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Elizabeth Scheu Close: Wie die Wiener Moderne nach Minnesota kam
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Die Moderne war ihr in die Wiege gelegt: Aufgewachsen in einer Hietzinger Villa von Adolf Loos, wurde Elizabeth Scheu Close (1912 bis 2011) die erste und bedeutendste Architektin in Minnesota. Erinnerung an eine in ihrer Heimat Vergessene.

28. August 2020 - Judith Eiblmayr
Eines der umfassendsten Gesamtwerke, das ein österreichischer Architekt der Moderne im Zeitraum von 1938 bis 1991 aufweisen kann, ist in Österreich unbekannt – wie ist das möglich? Nun, weil dieser Architekt eine Architektin war. Man kennt Rudolph Schindler, Richard Neutra und Victor Gruen, aber eine Architektin . . .? Elizabeth Scheu Close, nie gehört!

Als ich im Jänner 2016 von einem sechsmonatigen Gastprofessur-Aufenthalt an der University of Minnesota aus Minneapolis zurückkehrte, hatte ich das Wissen um die Architektin Elizabeth Scheu Close und ihre einzigartige Geschichte im geistigen Gepäck. Ich begann, in der architekturwissenschaftlich ausgerichteten Kollegenschaft nachzuforschen, wer von der österreichisch-amerikanischen Architektin Kenntnis hatte. Es stellte sich heraus: Niemand kannte sie, weder als in den USA renommierte Architektin noch als Nachfahrin einer bedeutenden Familie in der Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie.

Selbst im jeweiligen Wikipedia-Eintrag ihrer bekannten Eltern, der Schriftstellerin und Verlegerin Helene Scheu-Riesz (1880 bis 1970) und des Anwalts Gustav Scheu (1875 bis 1935), wurde lediglich der Sohn, Elizabeths Bruder, Friedrich Scheu (1905 bis 1985), erwähnt. Dass es eine in den USA lebende Tochter gab, die erst 2011 im 100. Lebensjahr verstarb, wurde schlichtweg ignoriert, ein gängiger Missstand bei der öffentlichen Wahrnehmung „großer Töchter“ Österreichs. Das konnte mittlerweile korrigiert werden. Und Architekturkundigen wird der Name Scheu anderweitig präsent sein: Helene und Gustav Scheu hatten Adolf Loos mit der Planung ihres Hauses in Hietzing beauftragt, das 1913 fertiggestellt wurde.

Elisabeth (hier noch mit „s“), geboren 1912, ist im Haus Scheu von Adolf Loos in der Larochegasse 3 aufgewachsen und lebte bis zu ihrem 20. Lebensjahr in dieser Ikone der modernen Architektur. Sie studierte an der Technischen Hochschule in Wien und am Massachusetts Institute of Technology in Boston Architektur und hatte im Jahr 1938 den für die damalige Zeit verwegenen Plan, in Minnesota gemeinsam mit ihrem Studienkollegen am MIT und späteren Mann, Winston Close (1906 bis 1997), ein Büro für moderne Architektur zu eröffnen. Die beiden hinterließen ein breit gefächertes, nachhaltiges Werk, das jüngst aufgearbeitet wurde.

Es ist höchst an der Zeit, diese einmalige Geschichte einer mutigen jungen Frau aus Österreich zu erzählen, die 1932 zum Studium in die USA auswanderte und die erste und bedeutendste Architektin in Minnesota wurde, oder wie die Architekturhistorikerin Jane King Hession schreibt: „Lisls außergewöhnliche Leistungen sind zu wichtig, um ein gut gehütetes Geheimnis zu bleiben.“

Im April dieses Jahres ist Jane Hessions Buch „Elizabeth Scheu Close – A Life in Modern Architecture“ in der University of Minnesota Press erschienen, ein Bildband, der erstmals das reichhaltige Œuvre und nachhaltige Wirken einer Architektin umfassend darstellt, die mehr als 50 Jahre lang aktiv war. Es ist ein repräsentativer Querschnitt durch ein Werk von 456 ausgewählten Projekten, zahlreiche Fotos und Pläne zeugen von der Diversität der von ihr geplanten Bauten. Ebenso hat Jane Hession ein sensibles biografisches Porträt verfasst, hatte sie doch noch Gelegenheit gehabt, mit „Lisl“, wie sie zeitlebens genannt wurde, persönliche Gespräche zu führen.

Spielen auf abgetrepptem Gebäude

Elisabeth Scheu war stark durch ihr Wiener Elternhaus geprägt – und dies gleich im doppelten Sinne: Leben in der Moderne war ihr quasi in die Wiege gelegt, ihre gesamte Jugend war sie von getäfelt schützendem Interieur Loosscher Planung umgeben und konnte auf einer der Terrassen des abgetreppten Gebäudes spielen, wie Fotos aus dem Familienarchiv zeigen. Je älter sie wurde, desto mehr begriff sie die Wirkungsmacht von Architektur, wie diese nicht nur zum Quell von Inspiration, sondern auch von Provokation werden kann. Wie beim Haus Scheu: Ein Terrassenhaus mit Flachdach war Anfang des 20. Jahrhunderts – in unmittelbarer Nachbarschaft von historisierenden oder Jugendstilvillen – zweifellos provokant. „Außen pfui – innen hui“, zu diesem Aphorismus ließ sich einer der zahlreichen im Hause Scheu Eingeladenen hinreißen, wie dem Gästebuch zu entnehmen ist.

Gegen Ende ihrer Schulzeit wusste Lisl, dass sie Architektin werden wollte, bereits fokussiert auf die aufkeimende Moderne. Die Prägung, in einem Loos-Haus aufgewachsen zu sein, hatte entschieden dazu beigetragen. Ebenso wichtig waren ihre aufgeschlossenen Eltern. Helene Scheu-Riesz war eine unternehmerisch ehrgeizige Frau, die sich als Autorin, Übersetzerin und Verlegerin von Kinderbüchern einen Namen gemacht hatte. Sie engagierte sich in Friedens- und Sozialhilfeprojekten und in der Frauenbewegung. Lisl war sie das Vorbild einer erwerbstätigen Mutter – Anfang des 20. Jahrhunderts im bürgerlichen Wiener Umfeld eine Seltenheit. Es war für Lisl normal, einen ihren Talenten entsprechenden Beruf anzustreben. Gustav Scheu war Rechtsanwalt, aktiver Sozialdemokrat und in der Zwischenkriegszeit Politiker im „Roten Wien“. Er war Mitbegründer der Zentralstelle für Wohnungsreform. Die politische Überzeugung ihres Vaters, die triste Wohnungssituation der Arbeiterschaft verbessern zu müssen, machten nachhaltigen Eindruck auf Lisl. Ihr späteres Berufsleben war geprägt von einem sozialen Anspruch bei ihren Bauprojekten – die Bauten sollten den Menschen dienen und nicht umgekehrt.

Von ebensolchem sozialen Geist getragen war die Adresse Larochegasse 3, wo bekannte Persönlichkeiten aus Kultur und Politik ein und aus gingen. Das Gästebuch des Hauses Scheu liest sich wie ein Who's who der Intellektuellen seiner Zeit. Ein mehrmaliger Gast im Hause Scheu war der US-amerikanische Geschäftsmann und Philantrop Edward Filene, der in Boston seinen Firmensitz hatte und Lisl später ermuntern sollte, in die USA zu gehen, um am MIT weiterzustudieren.

Elisabeth Scheu schrieb sich an der Technischen Hochschule Wien für das Fach Architektur ein. 1930, mehr als zehn Jahre, nachdem Frauen zum Studium zugelassen worden waren, noch immer eine Herausforderung. Die männerdominierte Fakultät legte den Kolleginnen konsequent Steine in den Weg. „Die wollten dort einfach keine Frauen“, erinnerte sich Lisl Scheu Close und beschrieb die Mechanismen der Frauenfeindlichkeit: subtil, indem keine eigenen Toiletten zur Verfügung gestellt wurden, und direkt, wenn Studentinnen daran gehindert wurden, sich zu Vorlesungen anzumelden oder ihre Leistungen prinzipiell mit schlechten Noten entwertet wurden. Durch die einsetzende nationalsozialistische Unterwanderung der Universitäten kam es zu Störungen von Vorlesungen. Mehr und mehr war die öffentliche Stimmung von Antisemitismus geprägt, die Lage wurde für die Scheus gefährlich: Helene Scheu-Riesz war zwar als Quäkerin aktiv, aber sie entstammte einer jüdischen Familie. Im Jahr 1932 bestieg Lisl ein Schiff nach New York, um am MIT ihr Architekturstudium fortzusetzen. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass sie in den USA bleiben und ihr Lebensmittelpunkt Minnesota werden würde.

Nach ihrem Studienabschluss 1935 arbeitete sie drei Jahre lang in Architekturbüros in Philadelphia und Minneapolis, bevor sie 1938 gemeinsam mit Winston Close den ersten Planungsauftrag erhielt: ein erschwingliches Haus als Wohngemeinschaft für drei junge Universitätsprofessoren. Dies war eine Bauaufgabe, bei der Close & Scheu Architects, wie sie ihr Büro bis zu ihrer Hochzeit nannten, ihren Innovationsgeist beweisen konnten: Es sollte ein Haus mit Flachdach werden, um überflüssige Kubatur zu sparen. Der boxy style war für Minnesota nicht nur wegen seiner eiskalten und schneereichen Winter eine Besonderheit, sondern wegen der reduzierten Form eine Provokation: Es konnte kein Kredit für die Baukosten aufgenommen werden, da das Haus ohne Giebeldach als unverkäuflich und daher wertlos beurteilt wurde. So erging es Lisl ähnlich wie Adolf Loos – visionäre Architektur war ein Grund zur Anfeindung. In Minneapolis nicht anders als ein Vierteljahrhundert zuvor in Wien. Das Holzhaus, das trotzdem gebaut und später für neue Besitzer erweitert wurde, mit seiner kostengünstigen Außenhaut und den mit warmen Materialien gestalteten Innenräumen, steht immer noch. Es besticht in seinem Selbstverständnis einer unaufgeregten Moderne, die ihre Wiener Spuren nicht leugnen kann.

Während des Zweiten Weltkriegs ließen Elizabeth and Winston Close, Architects ihre Befugnis ruhen. Winston diente als Reservist in der US Navy, Lisl arbeitete für die Page & Hill Defense Company, die vorfabrizierte Häuser für Kriegsheimkehrer errichtete. Sie war bis in die späten 1950er für diese Firma als Architektin tätig, mehr als 1000 Einfamilienhäuser wurden nach ihren Plänen errichtet. Dies ermöglichte ihr ein internationales Projekt, war es doch ein von ihr entworfenes Haus, das im Auftrag des US-Staates nach Europa verschifft und 1950 bei der deutschen Industrieausstellung in Berlin gezeigt wurde.

Karriere von 1938 bis 1991

Im Jahr 1946 wurde Winston Close zum leitenden Architekten der Campusplanung in Minneapolis bestellt, eine Funktion, die er bis 1971 innehatte. Während Winston entscheidend die Campusarchitektur prägte, führte Lisl alleinverantwortlich das Büro, sowohl die Planung wie auch das Geschäftliche betreffend. Die Bauaufgaben reichten von Einzelhäusern und Wohnbauten über Spitäler bis zu Firmengebäuden.

Elizabeth Scheu Close hatte in ihrer beruflichen Laufbahn in den USA – auch dort war sie eine der ersten Frauen in der Branche – die Chance, ihr architektonisches Können auch im größeren Maßstab umzusetzen. Außergewöhnlich dabei ist eine ungebrochene Karriere von 1938 bis 1991. Diese Kontinuität gab es ideologie- und kriegsbedingt in Europa nicht – schon gar nicht bei einer Frau und Mutter von drei Kindern. 2002 wurde sie vom American Institute of Architects für ein Lebenswerk geehrt, „das von wesentlicher Bedeutung für das Architekturgeschehen in Minnesota war und dessen Baukultur mitbestimmt hat“.

Jane Hessions Verdienst ist es, ein Stück amerikanischer Architekturgeschichte erforscht und eine Strömung der Moderne österreichischer Provenienz in einem großartigen Buch öffentlich gemacht zu haben. Der Mehrwert für die hiesige Architekturrezeption ist, wie moderne Architektur in den USA realisiert werden konnte, während Europa durch den Nationalsozialismus dem Antimodernismus unterworfen wurde – „A Life in Modern Architecture“ ist die Gegenthese dazu. Elizabeth Scheu Close hatte durch Loos geprägt ihr eigenes Los bestimmt und der Moderne in Minnesota zum Durchbruch verholfen.

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