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Die Weltidee des Ungebauten
Neue Zürcher Zeitung

Cees Nooteboom und die Architektur

14. Juni 2000 - Robert Kaltenbrunner
Ein beispielhaftes Unterfangen: Man nehme einen Schriftsteller mit Affinität zur Baukunst und bitte ihn, aus einem Konvolut nicht realisierter Entwürfe eine Art architektonischer Weltidee zu formen. So geschehen nun durch Cees Nooteboom, der die niederländische Architekturgeschichte der letzten 150 Jahre auf eigenwillig- suggestive Weise Revue passieren lässt. Nootebooms «Nie gebaute Niederlande» will zeigen, dass diese Region ganz anders hätte aussehen können. So banal diese Botschaft klingen mag, so faszinierend ist sie bei näherem Hinsehen. Denn das Buch manifestiert zugleich auch, wie dieses Land einst ausgesehen hat. Selten sei, wie Nooteboom zur Begründung dieses Paradoxes anführt, «Wünschen, Sehnsüchten, Ideen und Träumen so klar und übergenau Ausdruck verliehen worden wie in der nicht gebauten Architektur».

Offeriert wird von Nooteboom eine Art apokrypher Historie: So blieb beispielsweise das Neue Museum in Amsterdam von L. H. Eberson deshalb ungebaut, weil es nicht einem «niederländischen» Stil, sondern der Formensprache von Louis XVI verpflichtet war. Nootebooms Beispiele reichen von W. C. Bauers Wettbewerbsentwürfen, in denen byzantinische und islamische Architekturelemente aufscheinen, über das Allgemeine Bibliotheksgebäude von K. P. C. de Bazel (1895) bis hin zu Berlages Projekt eines Beethovenhauses in Bloemendaal (1908). Dass auch unrealisierte Bauten den Beschauer manipulieren können, offenbaren zu Beginn der zwanziger Jahre die expressiven Wolkenkratzergebilde eines J. C. van Epen sowie die an die Revolutionsarchitektur eines Ledoux und Boullée angenäherte Vision einer Lichtstadt von H. P. J. London.

Spätestens hier erreicht der Spannungsbogen den Nährboden der klassischen Moderne: J. J. P. van Oud konzipierte 1919 in Purmerend eine Fabrik mit Büros und Magazinen, die das, was Mondrian im Zweidimensionalen realisiert hat, in den Raum zu übersetzen trachtete. Rietvelds «Kernwohnungen» (1940) gehorchten der Not und Van den Broeks und Bakemas Pampusplan für Amsterdam (1964/65) dem Geist der Zeit. Die Parlamentserweiterung von OMA (Rem Koolhaas mit Zaha Hadid, 1977) und das Einkaufszentrum Z-Mall in Leidschenveen (1997) von MVRDV mit der einer Ziehharmonika ähnelnden Baustruktur runden die subjektive Palette an Papier gebliebener Architektur ab. Eine beredte und bildmächtige Geschichte im Konjunktiv - wenn all dies nicht ungebaut geblieben wäre, dann, so Nooteboom, würde es auf uns einwirken wie alles andere um uns herum. Umso verführerischer, all dies durch die Brille des Literaten zu erblicken. Denn «im nicht Gebauten sehen wir uns, wie wir nicht geworden sind».


[ Cees Nooteboom: Nie gebaute Niederlande. Deutsche Verlags-Anstalt, München 1999. 120 S., Fr. 46.-. ]

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