhauses wurde.

Mit Max Bill von Ulm nach Zürich

Zu Max Grafs Lehrern gehörte ein klangvolles Lehrerkollektiv: Gestaltungsunterricht erhielt Graf unter anderem bei Josef Albers, im Bauen unterrichteten Max Bill und Konrad Wachsmann. Der grosse Streit um die Weiterentwicklung der Schule führte 1957 zum Bruch mit dem ehemaligen HfG-Rektor Max Bill, der in der Bauhaustradition auf dem System von Meisterklassen und individueller Geistes- und Schaffenskraft aufbaute. Dem gegenüber standen Tendenzen zur Verwissenschaftlichung und Kollektivierung der Gestaltung, welche vor allem Otl Aicher vertrat. Als sich Bill 1958 von der Schule entfernte, folgte ihm Max Graf für seine Diplomarbeit nach Zürich.

Der Wettbewerb, der zu dieser Zeit für das neue Oberstufenschulhaus des Kinderdorfs Pestalozzi ausgeschrieben war, diente Max Graf als Aufgabenstellung für die Diplomarbeit. Das Projekt erhielt den Zuschlag, und Graf konnte fortan ein Kleinbüro in St. Gallen führen. Das Pestalozzi-Schulhaus in Trogen ist zugleich Anfang und Höhepunkt von Grafs Schaffen. Die konkrete Kunst und Gestaltung, wie sie in Ulm gelehrt wurde und die bisweilen auch als konstruktive Kunst bezeichnet wurde, wird im Bau mit Mitteln der Konstruktion umgesetzt. Konstruktion ist also zum einen das geistige Prinzip, das die Funktionen über die Geometrie in Plan, Schnitt und Ansicht und damit in Körper und Raum übersetzt; zum andern bringt sie den Akt des Bauens in rationaler Überlegung in einen konstruktiv-technischen Systemzusammenhang. Die Bauweise des Schulhauses wird damit zu einem Vorläufer des Hochkonjunktur-Systembaus.

Moderne für das Appenzellerland

Unter diesem Aspekt erscheint der sperrige Bau, der eigentlich eine Gebäudegruppe ist, in neuem Licht. Die Funktionen Schule, Kindergarten und Wohnhaus werden als offene Figur sanft und mit maximal zwei Geschossen in die Topografie eingebaut. Jede Nutzungseinheit ist eine Volumengruppe. Die Verbindung zwischen den Schulräumen und dem Kindergarten ist wie in der Ulmer Schule von Max Bill eine Korridorhalle, die sanft die Begebenheiten der Topografie in das System hineinspielen lässt, aber keinerlei Inszenierung anstrengt. Die Räume sind im Grundsatz einseitig orientiert und belichtet. Die Grössen der Öffnungen sind streng nach Nutzung bestimmt, Ausnahmen gibt es nur, wenn sie der Orientierung im Raum dienen. Alles zielt auf das Wesen der Bauaufgabe. Das Licht in der Struktur hat Raum für die Schule zu bilden.

Konkret, sprich: referenzlos, aus dem Raum der Geometrie und Proportion ins Appenzellerland einzufliegen, war schon damals eine Provokation. Sie hat dem Bau und dem Architekten wenig Gegenliebe eingebracht. Die Archaik der modernen Pestalozzi-Schule hat die Direktheit eines Tätschhauses und verweigert sich jeglicher Bildhaftigkeit. Die Struktur repräsentiert dafür nach sechzig Jahren umso aktueller, was Schule ist: ein offenes Gefäss zur Bildung eines selbstbestimmten Lebens. Sie passt perfekt zum Stiftungszweck und gehört als Zeuge von antifaschistischem Wiederaufbau und aufgeklärter Internationalität geschützt. Max Graf ist am 19. April vierundneunzigjährig in St. Gallen gestorben. Er hinterlässt wenige Bauten, viele Zeichnungen und einige Texte.

[ Thomas K. Keller ist Architekt in St. Gallen, Obmann des BSA Ostschweiz und Dozent für Entwerfen und Konstruieren an der ZHAW. ]

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