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Wie ein Quartier entsteht
Neue Zürcher Zeitung

Vom Flughafen München-Riem zur Messestadt

München ist bekannt als Stadt der Musik, der Theater und des Oktoberfests. Doch als Heimstatt moderner Architektur? Da herrscht selbst in Fachkreisen Skepsis. Dabei ist ein ganzer Stadtteil im Entstehen: Auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens sucht die Messestadt Riem nach einer neuen Urbanität in Citynähe.

4. Juni 1999 - Oliver Herwig
Vom Tower des Flughafens Riem hatte man früher einen guten Überblick. Nun blockt die neue Messe alle Sicht nach Osten ab, und Schotter umspült die Überbleibsel des Airports. Kein Jet würde hier noch zur Landung ansetzen. Nur Kondensstreifen künden vom regen Flugverkehr über München. Mit einemmal wirken Wappenhalle und Kontrollturm wie Kulissen einer vergessenen Inszenierung. Wo bis zum 17. Mai 1992 Jets in die Lüfte stiegen, prägen neben weiten, meist noch unbebauten Flächen Dutzende von Baugruben und Kränen das Bild. Doch generalstabsmässig schieben sich erste Gebäude vor und setzen neue Landmarken, die das riesige Areal aufteilen. 556 Hektaren Schotter-, Gras- und Sandflächen weichen parzellierten Einheiten und fügen sich in ein klares Raster von Verbindungswegen. In 15 Jahren wird der Wandel vom einstigen Flughafenareal zum modernsten Stadtteil Münchens abgeschlossen sein. Schon heute sind die Umrisslinien des Projekts erkennbar. Rund um die bereits realisierten Bauten - das Internationale Congress-Centrum, die Neue Messe, die Feuerwache und die Grund- und Hauptschule Riem - soll Urbanität wachsen: Wohngebiete für 16 000 Menschen und beinahe ebenso viele Arbeitsplätze. Wenn schon nicht «nachhaltig» gebaut werden kann, so soll doch zumindest ein grüner Bezirk wachsen, in dem sich Ökonomie und Ökologie nicht ausschliessen. Dazu muss allerdings aus den drei Hauptelementen des neuen Quartiers - Wohn-, Messe- und Gewerbebauten - ein lebendiges Ensemble wachsen.


Das Alte im Neuen

Vom eleganten Oval der Flughafenanlage wird kaum mehr als ein rudimentärer Bogen bleiben, der sich nach Süden, im künftigen Landschaftspark, vollends verliert. Schon rosten die Schilder am mannshohen Draht. Aber für einige Zeit werden sich neue und alte Zeichensysteme überlagern und zumindest Chiffren des Airports erkennbar bleiben. Bevor das Koordinatennetz der Messestadt endgültig die Regie übernimmt, bildet das Areal seinen eigenen Subtext aus, ein Palimpsest, das entziffert werden will. Noch immer etwa ist die einstige Start- und Landebahn zu ahnen, freilich um etliches nach Süden verschoben, so, als hätten Riesenhände die alten Markierungen ausradiert und kurzerhand verlegt. Denn auch Neu- Riem besitzt eine markante Magistrale: Anderthalb Kilometer gerade Strecke, bis die Willy- Brandt-Allee im De-Gasperi-Bogen zum Zubringer für die Autobahn 94 wird.

Gleichwohl ist hier Individualverkehr nur geduldet. Für die eigentliche Anbindung ans Zentrum sorgt die verlängerte U-Bahn-Linie der «U 2» mit ihren Haltestellen «Messestadt West» und «Messestadt Ost». Sie bildet das verkehrstechnische Rückgrat des Quartiers, das bisher nur mit S-Bahn und Bus zu erreichen war. Von hier aus wachsen im ersten Bauabschnitt Wohnzellen. Auch sie hängen mittelbar am Zentralnervensystem der Willy-Brandt-Allee. Während also nach Süden das Gelände in einem Landschaftspark auslaufen wird, formen sich nach Westen, in Richtung Stadtzentrum, härtere Grenzen. Hier werden Reviere abgesteckt für Gewerbeansiedlungen. Ähnliches gilt für den Osten. Nahe Salmdorf werden einmal Ver- und Entsorgungsflächen stehen.


Eine Messe für die Stadt München

Über Jahrzehnte gewachsen, waren die Messehallen auf der Theresienhöhe in den achtziger Jahren erschöpft. Aussicht auf Erweiterung bestand nicht mehr. 1987 fiel schliesslich die Entscheidung für den neuen Standort Riem, und im Juli 1991 wurde europaweit ein städtebaulicher Ideenwettbewerb zur künftigen Nutzung des Flughafengeländes München-Riem ausgeschrieben, den das Büro Jürgen Frauenfeld aus Frankfurt a. M. unter 75 Teilnehmern gewann. Bereits zum Jahreswechsel folgte ein Realisierungswettbewerb zur Neuen Messe. Den ersten Preis errangen die dänischen Architekten Erik Bystrup, Torben Bregenhøj, Eva Jarl Hansen, Peter Mortensen und Bjørn Vandborg aus Kopenhagen. «Ruhe und Klarheit der Gebäudehüllen war uns oberstes Gebot», erklärt Bregenhøj, «hochwertige Materialien sollten helle und grosszügige Räume charakterisieren.» So sind die Baukörper denn auch geworden: elegant, aber langweilig.

Die Dänen schufen eine funktionale, das Areal zügig erschliessende Architektur, die trotz ihren Ausmassen zurückhaltend wirkt. Im ersten Bauabschnitt verfügt die Neue Messe über 140 000 Quadratmeter, im Endausbau werden es 200 000 sein, was München auf Platz vier der Messestandorte innerhalb der Bundesrepublik katapultieren wird: nach Hannover, Köln und Frankfurt, gleichauf mit Düsseldorf, aber noch vor Berlin und Leipzig. Das 650 Meter lange und 35 Meter breite Atrium verbindet die zwölf linear angeordneten, stützenfreien Messehallen und wird so zur öffentlichen Wandelhalle. Schade nur, dass zwischen den weiss und silbergrau glänzenden Bauten und ihren filigranen Fassaden aus Metall und Glas kein Blick auf die Alpensilhouette möglich ist wie etwa von der gegenüberliegenden Feuerwache.


Mondlandschaft mit Monolithen

Aus dem Nirgendwo, einem gespenstischen Scheideweg der Planstrassen X und 3, wuchs im April 1998 Münchens modernste Feuerwache: ein winkelförmiger Bau von fast japanisch anmutender Schlichtheit. Architekt Reinhard Bauer bewies aber auch einen Sinn fürs Exquisite: Im Inneren steht Ahornholz gegen Sichtbeton; geätztes Glas und Schiebetüren öffnen die Besprechungsräume zum Gang hin. Für Bauer, der an der TU München studierte und danach in Berlin und München arbeitete, war das Projekt einer seiner ersten grossen Aufträge. Als er 1995 den Wettbewerb gewann, wollte er jede plumpe Assoziation an «Feuer» vermeiden. Selbst die Signalfarbe Rot oder ein Schlauchturm schienen ihm bereits zuviel. Statt dessen spricht der Bau in Silbergrau und Schwarz - mit subtilen Botschaften und kleinen Fingerzeigen - von seiner Bestimmung. Vor den Ruhequartieren des einen Flügels erhebt sich etwa eine Lavawand, und das Dach ist, für den Passanten unsichtbar, mit Ziegelsplitt gedeckt - rot, immerhin. Bauers minimalistisches Programm spiegelt sich ebenso im Eingangsbereich, wo es, nur knapp über dem Boden, in schlichten Lettern heisst: «Feuerwache 10».

Von ähnlicher Prägnanz ist die Grund- und Hauptschule Riem. In dieser Unterrichtsstätte mit ihren winzigen Zellenfenstern in der holzverkleideten Fassade könnte man durchaus einen Gefängnisbau vermuten. Dabei ist das spartanische Aussehen eher auf zuviel denn auf zuwenig Planung zurückzuführen. Dem Stuttgarter Büro Mahler, Günter, Fuchs gelang ein markanter, auf Fernwirkung angelegter Bau. Vor- und zurückspringende Flügel und der überzeugend in die Front eingebundene Kubus der Hausmeisterwohnung lassen den Raum zwischen den «Kisten» nicht als Vakuum erscheinen, sondern betonen eine musikalische, kontrapunktische Anlage. Der Reiz des Einfachen, hier ist er greifbar: als Abfolge eleganter Baukörper.


Planung und Struktur

Fünf Wettbewerbe waren nötig, um dem riesigen Areal zumindest auf dem Papier Gestalt zu verleihen - 556 Hektaren Bauland in München, wann hat es das zuletzt gegeben? Man darf hierin wohl den Versuch sehen, ein übergeordnetes Gestaltungskonzept im ausfransenden Gelände der Peripherie zu verwirklichen. Eine gute Hand bewiesen die Bauherren bei den öffentlichen Gebäuden. Nun müssen sich um diese Kondensationskerne Wohn- und Geschäftsbauten lagern und die Leere füllen, die vom Oval des Flugfelds noch ausgeht. So gross die Aufgabe, so pragmatisch war Münchens Zugriff. Planung und Koordination des Wandels im «wilden Osten» liegen nämlich in den Händen des «Massnahmeträgers München-Riem GmbH», kurz MRG. Dahinter verbirgt sich keine städtische Beteiligungsgesellschaft, sondern eine private Konstruktion, je zur Hälfte getragen von der GBWAG (Bayerische Wohnungs-Aktiengesellschaft), einem Wohnbauunternehmen, und der Gewerbegrund, einem Projektentwickler. «Wir haben kein Gewinninteresse, sondern leben von einem vereinbarten Honorar, das die Stadt München bezahlt», erklärt der kaufmännische Geschäftsführer Franz Eichele. «Unsere Tätigkeit geht bis zur Erschliessung und Parzellierung der Grundstücke. Sie schliesst keine Grundstücksgeschäfte mit ein. Die Grundstücke sind überwiegend Eigentum der Stadt und werden durch sie verkauft.»

Um die Interessen der Landeshauptstadt zu wahren, existiert ein Beirat, dessen Vorsitz bei Oberbürgermeister Christian Ude liegt. Der Beirat tagt alle drei bis vier Wochen, und ihm sind alle wesentlichen Entscheidungen zur Zustimmung vorzulegen. Als grössten Vorteil gegenüber staatlichen Stellen sieht Eichele die Flexibilität des Unternehmens, das aus derzeit 15 Mitarbeitern besteht: Hier gibt es «kürzere Entscheidungswege». Dies hat unter anderem dazu geführt, dass man die einzelnen Projekte auch im Terminplan und Kostenrahmen, hinsichtlich der Kosten sogar deutlich günstiger als budgetiert, erstellen konnte. Rund 2600 Wohnungen wurden im ersten Bauabschnitt geschaffen, und wenn es zunächst auch Verzögerungen gab, so läuft die Placierung am Markt doch planmässig. Eine Prognose bis ins Jahr 2013, dem voraussichtlichen Ende der Baumassnahmen, wagt freilich niemand abzugeben - zu unwägbar ist die Entwicklung über anderthalb Jahrzehnte.

Grün soll das Quartier werden, mit kurzen Wegen zwischen Arbeit und Wohnen, ein Stadtteil mit hohem Erholungswert, in der - wohl vergeblichen - Hoffnung, auch manchen Weltenbummler und Kurzurlauber zu fesseln. Unwillkürlich drängt sich da der Gedanke an Siedlungsprojekte der klassischen Moderne auf, aber auch an Gartenstädte und den gar nicht mehr so neuen Versuch, Ökonomie und Ökologie zu versöhnen. In den Blick kommen freilich auch die Grenzen einer «längst nicht mehr zu leistenden planerischen Fürsorglichkeit». Erst die Zukunft wird zeigen, ob das Konzept der Neuen Messe im Münchner Osten aufgeht. In Riem jedenfalls scheint vorsichtiger Aufbruch angesagt inmitten der saturierten Stadt München.


[ Literatur zum Thema: Messe München. Entwurf, Planung, Realisation. Prestel-Verlag, München 1998. 159 S., Fr. 98.-. ]

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