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Das Raumschiff Erde als urbane Landschaft
Neue Zürcher Zeitung

«Metacity/Datatown» - das neue Manifest von MVRDV

Wir kriegen Probleme. Ernste Probleme. Platzprobleme. Wie bei einem Sehtest schieben sich rote und grüne Kreise ineinander. Die Diagnose stimmt bedenklich: Die Weltbevölkerung wächst explosionsartig, und die bebaubare Erdoberfläche verringert sich dramatisch. Zwei Züge rasen aufeinander zu, und wenn es kracht, wird die Menschheit zwischen ihnen zerquetscht. So oder ähnlich fühlt sich, wer den Prolog zum neuen Theoriestück «Metacity/Datatown» des jungen Rotterdamer Architekturbüros MVRDV gelesen hat. Mit ihm beschreibt der Chefanalytiker der dreiköpfigen Architektencrew, Winy Maas, die Zukunft unserer Städte, mehr noch: das Raumschiff Erde als eine einzige urbane Landschaft.

Maas gibt es selbst zu: Er kann nicht anders, ist besessen: vom Drang zu drücken. Etwas zusammenzudrücken, vornehmlich die Stadt oder auch die menschliche Gesellschaft mit ihrem Platzbedürfnis, ist seine Obsession. Er drückt so lange, bis der Punkt des Widerstands kommt, mit dem die verborgenen Ordnungen herausspritzen. Es outet sich hier der Autor als ein Dekonstruktivist im ursprünglichen Sinne: Denn damit war keineswegs die furiose Chaos-Ästhetik zusammenstürzender Formen gemeint, sondern eine Denkhaltung: die kritische Demontage repressiver Ordnungen. Maas hebt unsere Gewohnheiten auf den Prüfstand. In «Metacity/Datatown» rechnet er uns die zukünftige Stadt mit 240 Millionen Einwohnern und Ausmassen von 60 000 km2 vor. Was passierte, wenn wir den jährlich anfallenden Müll dieser Stadt auf einen Haufen würfen? «Metacity/Datatown» kennt die Antwort: Es entstünde ein Berg, über einen halben Kilometer hoch und mit einem Volumen von 500 Millionen Kubikmetern! Giftgrün und von einem Schleier ungesunder Dämpfe umhüllt, ragte er über die Stadt. Ebenso monströs, giftgrün und bedrohlich sind Maas' CO2-Maschinen. Will man den gesamten CO2 -Ausstoss der Stadt kompensieren, würde ein Hochhaus mit Wald auf 250 Geschossen benötigt, das 6 Kilometer in die Höhe schiessen und eine Fläche von 11 717 km2 bieten würde. Ein ökologisches Ungeheuer, eine monumentale Gedenkstätte für die Abgase der Industrie.

Die Trilogie «Metacity/Datatown» baut auf drei Prophetien auf: 1. Die Metacity ist die weltumspannende Stadt, die das globale Dorf von heute ablösen wird. 2. Die Datatown ist eine Zwischenstufe auf dem Weg vom globalen Dorf zur Metacity. 3. Der Weg dahin führt über eine Kultur der Zahlen. Während der letzte Punkt schon heute Relevanz hat, bleiben die beiden anderen reine Zukunftsmusik: «You are entering Sector Living». So technoid-futuristisch werden die revolutionären Vorschläge zu einer radikalen Verdichtung unserer Städte eingeleitet. Städte, die sich mit der Globalisierung unserem Zugriff entziehen. Die Konsequenzen für Architektur und Urbanismus will dieses Manifest behandeln. Systematisch berauben MVRDV die Baukünstler und Städteplaner ihrer Besessenheit von Einzigartigkeit und Individualität: nicht das gezielte Gestaltenwollen, sondern das trockene Faktensammeln tritt angesichts des Bauens für neue Massen in den Vordergrund.

Wie schon in ihrer Theoriebibel «Farmax» bestechen die Gedanken von MVRDV in «Metacity/Datatown» durch die bildliche Aufbereitung. Für das eindrucksvolle Layout des Buches zeichnet Paul Ouwerkerk verantwortlich. Unverkennbar ist die Ähnlichkeit der Bücher von MVRDV mit Rem Koolhaas' Kultbuch «S,M,L,XL». Bei Koolhaas hat Maas drei Jahre lang gearbeitet und gelernt, dass eine reichhaltige Bebilderung die Theorie griffiger macht und sie den visuell, nicht sprachlich ausgerichteten (und daher lesefaulen) Architekten näherzubringen vermag. Doch auch inhaltlich lässt sich das neue Manifest von MVRDV nicht ohne den Koolhaasschen Vorläufer denken. Dessen «Kultur der Dichte» bildet die Basis für «Metacity/Datatown», auch wenn sie hier zu einer «Kultur der Zahlen» mutiert.

Mit Statistiken, Diagrammen und Computersimulationen führen MVRDV ihrem Publikum vor, was es heisst, heute Architektur zu machen. Will man der im Zahlenwust veranschaulichten Komplexität der Zwänge nicht verbittert unterliegen, muss es darum gehen, die Herausforderung mit Optimismus anzugehen. Deshalb schlagen die jungen Baumeister den Weg einer Managerarchitektur ein, deren Entwurf nicht von Raumvorstellungen seinen Ausgang nimmt, sondern von Verordnungen, Gesetzen und Bauherrenwünschen. Von Wirtschaftlichkeitsgedanken wie der Konsolidierung und der Synergieeffekte ist die Forderung durchdrungen, jeder Funktion ihr spezialisiertes Areal zuzuweisen. Von einer unüberschaubaren Durchmischung von Wohnen, Arbeiten, Industrie und Freizeit will Maas nichts wissen, und von städtischer Atmosphäre spricht er erst gar nicht. Entscheidend ist vielmehr ein optimales Funktionieren des zukünftigen Kolosses Stadtapparat.

Scharf oder unscharf? Daran entscheidet sich, ob dem Patienten eine Brille verpasst wird oder nicht. Der Optiker von Maas darf sich freuen. Denn Maas zeigt deutliche Sehschwächen oder guckt eben zu weit in eine verschwimmende Ferne. Sicher ist: Maas hat in «Metacity/Datatown» etwas zu grob gerastert, die Schubladen etwas zu gross gewählt, die Probleme nicht wirklich der Realität entnommen, sondern sich selbst eine Aufgabe gestellt. Wer das neue Genre der Architecture Fiction schätzt, muss das Buch haben. Es gibt bisher kein anderes. Alle übrigen brauchen nur zu wissen: Es wird für sie weitergedacht, in die Zukunft, mit ungewissem Ende.



[ MVRDV: Metacity/Datatown. 010 Publishers, Rotterdam 1999. 224 S., Fr. 35.-. Bereits im vergangenen Jahr erschienen ist: MVRDV: Farmax. Excursions on Density. 010 Publishers, Rotterdam 1998, 736 S., SFr. 65.-. Zu «Metacity/Datatown» ist noch bis zum 19. Juni in der MU Art Foundation in Eindhoven eine Videoinstallation zu sehen. ]

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