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Die Autobahn wird zum längsten Park der Stadt
Basel will von São Paulo lernen und demonstriert so auch seine Lust, Grossstadt zu sein.
14. April 2021 - Sabine von Fischer
«Einen Basler Boden müssten wir erfinden», sinniert Ursula Hürzeler auf dem Muster aus versetzten Rauten unter ihren Füssen. Wie es die brasilianische Designerin Mirthes Bernardes für ihre Stadt São Paulo getan hatte: Schwarze und weisse Pflastersteine bilden ein wellenartiges Muster aus den kantigen Steinen. Je nach Umgebung sind die Bewegungen enger oder greifen weit aus und zeichnen so den Fluss der Stadt nach.
Bodenbeläge tragen genauso wie Bäume oder Bänke zur Aufenthaltsqualität in Städten bei. Die Wertschätzung des öffentlichen Raums manifestiert sich so unter unseren Füssen, noch bevor Statuen, Brunnen, Vorzeigefassaden nach Blicken heischen. Das hatten São Paulos Behörden erkannt.
Wertschätzung mit Fusstritten
Bernardes’ schwungvolle Rhythmen halfen der brasilianischen Megacity der Nachkriegszeit, das Pulsieren der Stadt etwas leichter zu nehmen. Mirthes Bernardes (1934–2020) hatte 1966 den von der Stadtverwaltung ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen. Ihre Muster prägen bis heute prominente Strassenzüge, auch die Avenida Paulista, über der Lina Bo Bardis berühmtes Museum hängt. Der Bodenbelag erfuhr aber nie dieselbe Beachtung wie der brückenartige Glaskubus, der über den Köpfen der Menschen schwebt.
Sogar Autobahnen, die sonntags geschlossen sind, bieten Orte für Ruhe, Freizeit und Erholung im Grossstadtmoloch: Solchen identitätsbildenden Freiräumen widmet sich die Ausstellung «Access for All» im Schweizerischen Architekturmuseum (SAM) in Basel. Die Schau wird ihrem Titel gerecht: Für einmal können die Räume über eine fast 30 Meter lange Rampe direkt von der Strasse her betreten werden, mit freiem Eintritt.
Auf dem Trottoir am Steinenberg, inmitten der gepflegten Kulturmeile, stemmt sich diese Rampe in einem Gestänge aus Latten in die Höhe. «Wir möchten faktisch und performativ einen Zugang schaffen», erklärt Shadi Rahbaran die temporäre Intervention. Über ein schwarz-weisses Dreiecksmuster verlassen die Besucherinnen und Besucher den perfekt über die schallisolierten Tramschienen gegossenen Basler Asphalt. Ihre mentale Reise beginnt so schon vor dem Betreten des ersten Ausstellungsraums. Dort stehen wir dann auf einer Variante von Bernardes’ identitätsbildendem Rautenmuster, das eigentlich nur ein Bodenbelag ist – und eben viel mehr.
Weite in der Enge
Mit dieser Schau über soziale Freiräume in São Paulo fordert der Direktor Andreas Ruby die Basler zu einem Vergleich heraus. Die Stadt wird zur Bühne: Draussen blickt man aufs kürzlich von Herzog & de Meuron umgebaute Stadtcasino, drinnen auf eine raumhohe Tapete mit dem Bild eines dicht bevölkerten Swimmingpools vor einer Hochhauskulisse. Das Wasserbecken liegt auf dem Dach des vor drei Jahren eröffneten Komplexes 24 de Maio. Die vierzehn Geschosse des ehemaligen Einkaufszentrums wurden von Paulo Mendes da Rocha und MMBB Architekten zu einem Gemeinschaftszentrum umgebaut. Es machte international Furore, zurzeit ist das Projekt auch in der aus Wien übernommenen Schau «Critical Care» im Zentrum Architektur Zürich (ZAZ) zu sehen.
«Access for All» signalisiert in die Stadt: Nicht nur auf die Form, auch auf die Nutzung kommt es an. Die vom Architekturmuseum der TU München übernommene Ausstellung kam mit lebendigen Stadtfotografien des Wahlzürchers Ciro Miguel nach Basel. Für den dortigen Auftritt haben die Studentinnen und Studenten des Instituts Architektur der FHNW in einem intensiven Semester unter Anleitung der Professorinnen Shadi Rahbaran und Ursula Hürzeler Freiräume in, auf und um einzelne Gebäude in Modellen voller bunter Minimenschen nachgebaut. Und sie wagten sogar einen Transfer der Erkenntnisse in Basels Flussraum, den grössten öffentlichen Raum der Stadt.
Lernen von São Paulo
Die Energie der hier unter die Lupe genommenen Gebäude aus São Paulo wirkt in die Stadt hinaus: Dabei ist das Sesc 24 de Maio nicht das erste spektakuläre Bauwerk seiner Art. Andere Gemeinschaftszentren sind in dieser Ausstellung ebenfalls vertreten, wie das berühmte Sesc Pompeia, das auch als sogenanntes Stimmungsmodell wiedergegeben ist. Diese Guckkasten-Modelle sind ebenfalls eine Erfindung von Rahbaran und Hürzeler, die die objektivierten, repräsentativen Volumenmodelle, die ihre Studenten für die Ausstellung geschaffen haben, um diesen atmosphärischen Zugang ergänzt.
Am lehrreichsten für Basel bleibt wohl die aufgeständerte, vierspurige «Minhocão», die offiziell Via Elevado Presidente João Goulart heisst und abends und am Wochenende für den Autoverkehr gesperrt wird: Ein langer Abschnitt wird so zum längsten öffentlichen Raum der Stadt. Geschätzt 10 000 Fussgängerinnen und Fussgänger tummeln sich dann jeweils auf dem Stahlbetonkoloss. Dies zeigt vor allem, wie wichtig öffentlich zugängliche Freiräume in dieser Megastadt sind.
Ob eine gesperrte Autobahn genügt, ist umstritten. Den täglichen Verkehrsfluss von 70 000 Fahrzeugen zu unterbrechen, beweist aber, dass jede Gewohnheit verändert werden kann. Auch das hat das Architekturmuseum bereits vorgemacht, wenn man es nun für einmal von hinten und über die hölzerne Rampe betritt. Über Bernardes’ Rautenmuster und auf Sockeln aus im «doppelbrasilianischen Verband» versetzten Steinen reihen sich dann stimmungsvoll erzählte Geschichten aus São Paulo: Modelle, Fotos, Videos, analytisch geordnet und mit schweizerischer Sorgfalt aufgeräumt.
Nur neben dem Entrée der Kunsthalle, wo man üblicherweise ins Architekturmuseum abzweigt, gibt es eine Art Rumpelkammer, ein letzter Raum mit einer dicht gehäuften Fülle von Zeichnungen und Modellen. Erst in den Entwürfen der Studenten für Basel hat die Energie der brasilianischen Megastadt volle Fahrt aufgenommen. Zum Glück sitzt das Personal hinter Plexiglasscheiben, falls dieses lebensfreudige Chaos ins aufgeräumte Basel überschwappen sollte.
Bodenbeläge tragen genauso wie Bäume oder Bänke zur Aufenthaltsqualität in Städten bei. Die Wertschätzung des öffentlichen Raums manifestiert sich so unter unseren Füssen, noch bevor Statuen, Brunnen, Vorzeigefassaden nach Blicken heischen. Das hatten São Paulos Behörden erkannt.
Wertschätzung mit Fusstritten
Bernardes’ schwungvolle Rhythmen halfen der brasilianischen Megacity der Nachkriegszeit, das Pulsieren der Stadt etwas leichter zu nehmen. Mirthes Bernardes (1934–2020) hatte 1966 den von der Stadtverwaltung ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen. Ihre Muster prägen bis heute prominente Strassenzüge, auch die Avenida Paulista, über der Lina Bo Bardis berühmtes Museum hängt. Der Bodenbelag erfuhr aber nie dieselbe Beachtung wie der brückenartige Glaskubus, der über den Köpfen der Menschen schwebt.
Sogar Autobahnen, die sonntags geschlossen sind, bieten Orte für Ruhe, Freizeit und Erholung im Grossstadtmoloch: Solchen identitätsbildenden Freiräumen widmet sich die Ausstellung «Access for All» im Schweizerischen Architekturmuseum (SAM) in Basel. Die Schau wird ihrem Titel gerecht: Für einmal können die Räume über eine fast 30 Meter lange Rampe direkt von der Strasse her betreten werden, mit freiem Eintritt.
Auf dem Trottoir am Steinenberg, inmitten der gepflegten Kulturmeile, stemmt sich diese Rampe in einem Gestänge aus Latten in die Höhe. «Wir möchten faktisch und performativ einen Zugang schaffen», erklärt Shadi Rahbaran die temporäre Intervention. Über ein schwarz-weisses Dreiecksmuster verlassen die Besucherinnen und Besucher den perfekt über die schallisolierten Tramschienen gegossenen Basler Asphalt. Ihre mentale Reise beginnt so schon vor dem Betreten des ersten Ausstellungsraums. Dort stehen wir dann auf einer Variante von Bernardes’ identitätsbildendem Rautenmuster, das eigentlich nur ein Bodenbelag ist – und eben viel mehr.
Weite in der Enge
Mit dieser Schau über soziale Freiräume in São Paulo fordert der Direktor Andreas Ruby die Basler zu einem Vergleich heraus. Die Stadt wird zur Bühne: Draussen blickt man aufs kürzlich von Herzog & de Meuron umgebaute Stadtcasino, drinnen auf eine raumhohe Tapete mit dem Bild eines dicht bevölkerten Swimmingpools vor einer Hochhauskulisse. Das Wasserbecken liegt auf dem Dach des vor drei Jahren eröffneten Komplexes 24 de Maio. Die vierzehn Geschosse des ehemaligen Einkaufszentrums wurden von Paulo Mendes da Rocha und MMBB Architekten zu einem Gemeinschaftszentrum umgebaut. Es machte international Furore, zurzeit ist das Projekt auch in der aus Wien übernommenen Schau «Critical Care» im Zentrum Architektur Zürich (ZAZ) zu sehen.
«Access for All» signalisiert in die Stadt: Nicht nur auf die Form, auch auf die Nutzung kommt es an. Die vom Architekturmuseum der TU München übernommene Ausstellung kam mit lebendigen Stadtfotografien des Wahlzürchers Ciro Miguel nach Basel. Für den dortigen Auftritt haben die Studentinnen und Studenten des Instituts Architektur der FHNW in einem intensiven Semester unter Anleitung der Professorinnen Shadi Rahbaran und Ursula Hürzeler Freiräume in, auf und um einzelne Gebäude in Modellen voller bunter Minimenschen nachgebaut. Und sie wagten sogar einen Transfer der Erkenntnisse in Basels Flussraum, den grössten öffentlichen Raum der Stadt.
Lernen von São Paulo
Die Energie der hier unter die Lupe genommenen Gebäude aus São Paulo wirkt in die Stadt hinaus: Dabei ist das Sesc 24 de Maio nicht das erste spektakuläre Bauwerk seiner Art. Andere Gemeinschaftszentren sind in dieser Ausstellung ebenfalls vertreten, wie das berühmte Sesc Pompeia, das auch als sogenanntes Stimmungsmodell wiedergegeben ist. Diese Guckkasten-Modelle sind ebenfalls eine Erfindung von Rahbaran und Hürzeler, die die objektivierten, repräsentativen Volumenmodelle, die ihre Studenten für die Ausstellung geschaffen haben, um diesen atmosphärischen Zugang ergänzt.
Am lehrreichsten für Basel bleibt wohl die aufgeständerte, vierspurige «Minhocão», die offiziell Via Elevado Presidente João Goulart heisst und abends und am Wochenende für den Autoverkehr gesperrt wird: Ein langer Abschnitt wird so zum längsten öffentlichen Raum der Stadt. Geschätzt 10 000 Fussgängerinnen und Fussgänger tummeln sich dann jeweils auf dem Stahlbetonkoloss. Dies zeigt vor allem, wie wichtig öffentlich zugängliche Freiräume in dieser Megastadt sind.
Ob eine gesperrte Autobahn genügt, ist umstritten. Den täglichen Verkehrsfluss von 70 000 Fahrzeugen zu unterbrechen, beweist aber, dass jede Gewohnheit verändert werden kann. Auch das hat das Architekturmuseum bereits vorgemacht, wenn man es nun für einmal von hinten und über die hölzerne Rampe betritt. Über Bernardes’ Rautenmuster und auf Sockeln aus im «doppelbrasilianischen Verband» versetzten Steinen reihen sich dann stimmungsvoll erzählte Geschichten aus São Paulo: Modelle, Fotos, Videos, analytisch geordnet und mit schweizerischer Sorgfalt aufgeräumt.
Nur neben dem Entrée der Kunsthalle, wo man üblicherweise ins Architekturmuseum abzweigt, gibt es eine Art Rumpelkammer, ein letzter Raum mit einer dicht gehäuften Fülle von Zeichnungen und Modellen. Erst in den Entwürfen der Studenten für Basel hat die Energie der brasilianischen Megastadt volle Fahrt aufgenommen. Zum Glück sitzt das Personal hinter Plexiglasscheiben, falls dieses lebensfreudige Chaos ins aufgeräumte Basel überschwappen sollte.
«Access for All. São Paulos soziale Infrastrukturen»: eine Ausstellung des Architekturmuseums der TU München in einer Adaption und Erweiterung des Schweizerischen Architekturmuseum (SAM), in Kooperation mit dem Institut Architektur der FHNW. Mit Begleitprogramm. Bis 15. August.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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