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Landschaft als soziale Konstruktion
Die Rezeption von Raum und Umwelt in postindustrieller Zeit
Landschaft ist nicht nur physische Realität. Sie ist auch eine Art Stimmungsbild der Innenwelt ihres Betrachters. Das, was ist, und das, was wir sehen, entspricht sich nicht unbedingt. Im Begriff der «Landschaft» verfängt sich jener Widerstand gegen die fortschreitende Industrialisierung und Urbanisierung, die als Verlust einer vermeintlichen Natur erfahren wird, obwohl es sich doch «lediglich» um einen Formwandel agrarischer, das heisst bereits kultivierter Flächen handelte.
30. Juni 1999 - Robert Kaltenbrunner
«Dritte Landschaft»
Am Beispiel der mitteldeutschen Industrieregion hat Gerhard Lenz unser «alter ego» Landschaft analysiert. In seinem Buch stellt er die Landschaft als Prozess absichtsvoller und absichtsloser räumlicher Inszenierungen dar, in denen vergangene und zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten menschlicher Umweltaneignung eingeschrieben sind. Der Raum zwischen Bitterfeld, Dessau und Wittenberg befindet sich im Übergang zu einer «Dritten Landschaft» - nach der vorindustriellen und der industriellen. Um den exemplarischen Charakter dieser Transformation zu unterstreichen, ernannte man das Gebiet zu einem Komplementärstandort der Expo 2000 in Hannover. Nun wird indes kein Mensch von einer Traumlandschaft sprechen, wenn er etwa bei Wolfen durch die Gegend fährt. Die verödeten Stadtzentren, brachliegenden Tagebaue und rückgebauten «Kathedralen der Arbeit» markierten, so Lenz, «einen neuen Einschnitt in die landschaftliche Physiognomie, ehe man sie zum Einkaufs- und Dienstleistungspark degradierte oder, wie in der Baggerstadt Ferropolis, als Bühne neuer Erlebniswelten kulturalisierte».
Dabei blickt die ökonomische Ausdifferenzierung der Landschaft im Schachbrettmuster, die Durchdringung des Raumes und die Nutzung seiner naturräumlichen und humanen Ressourcen auf eine lange Tradition zurück; schon im ausgehenden 19. Jahrhundert war dies ein «handelsüblicher» Vorgang. Doch als die Ödlandflächen der Tagebaue in nie gekannte Grössen auswucherten, die Luft sich trübte und die Fabriken und Schlote den Horizont der Dörfer verstellten, bediente man sich des Erklärungsmusters vom gleichsam Natürlichen einer «erdgewachsenen Industrie». Nur so liess sich offenbar die veränderte Umwelterfahrung ertragen. Und heute? «Die Wiederentdeckung der unschönen Territorien, der Industriekomplexe und Brachen als Landschaft vollzieht sich vor dem Hintergrund des Verschwindens einer Epoche, die sie hervorgebracht hat und deren widersprüchliches Entstehen immer wieder erklärende Syntheseversuche oder verbrämende Ideologisierungen zeitigte.»
Die teilweise brachialen Metamorphosen, denen insbesondere die Raumstruktur der Industrieregionen unterworfen war und ist, machen evident, dass Landschaft heute nicht mehr als planbares Fertigprodukt begriffen werden kann, sondern dass ihr Wesen gerade im Wandel begründet liegt - ein Prozess indessen, den wir seit der Industrialisierung gemeinhin als Verlust wahrnehmen. Es sei, so Lenz, eine Fiktion zu glauben, dass Kulturlandschaft ewig oder aber das soeben Vergangene ist; sie sei vielmehr bloss eine historische Momentaufnahme. So gesehen stellt Landschaft eine Folge von Ereignissen dar - und zugleich einen Spiegel menschlicher Produktivität. Sie bedarf der steten, immer wieder neuen Aneignung. Bei der «Natur aus zweiter Hand» unserer postindustriellen Szenerien ist das ein Problem. Merkzeichen, sagt Lenz, könnten als Ankerplätze zwischen Rückbau und Denkmalschutz den Weg zu einer emanzipatorischen und reflexiven Nutzung der Landschaft eröffnen. Sie könnten ein Weg sein, um aus Ruinen und Industriebrachen keine Erlebnisparks, sondern in allmählicher Transformation befindliche Landmarken zu gestalten. Sie stehen für den Versuch, historische Anknüpfungspunkte für eine neue Identität zu finden, den fraglosen Umbau und die neue Überformung kritisch zu reflektieren sowie Alternativen jenseits von blosser Musealisierung oder rigidem Abriss zu entwickeln. Allerdings muss man die industrielle Hinterlassenschaft erst einmal als «kulturelles Erbe» begreifen lernen.
Sorgenfreies Idyll
Lenz' Botschaft lautet, dass die Landschaft nur in unserem Kopf als zeitlose Konstante oder als überzeitliches «sorgenfreies» Idyll existiert. Aber wie, fragt der Autor, kann die Kontinuität ihres Wandels erfahrbar, bemerkbar und produktiv denkbar gemacht werden? Lenz beklagt die grossflächige Ausweisung von Gewerbegebieten auf der grünen Wiese und den komplexen Rückbau betrieblicher und sozialpolitischer Einrichtungen, was einer Demontage von Lebens- und Arbeitswelten gleichkam. Sein Ton ist nicht frei von Larmoyanz, wenngleich sein Anliegen so integer wie nachvollziehbar ist: «Für die Bewohner des Bitterfelder Raumes war der Prozess des Rückbaus nicht irgendeine Sanierung eines Häuserblocks oder Betriebes. Nachdem sie die Kosten von Kaiserreich, Nationalsozialismus und Sozialismus mit der Zerstörung der sie umgebenden Naturräume getragen hatten, folgte nun die Beräumung ihres Arbeitslebens, und es erwartete sie eine höchst unklare Gestaltung von Gewinner-Welten. Dabei hatten sich die mehr als hundertjährigen Artefakte der Industriekultur in den Köpfen ihrer Anwohner zu einer biographisch bedingten Landschaftsstruktur verschmolzen. Für sie versank keineswegs ein gesichtsloses Nebeneinander, sondern eine trotz allen Belastungen und Entbehrungen merkwürdig vertraute Landschaft.» So wird man heute anerkennen müssen, dass mit der industriellen Revolution das, was einst als Feind und Gegenteil der Landschaft galt, selbst zur Landschaft geworden ist.
[ Gerhard Lenz: Verlusterfahrung Landschaft. Über die Herstellung von Raum und Umwelt im mitteldeutschen Industriegebiet seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Edition Bauhaus, Bd. 4. Campus-Verlag, Frankfurt a. M. 1999. 234 S., Fr. 48.-. ]
Am Beispiel der mitteldeutschen Industrieregion hat Gerhard Lenz unser «alter ego» Landschaft analysiert. In seinem Buch stellt er die Landschaft als Prozess absichtsvoller und absichtsloser räumlicher Inszenierungen dar, in denen vergangene und zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten menschlicher Umweltaneignung eingeschrieben sind. Der Raum zwischen Bitterfeld, Dessau und Wittenberg befindet sich im Übergang zu einer «Dritten Landschaft» - nach der vorindustriellen und der industriellen. Um den exemplarischen Charakter dieser Transformation zu unterstreichen, ernannte man das Gebiet zu einem Komplementärstandort der Expo 2000 in Hannover. Nun wird indes kein Mensch von einer Traumlandschaft sprechen, wenn er etwa bei Wolfen durch die Gegend fährt. Die verödeten Stadtzentren, brachliegenden Tagebaue und rückgebauten «Kathedralen der Arbeit» markierten, so Lenz, «einen neuen Einschnitt in die landschaftliche Physiognomie, ehe man sie zum Einkaufs- und Dienstleistungspark degradierte oder, wie in der Baggerstadt Ferropolis, als Bühne neuer Erlebniswelten kulturalisierte».
Dabei blickt die ökonomische Ausdifferenzierung der Landschaft im Schachbrettmuster, die Durchdringung des Raumes und die Nutzung seiner naturräumlichen und humanen Ressourcen auf eine lange Tradition zurück; schon im ausgehenden 19. Jahrhundert war dies ein «handelsüblicher» Vorgang. Doch als die Ödlandflächen der Tagebaue in nie gekannte Grössen auswucherten, die Luft sich trübte und die Fabriken und Schlote den Horizont der Dörfer verstellten, bediente man sich des Erklärungsmusters vom gleichsam Natürlichen einer «erdgewachsenen Industrie». Nur so liess sich offenbar die veränderte Umwelterfahrung ertragen. Und heute? «Die Wiederentdeckung der unschönen Territorien, der Industriekomplexe und Brachen als Landschaft vollzieht sich vor dem Hintergrund des Verschwindens einer Epoche, die sie hervorgebracht hat und deren widersprüchliches Entstehen immer wieder erklärende Syntheseversuche oder verbrämende Ideologisierungen zeitigte.»
Die teilweise brachialen Metamorphosen, denen insbesondere die Raumstruktur der Industrieregionen unterworfen war und ist, machen evident, dass Landschaft heute nicht mehr als planbares Fertigprodukt begriffen werden kann, sondern dass ihr Wesen gerade im Wandel begründet liegt - ein Prozess indessen, den wir seit der Industrialisierung gemeinhin als Verlust wahrnehmen. Es sei, so Lenz, eine Fiktion zu glauben, dass Kulturlandschaft ewig oder aber das soeben Vergangene ist; sie sei vielmehr bloss eine historische Momentaufnahme. So gesehen stellt Landschaft eine Folge von Ereignissen dar - und zugleich einen Spiegel menschlicher Produktivität. Sie bedarf der steten, immer wieder neuen Aneignung. Bei der «Natur aus zweiter Hand» unserer postindustriellen Szenerien ist das ein Problem. Merkzeichen, sagt Lenz, könnten als Ankerplätze zwischen Rückbau und Denkmalschutz den Weg zu einer emanzipatorischen und reflexiven Nutzung der Landschaft eröffnen. Sie könnten ein Weg sein, um aus Ruinen und Industriebrachen keine Erlebnisparks, sondern in allmählicher Transformation befindliche Landmarken zu gestalten. Sie stehen für den Versuch, historische Anknüpfungspunkte für eine neue Identität zu finden, den fraglosen Umbau und die neue Überformung kritisch zu reflektieren sowie Alternativen jenseits von blosser Musealisierung oder rigidem Abriss zu entwickeln. Allerdings muss man die industrielle Hinterlassenschaft erst einmal als «kulturelles Erbe» begreifen lernen.
Sorgenfreies Idyll
Lenz' Botschaft lautet, dass die Landschaft nur in unserem Kopf als zeitlose Konstante oder als überzeitliches «sorgenfreies» Idyll existiert. Aber wie, fragt der Autor, kann die Kontinuität ihres Wandels erfahrbar, bemerkbar und produktiv denkbar gemacht werden? Lenz beklagt die grossflächige Ausweisung von Gewerbegebieten auf der grünen Wiese und den komplexen Rückbau betrieblicher und sozialpolitischer Einrichtungen, was einer Demontage von Lebens- und Arbeitswelten gleichkam. Sein Ton ist nicht frei von Larmoyanz, wenngleich sein Anliegen so integer wie nachvollziehbar ist: «Für die Bewohner des Bitterfelder Raumes war der Prozess des Rückbaus nicht irgendeine Sanierung eines Häuserblocks oder Betriebes. Nachdem sie die Kosten von Kaiserreich, Nationalsozialismus und Sozialismus mit der Zerstörung der sie umgebenden Naturräume getragen hatten, folgte nun die Beräumung ihres Arbeitslebens, und es erwartete sie eine höchst unklare Gestaltung von Gewinner-Welten. Dabei hatten sich die mehr als hundertjährigen Artefakte der Industriekultur in den Köpfen ihrer Anwohner zu einer biographisch bedingten Landschaftsstruktur verschmolzen. Für sie versank keineswegs ein gesichtsloses Nebeneinander, sondern eine trotz allen Belastungen und Entbehrungen merkwürdig vertraute Landschaft.» So wird man heute anerkennen müssen, dass mit der industriellen Revolution das, was einst als Feind und Gegenteil der Landschaft galt, selbst zur Landschaft geworden ist.
[ Gerhard Lenz: Verlusterfahrung Landschaft. Über die Herstellung von Raum und Umwelt im mitteldeutschen Industriegebiet seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Edition Bauhaus, Bd. 4. Campus-Verlag, Frankfurt a. M. 1999. 234 S., Fr. 48.-. ]
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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