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Völlig losgelöst
Neue Zürcher Zeitung

Design für den Weltraum

Es wird das teuerste Bauwerk aller Zeiten, und es befindet sich nicht einmal auf der Erde. 16 Nationen arbeiten an der Internationalen Raumstation ISS. Die ersten Module sind bereits im Orbit. Wie lebt es sich in der Schwerelosigkeit? Und wie antworten Designer auf die Herausforderungen des Weltraums? In München erforscht man ganzheitliche Lösungen für das All.

10. Juni 1999 - Oliver Herwig
Im Weltraum, das heisst einige hundert Kilometer über der Erdoberfläche, scheinen 10 000 Jahre Zivilisation wie ausradiert. Alles beginnt von vorn. Den Anfang macht das Selbstverständliche. Denn im Gegensatz zu den leuchtenden Bildern der Science-fiction ist kein irdischer Tisch und kein Stuhl fürs All geeignet. Wie funktioniert eine Space-Dusche? Und wie die Toilette in der Schwerelosigkeit? Was ist beim Waschen zu beachten, wenn jeder Tropfen seine eigene Umlaufbahn einschlägt? Können Menschen kopfunter schlafen, oder ist die Frage nach der Orientierung irrelevant? Modernste Technik und viel Erfindergeist müssen zusammenkommen, wenn der Mensch im All überleben will. Bisher herrschte an Bord der Raumfahrzeuge die nackte Armut. Oder das Chaos - wie in der russischen Mir, die nur durch den Überlebenswillen wagemutiger Improvisationskünstler zusammengehalten wird. Abhilfe ist zumindest für die russischen Kosmonauten nicht in Sicht. Denn jedes Kilogramm, das mühsam ins All transportiert werden muss, schlägt mit etwa 40 000 Dollar zu Buche. Kein Wunder, dass selbst die Ingenieure der Nasa ganz zuletzt an Komfort dachten, als sie den Spaceshuttle entwarfen. Privatsphäre gibt es dort nicht, selbst die Toilette ist öffentlich. Das soll mit der Internationalen Raumstation ISS nun anders werden. Design lautet das Zauberwort.


Entwerfen heisst lernen

Während im All bereits die ersten ISS-Module zusammengefügt werden, arbeitet man an der Technischen Universität München unter Hochdruck am Aussehen eines ergonomischen Space- Habitats: Wohnen, schlafen, essen, arbeiten, duschen - alles steht auf dem Prüfstand und muss neu erfunden oder doch sinnvoll an die Schwerelosigkeit angepasst werden. Raumfahrttechniker und Architekten sind deshalb an dem Projekt gleichermassen beteiligt. In den vergangenen Jahren wurde am Lehrstuhl von Professor Eduard Igenbergs der «Munich Space Chair» entwickelt: eine Vorrichtung, mit deren Hilfe sich Astronauten fest im Raum verankern konnten. Drei Orbitalmodelle existieren von dem gleichermassen durch die Universität, die Industrie und den bayrischen Staat finanzierten Prototyp, eines davon im leckgeschlagenen Spectre-Modul der russischen Raumstation Mir.

Auf der Grundlage dieser Erfahrungen konnte man sich am Lehrstuhl von Professor Richard Horden an komplexe Fragestellungen - wie eine Tisch-Stuhl-Kombination - wagen. Die «Micro Architecture Unit Munich» scheint für Aufgaben dieser Art prädestiniert. Denn hier gilt die Devise: «Touch the earth lightly.» Der poetische Satz ist Programm, wenn es darum geht, Material einzusparen und mit einem Minimum an Aufwand flexible und belastbare Lösungen zu entwickeln. Die Studenten «sollen lernen, komplexe Anforderungen einfach zu erfüllen», erklärt Lydia Haack, die zusammen mit ihrem Team am Tisch der Raumstation arbeitet. Für die angehenden Architekten scheint das schon Routine. Denn Teil ihrer Ausbildung besteht darin, eigene Projekte nicht nur zu tadelloser Papierform zu bringen, sondern diese auch selbst zu realisieren, also tatsächlich zu bauen, dafür Sponsoren zu finden und die Idee womöglich noch zu vermarkten. Entstanden sind auf diese Weise so unkonventionelle Arbeiten wie der «Kajak Testpoint» oder der «Silver Spider», ein fragiles Metallgerüst in Leichtbautechnik. Bei aufwendigen Entwicklungen wie dem Design der Raumstation ist die Finanzkraft der Uni freilich schnell überfordert. Privates Sponsoring ist gefragt.

Das Architekturstudio im vierten Stock der TU München bietet markante Blickachsen auf Frauenkirche und Zugspitze. Eine weitere geht neuerdings geradewegs nach oben, in Richtung Raumstation. «Wir alle lernen, was es heisst, für den Weltraum zu bauen», erklärt Horden, der im Oktober 1996 den Lehrstuhl für Entwerfen und Gebäudelehre übernahm. Demnächst wird der Titel in «Gebäudelehre und Produktentwicklung» geändert, denn nichts anderes unterrichtet man hier: eine Verbindung von Architektur und Produktdesign. Drei Projekte für die Raumstation - «Galley, Kochen/Essen», «Crew quarter/Private space, Mannschafts und Privatquartiere» und «Hygiene facility design, Körperhygiene» - sind in der engeren Wahl. Gerade durchlaufen sie verschiedene Testphasen, immer in der Hoffnung, einen Prototyp mit auf den für Juli angesetzten Parabelflug mit der «KC 135» zu nehmen. An Bord einer leergeräumten Boeing kann für 25 Sekunden Schwerelosigkeit simuliert werden, bis der Pilot den antriebslosen Sturzflug wieder abfängt. Während das Flugzeug aus grosser Höhe um mehrere tausend Meter fällt, müssen die Probanden unter Weltraumbedingungen testen, was es heisst, den Tisch zu besteigen, sich zu arretieren - und womöglich noch zu arbeiten.


Das Leben im All

Was im Weltall so leicht wirkt, muss durch äusserste Konzentration erkauft werden: Eine winzige Bewegung genügt, und schon schweben die Astronauten quer durch den Raum, weg von den Kontrolltafeln. Wer sich hier nicht «anschnallt», kommt leicht ins Trudeln. Der weiterentwickelte «Munich Space Chair», der in seiner jetzigen Ausführung aus Alu-Stangen an ein überdimensionales Spielzeug aus der Kinderstube erinnert, hat seine Feuertaufe bereits hinter sich. Unter Wasser - also unter weltraumähnlichen Umständen - wurden der richtige Sitz, die Passgenauigkeit und das Zusammenspiel der einzelnen Elemente geprobt. In seiner endgültigen Form wird er als filigranes Metallgestänge die wichtigsten Funktionen eines heimischen Sekretärs samt Stuhl übernehmen. Zwischen beweglichen Metallplatten werden Oberschenkel und Gesäss fixiert, die gleichfalls bewegliche Tischplatte ermöglicht dann konzentriertes Arbeiten in der Schwerelosigkeit.

Der Mensch ist ein geborener Raumfahrer. Zumindest scheint es so, wenn Astronauten schwerelos durchs All gleiten. Tatsächlich nimmt der schwebende Körper im Ruhezustand, der sogenannten «neutral position», eine fötale Stellung ein: die Knie leicht zum Körper gezogen, die Arme frei auf Höhe der Schultern schwebend. Eine gewohnte Ausrichtung nach irdischem Vorbild, mit ausgestreckten Beinen, wäre «dort oben» mit Anstrengungen verbunden. Nicht nur deshalb bedeutet Design für den Weltraum, alte Gewohnheiten über Bord zu werfen. Zunächst fällt die Vorstellung von Schwere: «Bereits beim Bau der Pyramiden hielt man Masse und Gewicht für das Wichtigste. Und daran hat sich seit 5000 Jahren nichts geändert», erklärt Horden und fügt hinzu: «Unser Design ähnelt eher dem von Autos oder von Flugzeugen und weniger konventioneller Architektur.» Als verbindendes Element von «microarchitecture» und «microgravity» sieht er nicht nur radikale Leichtbauprinzipien, sondern ein fundamentales Verständnis für den Menschen im Raum. «Wie arbeitet man im Weltraum?» ist eine der ersten Fragen an die Studenten.

Ganzheitliches Denken bestimmt die Mikroarchitektur: Ökologie im High-Tech-Gewand. Hier liegt denn auch die Bedeutung der Raumfahrt-Architektur für das tägliche Leben: «In Zukunft», so meint Horden, «müssen wir lernen, mehr mit erheblich weniger Aufwand zu erstellen.» Der Weltraum dient dazu lediglich als Katalysator. Dort oben entsteht eine ganz neue Ästhetik. Wasser glitzert kostbarer als jeder Diamant. So lag es nahe, den verfügbaren Vorrat nicht irgendwo wegzuschliessen, sondern als Blickfang für die Crew einzusetzen - glitzerndes Nass hinter Glas. «Millionen Dinge warten nur darauf, entdeckt zu werden. Es ist so, als ob man eine Schatztruhe öffnet», erklärt der Engländer. Von diesem Optimismus hat ein guter Teil Eingang in das Faltblatt zur Raumstation gefunden. Ein weisser Pfeil schwebt dort durchs All. «We are here», steht darüber zu lesen. Und tatsächlich erkennt man die Erde, als glitzernde blaue Kugel, umringt von Venus und Mars, auf dünnen Umlaufbahnen um unser Zentralgestirn. So einfach ist das, vom Weltraum aus gesehen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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