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Zu Gast im Club Hybrid
Spectrum

Utopische Architektur im Grazer Stadtteil Gries: ein halbes Haus und ein Haus aus Luft – wo regelmäßig Workshops, Vorträge und Konzerte veranstaltet werden. Ein Club lädt zum Experimentieren ein.

6. August 2021 - Christian Kühn
Wer erinnert sich noch an das Jahr 2003? Um als Kulturhauptstadt Europas zu glänzen, stürzte sich die Stadt Graz in ein Abenteuer, zu dessen Hinterlassenschaften ein spektakuläres Kunsthaus, eine Stahlinsel in der Mur und nicht zuletzt beachtliche Löcher in den Budgets von Stadt und Land gehörten. Als die Stadt für 2020 ein „Kulturjahr“ ausrief, mag diese Erinnerung zu einer Klarstellung in dessen Titel beigetragen haben: „Graz. Unser Kulturjahr 2020“ sollte kein von oben geplantes, auf internationale Resonanz hin konzipiertes Kulturspektakel werden, sondern ein Jahr der kulturellen Reflexion über die urbane Zukunft mit Blick auf „Umwelt und Klima, digitale Lebenswelten, soziales Miteinander und die Arbeit von morgen“.

Mit einem Budget von fünf Millionen Euro Fördergeld sollten vor allem lokale Initiativen in allen 17 Bezirken gefördert werden. Eine offene Ausschreibung ergab 600 Einreichungen, von denen rund 90 eine Förderung erhielten. Das Spektrum reicht von Aktionen im öffentlichen Raum über Theaterarbeit und Themenworkshops bis zu Ausstellungen und landwirtschaftlichen Versuchsflächen.

So wie die Fußball-Europameisterschaft konnte auch das Kulturjahr 2020 bei gleichem Titel erst mit einem Jahr Verspätung stattfinden. An Intensität hat es dadurch nichts eingebüßt, sondern in manchen Fällen sogar von der aufgestauten Sehnsucht nach Kulturveranstaltungen profitiert. Das gilt jedenfalls für ein Projekt, das Heidi Pretterhofer und Michael Rieper für den Stadtteil Gries im Grazer Südwesten entwickelt haben, einen „Demonstrativbau“ mit der Adresse „Herrgottwiesgasse 161“, die erahnen lässt, dass man sich hier in der Nähe des Grazer Zentralfriedhofs befindet. In unmittelbarer Nachbarschaft des Grundstücks befinden sich vor allem Gewerbebauten und Handelsflächen, aber auch die größte Moschee der Stadt, Teil eines islamischen Kulturzentrums, das 2014 eröffnet wurde. Der Entwurf stammt vom Grazer Büro GSP und geht auf einen Wettbewerb aus dem Jahr 2011 zurück.
Demonstrativbau als kulturelles Herz

In der mentalen Hierarchie der Stadtteile, die es in Graz wie in jeder anderen Stadt gibt, rangiert der Süden von Gries am unteren Ende. Nebel hält sich hier länger, Emissionen von Industriebetrieben und dem Schlachthof machen sich bemerkbar. Trotzdem wohnen und arbeiten hier Menschen, es gibt eine Schule und ein Fitnesscenter, Außenstellen des Berufsförderungsinstituts und des Hilfswerks Steiermark. Der „Club Hybrid“, wie Pretterhofer und Rieper ihren Demonstrativbau genannt haben, versteht sich als kulturelles Herz dieser hybriden Umgebung. Der Club Hybrid ist dreigeschoßig: Im Erdgeschoß liegen eine Küche, Toiletten und viel überdachter, aber nach außen hin nicht abgeschlossener Raum, der als Café und Begegnungszone dient. Die Plattform darüber dient zur einen Hälfte als Ausstellungsraum, zur anderen Hälfte als Terrasse. Darüber liegen Wohnkojen für Gäste, die hier ein paar Tage übernachten können.

Wenn von außen der Eindruck entsteht, als sei nur das halbe Haus gebaut und der Rest einfach mit Stahlträgern in die Luft skizziert, ist das durchaus beabsichtigt: Im Budget von 200.000 Euro war kein Vollausbau über dem großzügigen Erdgeschoß möglich. Weitere 200.000 Euro fließen in die Betreuung und Bespielung des Clubs, der seit seiner Eröffnung im Juni 2021 Vorträge und Konzerte veranstaltet und Künstler zu Workshops einlädt. Den Namen „Club“ würden die Betreiber inzwischen gerne loshaben: Für die beabsichtigte Offenheit klingt er zu exklusiv.

Zu den als Partnern geladenen Gästen gehört auch das Wiener Kollektiv AKT, das zum Großteil aus jungen Architektinnen und Architekten besteht, die sich neben ihrer „normalen“ Architekturpraxis mit Formen von Raumproduktion befassen, die weder im vordergründigen Sinn nützlich noch profitabel sind. Bisher haben AKT Ausstellungen hergestellt, in denen die Mitglieder jeweils individuelle Beiträge zu Themen wie Europa, Nachbar*in oder EinGang lieferten.

Mit „AKT 4“ arbeiteten sie zum Thema „Gast“ erstmals gemeinsam an einem Objekt, das sie als „Gastgeschenk“ für den Club Hybrid verstehen. Was diesem fehle, sei nämlich ein abgeschlossener Hof, und den errichteten AKT aus Gabionenkörben aus verzinktem Stahl, die normalerweise mit Steinen gefüllt zur Hangbefestigung oder als Gartenmauer zum Einsatz kommen. Die gesamte Stahlmenge des Raumgerüsts, das AKT aus diesen Elementen gestalteten, ließe sich komprimiert in zwei größeren Reisekoffern unterbringen. Als Unterbau diente der Aushub, der beim Graben der Fundamente des Club Hybrid anfiel.

Im zentralen, von weißen Vorhängen abgeschirmten Hof schwingt sich dieser Aushub zu einer Miniatur-Bergspitze auf, deren Besteigung dem Besucher einen Ausblick in die Umgebung erlaubt. Für die Ewigkeit sind weder der Club Hybrid noch der Gast-Hof von AKT gedacht. Sie belegen, dass Architektur mit einem Gedanken beginnt, der unabhängig von der gebauten Realität existiert. Ludwig Wittgenstein hat dazu angemerkt: „Erinnere dich an den Eindruck guter Architektur, dass sie einen Gedanken ausdrückt. Man möchte auch ihr mit einer Geste folgen.“
Leichtigkeit und Transparenz

Um welche Gedanken und Gesten könnte es bei den beiden Objekten in Graz gehen? Jedenfalls um Gedanken wie Leichtigkeit und Transparenz, um das Verschließen und Öffnen als Grundgesten der Architektur, um Genauigkeit der Raumbildung ohne den Anspruch auf erstickende Perfektion.

In der heutigen Architektur liegen solche Gedanken zwar in der Luft, aber sie zu bauen gelingt fast nie mehr. Das ist kein Wunder. Tendenziell zerfällt die Architekturwelt heute in einen marktgetriebenen Sektor, in dem in erster Linie Profitmaximierung zählt, und in einen ökologischen Sektor, der sich die Mitverantwortung für alle drohenden Katastrophen auflädt. Dazwischen schrumpft zusehends der Raum für das Utopische, für das Experimentieren mit Lebensstilen und Lebensformen im direkten Sinn des Wortes, oder, wie AKT behaupten: „Die unabhängige und insbesondere utopische Raumproduktion, die jede soziale und kulturelle Wende begleitet, ist praktisch zum Erliegen gekommen.“

Auch Michael Rieper und Heidi Pretterhofer verstehen ihren Club als Einladung zum Experiment. Ursprünglich war geplantgewesen, den Betrieb Mitte August einzustellen. Inzwischen sind neue Nutzer aufgetaucht, teilweise aus dem universitären Bereich, aber auch Nutzer vor Ort wie das islamische Zentrum, womit der Betrieb zumindest bis Herbst gesichert scheint. Der Grund, auf dem der Club steht, gehört der Stadt, und eine der Intentionen des Clubs ist es, diesen Grund als öffentlichen und zugänglichen zu bewahren. Die Stadt der Zukunft braucht solche Orte, um neue Gesten einzustudieren, die sich dann auch im Alltag bewähren.

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Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

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