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Gegen «Geschichtsvernichtung» in der Baukunst
Neue Zürcher Zeitung

Das Achleitner-Archiv im Architekturzentrum Wien

Dank dem Wiener Architekten und Literaten Friedrich Achleitner besitzt Österreich eine einzigartige Dokumentation des modernen Bauens. Obwohl ein Archiv naturgemäss eher einen abstrakten Charakter hat, gelang es dem Architekturzentrum Wien, mit seiner gegenwärtigen Ausstellung einen lebendigen Einblick in die Methodik dieses besonderen Universums zu geben.

10. Juni 2000 - Stephan Templ
Bereits 35 Jahre, also die Hälfte seines Lebens, arbeitet Friedrich Achleitner an seinem Hauptwerk: einer topographischen Dokumentation der österreichischen Moderne. Ursprünglich hatte er geglaubt, diese innerhalb von drei Jahren abschliessen zu können, doch jedes Mal, wenn der Architekt und Literat einen neuen Bau entdeckt, dann weiss er: Die Aufarbeitung wird noch Jahre dauern. Denn Achleitner ist nicht nur von Bauten besessen, er ist überdies auch noch ein Pedant: Jedes der besprochenen Häuser muss er selbst begehen. Und gelingt ihm das nicht, so ist das auch in der Beschreibung angemerkt, wie zum Beispiel beim Haus Mühlbauer von Ernst Plischke: «Das geschändete Haus hat durch den Abbruch der Pergola-Loggia nicht nur sein kubisches Volumen, sondern auch seine räumliche Schichtung verloren. Das Haus darf im heutigen Zustand weder von aussen besichtigt noch photographiert werden. Dies ist auch nicht nötig.» Achleitner nähert sich den «verlorenen Paradiesen» in der ihm eigenen Art an. Erst wenn er von den Bewohnern empfangen wird, löst sich die Spannung, dann vermischt sich das Äussere mit dem Inneren, Architektur mit Literatur. Er beginnt dann pointiert und mit Wortwitz die nicht selten verblüfften Bewohner über die Bedeutung ihrer Behausungen und Gehäuse aufzuklären - viel Geschichte, welche die Moderne doch einst über Bord hatte werfen wollen.

Achleitner selbst wohnt in einem der ältesten Häuser Wiens, wo sich bis vor kurzem auch das nun an die Stadt Wien verkaufte, knapp 30 000 Objekte umfassende Archiv der österreichischen Moderne befunden hat. Jede Baubiographie enthält Plandarstellungen, Fotos aus verschiedenen Zeitabschnitten und vor allem eine unübertreffliche Beschreibung, deren Assoziationskette den Geschmack blossen Anhäufens weit hinter sich lässt. Achleitner ist wahrlich kein snobistischer Ikonensammler. Er ist geprägt von einer Zeit, als man im Nachkriegswien Otto Wagners Stadtbahnstationen abriss - «Geschichtsvernichtung» nennt dies Achleitner. Er relativiert den Absolutheitsanspruch der Moderne, die Hochsprache, und sucht den Dialekt. Ihm geht es nicht bloss um die Nutzung, sondern um die geistige Bewohnbarkeit von Architektur. Um die Veränderungen, welche ein Bauwerk durch die Benützung erfährt, um die Brüche, die auf Spannungen und Konflikte verweisen und somit Geschichte spürbar machen.

Das Achleitner-Archiv selbst unterliegt ebenso sehr diesen Geschichtsbrüchen. Das war bei der Eröffnung der von Otto Kapfinger kuratierten Ausstellung im Architekturzentrum Wien spürbar: Die eingeschworene Achleitner-Gemeinde, die seine Gedankenkonstruktionen aus Sprache und Architektur seit mehr als zwei Jahrzehnten in Teilen kennt («Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert»), scharte sich gleich um die ausgestellten Fahrten-, Begehungs- und Notizbücher und die grossformatigen Text- und Bildtafeln. Sie zeigen 30 Objekte aus dem Archivbestand: die Bauten um das Architekturzentrum, also dem siebenten Wiener Gemeindebezirk, die Häuser Gamerith und Eichmann am Attersee und Bauten der Industriestadt Dornbirn. Die haptische, «antiquierte» Ausstellungsart lässt den Betrachter den politischen Charakter von Achleitners Geschichts- und Kulturbegriff nachvollziehen, ebenso seine Methodik.

Andere wieder scharten sich um die digitalisierte Version der ausgestellten Beispiele. In Sekundenschnelle kann man sich nach Belieben - anscheinend «entideologisiert» - einen ganzen Berg an Rohdaten heranschaffen, die dank einem übersichtlichen Layout auch zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Sie werden jedoch schwerlich Bausteine zum «Achleitner» sein. In drei Jahren will das Architekturzentrum, dem die Stadt Wien die wissenschaftliche Bearbeitung des Archivs anvertraut hat, das gesamte Material digital erfassen und öffentlich zugänglich machen. Friedrich Achleitner, der vor wenigen Tagen seinen 70. Geburtstag hat feiern können, bleibt indes in «seinem» 20. Jahrhundert. Nichts kann da mehr gebaut, aber eine Menge entdeckt werden. In Kürze erwarten wir seine Ergänzungen zu den Wiener Bezirken 19 bis 23 sowie zum Bundesland Niederösterreich.


[ Die Ausstellung «Achleitners Österreich» (Das Archiv der Architektur des 20. Jahrhunderts) wird bis zum 7. August im Architekturzentrum Wien und danach im Architekturzentrum Dornbirn gezeigt. ]

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