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Wer schreit lauter?
Im Lockdown meist geschlossen, aber zugleich so zugänglich wie noch nie: Architekturmuseen in ganz Europa. Ein Spaziergang – vom Schreibtischsessel aus.
12. Februar 2021 - Christian Kühn
Nennen wir es das „Lockdown-Paradoxon“. Einerseits stehen wir vor verschlossenen Türen. Die meisten Kulturinstitutionen sind gesperrt, und selbst wenn sie ihre Hallen wieder öffnen, dürfen die Besucher nicht zum Publikum werden: Abstandsregeln und Masken zwingen sie, distanziert, also quasi privat zu bleiben. An Ausstellungseröffnungen oder Vorträge vor Ort ist sowieso nicht zu denken.
Andererseits stehen uns dieselben Institutionen digital in einem bisher unbekannten Ausmaß offen. Einen Webauftritt zur Ankündigung des Programms hatte jede von ihnen schon bisher. Unter Corona-Bedingungen versuchen sie nun, den Besuchern ein digitales Erlebnis zu bieten, das sich einem realen Besuch annähert. Das gilt für die unzähligen Vorträge, die auf ein Online-Angebot umgestellt wurden, aber auch für Ausstellungen, die auf unterschiedliche Art digital vermittelt werden. Da es für diese Angebote keine geografischen Grenzen mehr gibt, explodiert durch den Lockdown – paradoxerweise – das weltweit zugängliche Angebot.
Am weitesten entwickelt sind diese Angebote dort, wo man schon vor der Corona-Krise systematisch auf digitale Medien setzte, beispielsweise im Pavillon d'Arsenale, dem Pariser Zentrum für Architektur und Urbanismus. Hier werden seit über zehn Jahren unter dem Titel „Arsenal TV“ kurze, nicht länger als ein paar Minuten dauernde Videos präsentiert, in denen Architektinnen und Architekten ihre Projekte vorstellen. Zu zwei Ausstellungen des Jahres 2020, eine über die Champs Élysées und eine über Artificial Intelligence in der Architektur, gibt es virtuelle Rundgänge mit der Möglichkeit, in einzelne Exponate zu zoomen. Beide wirken leider steril und bieten im Vergleich zu einem gut gemachten Katalog keinerlei zusätzlichen Wert. Ein kreativer Einsatz der Technologie müsste zumindest das Niveau guter Computerspiele erreichen.
Zur aktuellen Ausstellung des Schweizer Architekten Philippe Rahm über die „Naturgeschichte der Architektur“ finden sich nur eine Broschüre zum Download und einige Fotos, die neugierig machen. Eine Auswahl von Videos, in denen Rahm über seine architektonische Grundlagenforschung zur Beziehung von Energie, Umwelt und Architektur berichtet, ist allerdings nur ein paar Klicks entfernt auf YouTube zu finden.
Dass es sich lohnt, eine Ausstellung online zu präsentieren, beweist das Architekturzentrum Wien. „Boden für alle“ heißt die aktuelle, hervorragend aufbereitete Schau zu einem nur auf den ersten Blick spröden Thema, nämlich unseren Umgang mit der nicht vermehrbaren Ressource Boden. Der Katalog übersetzt seriös recherchierte Fakten in eine leicht verständliche Darstellung, die sich auch nicht scheut, Widmungsabläufe in einer Landgemeinde als Foto-Roman darzustellen. Zusätzlich bietet das AzW auch eine 20 Minuten dauernde Videoführung durch die Ausstellung an, in der die Direktorin Angelika Fitz abwechselnd mit den Kuratorinnen Karoline Mayer und Katharina Ritter durch die Stationen der Ausstellung führt. Diese Triple-Conference ist ausgesprochen kurzweilig und weit mehr als nur ein „Teaser“ für die Ausstellung.
Ein ähnliches Angebot findet sich im Aut, dem Tiroler Architekturhaus in Innsbruck, dessen Ausstellung über die 1970er-Jahre, „Widerstand und Wandel“, Mitte März 2020 nach nur drei Wochen schließen musste. In einer Serie von Videos, die während des ersten Lockdowns entstanden sind, führt der Leiter des Aut, Arno Ritter, durch die Ausstellung, teilweise im Gespräch mit Zeitzeugen. Begleitend werden Teile des Katalogs zum Download angeboten. Als Präsentator zwischen den zahlreichen Ausstellungsobjekten lässt Ritter seine virtuellen Besucher deutlich sein Bedauern spüren, dass sie etwas versäumen. Für die laufende Ausstellung der Künstlerin Carmen Müller, „Von Gärten, Pflanzen und Menschen“, verzichtet das Aut auf solche Untertöne. Zwei schöne Videoarbeiten begleiten die Ausstellung, eine von Valerie Messini zum Werk der Künstlerin und eine Dokumentation der Ausstellungsinstallation, gefilmt von Günter Richard Wett.
Auch das DAM, das deutsche Architekturmuseum in Frankfurt, setzt auf den Garten, allerdings aus technischer Sicht. „Einfach Grün“ heißt die Ende Jänner virtuell eröffnete Ausstellung über die Welt der Fassaden- und Dachbegrünung. Neben einem Video der Eröffnung finden sich zahlreiche aufgezeichnete „Zoom“-Sessions mit Experteninterviews – ein ermüdendes Format, das wohl nur den interessiertesten unter den Besuchern zumutbar ist.
Die zweite aktuelle Ausstellung präsentiert mit eigener Website die Gewinner des DAM-Preises, mit dem jährlich aus rund 100 Nominierungen das beste deutsche Projekt des Jahres gekürt wird. Während die nominierten Projekte teilweise von zweifelhafter Qualität sind, hat die Jury bei den vier Finalisten tatsächlich hervorragende ausgewählt: ein öffentliches Haus für die Stadtverwaltung von Oberhausen mit integriertem Dachgewächshaus von Kuehn Malvezzi, die Hochschule für Schauspielkunst in Berlin von O&O Baukunst, das Wohnregal von FAR in Berlin und schließlich den Preisträger, das „Werk 12“ im Münchner Werksviertel Mitte von den niederländischen Architekten MVRDV, ein gemischt genutztes Betonregal mit tiefen umlaufenden Balkonen und 5,5 Meter hohen Räumen, in die teilweise eine zweite Ebene eingezogen ist. Als Kunst am Bau haben Beate Engl und Christian Engelmann die Fassade mit geschoßhohen, nachts leuchtenden Buchstaben garniert, die Ausrufe aus Comics zitieren: HMPF, AAHHH, WOW und PUH.
Ein Video der Ausstellung zeigt dieses Projekt, präsentiert wie einen Schatz im Mittelpunkt der weiß verputzten Urhütte, die Oswald Matthias Ungers 1984 ins Zentrum der zum Architekturmuseum umgebauten Villa gesetzt hat. Ungers' absolute Architektur mit ihrem Hang zum schweigend Erhabenen trifft auf eine Architektur der rohen Infrastruktur, die gar nicht laut genug schreien kann.
MVRDV haben mit diesem ironischen Projekt den Zeitgeist karikiert: Im globalen Wettbewerb der Bilder nimmt die Versuchung zu, mit allen Mitteln aufzufallen. Architekturmuseen und -zentren sollten die Orte sein, an denen hinter die Kulissen geblickt und nach den Bedingungen gesucht wird, die gute Architektur erst möglich machen.
Andererseits stehen uns dieselben Institutionen digital in einem bisher unbekannten Ausmaß offen. Einen Webauftritt zur Ankündigung des Programms hatte jede von ihnen schon bisher. Unter Corona-Bedingungen versuchen sie nun, den Besuchern ein digitales Erlebnis zu bieten, das sich einem realen Besuch annähert. Das gilt für die unzähligen Vorträge, die auf ein Online-Angebot umgestellt wurden, aber auch für Ausstellungen, die auf unterschiedliche Art digital vermittelt werden. Da es für diese Angebote keine geografischen Grenzen mehr gibt, explodiert durch den Lockdown – paradoxerweise – das weltweit zugängliche Angebot.
Am weitesten entwickelt sind diese Angebote dort, wo man schon vor der Corona-Krise systematisch auf digitale Medien setzte, beispielsweise im Pavillon d'Arsenale, dem Pariser Zentrum für Architektur und Urbanismus. Hier werden seit über zehn Jahren unter dem Titel „Arsenal TV“ kurze, nicht länger als ein paar Minuten dauernde Videos präsentiert, in denen Architektinnen und Architekten ihre Projekte vorstellen. Zu zwei Ausstellungen des Jahres 2020, eine über die Champs Élysées und eine über Artificial Intelligence in der Architektur, gibt es virtuelle Rundgänge mit der Möglichkeit, in einzelne Exponate zu zoomen. Beide wirken leider steril und bieten im Vergleich zu einem gut gemachten Katalog keinerlei zusätzlichen Wert. Ein kreativer Einsatz der Technologie müsste zumindest das Niveau guter Computerspiele erreichen.
Zur aktuellen Ausstellung des Schweizer Architekten Philippe Rahm über die „Naturgeschichte der Architektur“ finden sich nur eine Broschüre zum Download und einige Fotos, die neugierig machen. Eine Auswahl von Videos, in denen Rahm über seine architektonische Grundlagenforschung zur Beziehung von Energie, Umwelt und Architektur berichtet, ist allerdings nur ein paar Klicks entfernt auf YouTube zu finden.
Dass es sich lohnt, eine Ausstellung online zu präsentieren, beweist das Architekturzentrum Wien. „Boden für alle“ heißt die aktuelle, hervorragend aufbereitete Schau zu einem nur auf den ersten Blick spröden Thema, nämlich unseren Umgang mit der nicht vermehrbaren Ressource Boden. Der Katalog übersetzt seriös recherchierte Fakten in eine leicht verständliche Darstellung, die sich auch nicht scheut, Widmungsabläufe in einer Landgemeinde als Foto-Roman darzustellen. Zusätzlich bietet das AzW auch eine 20 Minuten dauernde Videoführung durch die Ausstellung an, in der die Direktorin Angelika Fitz abwechselnd mit den Kuratorinnen Karoline Mayer und Katharina Ritter durch die Stationen der Ausstellung führt. Diese Triple-Conference ist ausgesprochen kurzweilig und weit mehr als nur ein „Teaser“ für die Ausstellung.
Ein ähnliches Angebot findet sich im Aut, dem Tiroler Architekturhaus in Innsbruck, dessen Ausstellung über die 1970er-Jahre, „Widerstand und Wandel“, Mitte März 2020 nach nur drei Wochen schließen musste. In einer Serie von Videos, die während des ersten Lockdowns entstanden sind, führt der Leiter des Aut, Arno Ritter, durch die Ausstellung, teilweise im Gespräch mit Zeitzeugen. Begleitend werden Teile des Katalogs zum Download angeboten. Als Präsentator zwischen den zahlreichen Ausstellungsobjekten lässt Ritter seine virtuellen Besucher deutlich sein Bedauern spüren, dass sie etwas versäumen. Für die laufende Ausstellung der Künstlerin Carmen Müller, „Von Gärten, Pflanzen und Menschen“, verzichtet das Aut auf solche Untertöne. Zwei schöne Videoarbeiten begleiten die Ausstellung, eine von Valerie Messini zum Werk der Künstlerin und eine Dokumentation der Ausstellungsinstallation, gefilmt von Günter Richard Wett.
Auch das DAM, das deutsche Architekturmuseum in Frankfurt, setzt auf den Garten, allerdings aus technischer Sicht. „Einfach Grün“ heißt die Ende Jänner virtuell eröffnete Ausstellung über die Welt der Fassaden- und Dachbegrünung. Neben einem Video der Eröffnung finden sich zahlreiche aufgezeichnete „Zoom“-Sessions mit Experteninterviews – ein ermüdendes Format, das wohl nur den interessiertesten unter den Besuchern zumutbar ist.
Die zweite aktuelle Ausstellung präsentiert mit eigener Website die Gewinner des DAM-Preises, mit dem jährlich aus rund 100 Nominierungen das beste deutsche Projekt des Jahres gekürt wird. Während die nominierten Projekte teilweise von zweifelhafter Qualität sind, hat die Jury bei den vier Finalisten tatsächlich hervorragende ausgewählt: ein öffentliches Haus für die Stadtverwaltung von Oberhausen mit integriertem Dachgewächshaus von Kuehn Malvezzi, die Hochschule für Schauspielkunst in Berlin von O&O Baukunst, das Wohnregal von FAR in Berlin und schließlich den Preisträger, das „Werk 12“ im Münchner Werksviertel Mitte von den niederländischen Architekten MVRDV, ein gemischt genutztes Betonregal mit tiefen umlaufenden Balkonen und 5,5 Meter hohen Räumen, in die teilweise eine zweite Ebene eingezogen ist. Als Kunst am Bau haben Beate Engl und Christian Engelmann die Fassade mit geschoßhohen, nachts leuchtenden Buchstaben garniert, die Ausrufe aus Comics zitieren: HMPF, AAHHH, WOW und PUH.
Ein Video der Ausstellung zeigt dieses Projekt, präsentiert wie einen Schatz im Mittelpunkt der weiß verputzten Urhütte, die Oswald Matthias Ungers 1984 ins Zentrum der zum Architekturmuseum umgebauten Villa gesetzt hat. Ungers' absolute Architektur mit ihrem Hang zum schweigend Erhabenen trifft auf eine Architektur der rohen Infrastruktur, die gar nicht laut genug schreien kann.
MVRDV haben mit diesem ironischen Projekt den Zeitgeist karikiert: Im globalen Wettbewerb der Bilder nimmt die Versuchung zu, mit allen Mitteln aufzufallen. Architekturmuseen und -zentren sollten die Orte sein, an denen hinter die Kulissen geblickt und nach den Bedingungen gesucht wird, die gute Architektur erst möglich machen.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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