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Umstritten: Das neue Gemeindezentrum in Lech
Mies van der Rohe trifft auf Vorarlberger Holzhandwerk: Nach heftigen Debatten bekommt Lech ein neues Gemeindezentrum. Einige fanden es überdimensioniert und die Lage unpassend, ortsansässige Kaufleute fürchteten Konkurrenz durch René Benko. Nun steht der Bau vor der Dachgleiche.
28. September 2021 - Sigrid Verhovsek
Um 1900 betrug die Einwohnerzahl Lechs 339 – 39 Jahre später wurde das Dorf zum begehrten Wintersportort. Heute leben in der Gemeinde knapp 1600 Menschen, dazu kommen im Winter täglich 8000 Gäste sowie das Saisonpersonal. Rund die Hälfte der Gebäude dient als Beherbergungsstätte, ehemalige Dorfgasthöfe wurden stetig überformt oder fielen zugunsten von Chalets reicher Investoren der Furie des Verschwindens zum Opfer. Großvolumige, drei- bis viergeschoßige Bauten mit flachen, gaupenver(un)zierten Satteldächern prägen das Ortsbild. Auch die nicht gastgewerblich deklarierten Wohneinheiten der Gemeinde werden zu fast 60 Prozent als Zweitwohnsitz genutzt, bringen kaum Steuergelder und stehen meist leer. 2021 begann man sich gegen den „Ausverkauf der Heimat“ aufzulehnen: Ein Baustopp über zwei Jahre soll den nötigen Freiraum zur Entwicklung effektiver Gegenstrategien gewähren.
Skitourismus hat den Nachteil, auf Schnee und Kälte angewiesen zu sein. Die Fahrt über den Flexenpass führt durch das im Winter quirlige Zürs, das im Sommer einer Geisterstadt gleicht. Ohne Menschen erinnert die Struktur des Ortes an ein Straßendorf ohne Mitte. In Lech gibt es diese Mitte noch: Die alte Kirche mit dem Friedhof, die neue Kirche aus den 1970er-Jahren von Leopold Kaufmann und Roland Ostertag, die auch als Veranstaltungssaal genutzt wird, und das Schulzentrum bilden einen starken Kern, hier findet der Alltag zum Teil noch unberührt vom Tourismus statt. Gemeindeamt, Lebensmittelmärkte und ärztliche Versorgung stehen auch im Sommer zur Verfügung.
Neben der intensiven Pflege des Wanderwegenetzes setzt die Gemeinde auf Veranstaltungen als Frequenzbringer: Medicinicum, Arlberg Classic Car Rallye, musikalischer Höhenrausch, Literaricum oder eben das Philosophicum, das dieses Wochenende stattfindet. So entstand der Wunsch nach einem Gemeindezentrum, das die Verwaltungstätigkeiten an einem Ort bündelt, aber auch Raum für Vereine und Veranstaltungen bietet. Nach mehreren Anläufen in den vergangenen Jahrzehnten war das leer stehende Postareal samt Garage jene Verlockung, die es brauchte, um aus der Fiktion den kleinen Schritt in die Wirklichkeit zu machen. 2017 wurde in Kooperation mit der in Tirol und Vorarlberg zuständigen Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten ein EU-weiter, nicht offener, zweistufiger Realisierungswettbewerb mit dem Ziel der „Ortskernentwicklung des Postareals“ ausgeschrieben. Die Jury wählte im Oktober 2017 aus 13 Projekten den Entwurf von Dorner/Matt Architekten aus Bregenz.
Das Baugrundstück liegt am Fuße des Kirchhügels und wird im Osten durch die Landesstraße, im Westen durch den Lech begrenzt; südlich und nördlich schließt die einzeilige Uferbebauung an. „Spirituelles“ und kommunales Zentrum pflegen so eine nur durch die Straße getrennte Nahebeziehung. Dorner/Matt setzen zwei von der Grundfläche unterschiedlich große, aber gleich hohe fünfgeschoßige Kuben auf das Areal. Die Bauflucht zur Lechtalstraße verläuft in gerader, ruhiger Linie; auf der anderen Seite dehnt sich der größere Baukörper in die durch eine Flussbiegung entstandene Fläche.
Das hybride Nutzungsgemenge wird durch die Aufteilung auf zwei Gebäude entflochten. Der kleinere Baukörper nimmt die kommunale Verwaltung mit Tourismusinformation und Bibliothek auf. Das Innere ist klar gehalten: Das Stiegenhaus ist an der Südwestfassade platziert, die Arbeitsbereiche verlaufen rundum entlang der Fenster – so bleibt die Mitte als große Begegnungs- oder Besprechungszone frei. Das zweite, größere Gebäude nimmt kommerzielle und kulturelle Agenden des Dorfes auf: Geschäfte, Lokale, Vereinsräume, Musikschule und Veranstaltungssaal für bis zu 700 Personen sind in teils ineinanderfließenden Nutzungsebenen angeordnet. In den Veranstaltungssaal wird man regelrecht hineininszeniert: Über den Eingangsbereich erreicht man das großzügige Foyer im ersten Stock. Von hier schreitet man über eine an den Fassaden angeordnete spiegelsymmetrische Treppenanlage zum Saal mit Galerie, der über eine elf Meter hohe Verglasung Ein- und Ausblicke auf den Lech oder Kirchhügel bietet.
Die formale Strenge der in einer Mischbauweise aus Stahlbetonskelett und Holzmassivkonstruktion errichteten Baukörper wird durch vorgesetzte Holz-Lamellen-Fassaden weder gemildert noch kontrastiert, sondern eher begleitet. Mies van der Rohe trifft hier auf die vorarlbergische Tradition des Holzhandwerks: ein Versprechen für ein im Lauf der Jahres- und Tageszeiten wechselndes lebendiges Licht- und Schattenspiel. Großflächige Aussparungen und die der Treppenführung nachgezeichnete schräge Linie sorgen für interessante Brüche in der geometrischen Struktur. Jegliche Referenz zu einem weiteren „alpenländischen“ Fünfsternehotel verbietet sich von selbst, das Gebäude-Ensemble erzählt eine neue Geschichte von Lech. Die Freifläche um die Kuben soll teils entsiegelt und in Zusammenschluss mit der Uferpromenade für die Dorfgemeinschaft nutzbar gemacht werden. Eine zweigeschoßige Tiefgarage mit knapp 180 Stellplätzen soll die Lechtalstraße von Parkplätzen befreien, um sie auch als Flaniermeile erlebbar zu machen.
Vergangenes Jahr kam es dann zum Eklat. In Zeiten eines bestenfalls stagnierenden Wirtschaftswachstums müssen Baukosten von 40 Millionen Euro kritisch betrachtet werden. Nicht nur einmal kam die Frage auf, wer sich hier ein Denkmal setzen will, und ob die Dimensionen für ein „kleines Dorf“ nicht überproportioniert seien – außerdem wurden Lage und Einfügung in den bestehenden Kontext diskutiert.
Die mediale Aufregung war aber weniger der Architektur als vielmehr dem kommerziellen Hintergrund geschuldet: Plötzlich war nicht mehr von kleinen Shops und Cafés im Erdgeschoß die Rede, sondern von der Übernahme einer Geschäftsfläche von 2500 Quadratmetern durch die österreichische Signa Holding von René Benko. Die ortsansässigen Handelstreibenden formierten sich gegen den Deal. Bürgermeister Ludwig Muxel musste sein Amt übergeben, Neo-Bürgermeister Stefan Jochum versuchte mitten im pandemiebedingt tourismusfreien Winter 2020/21 das Projekt zunächst gänzlich zu stoppen oder zu reduzieren. Der KaDeWe-Deal war vom Tisch, aber da die Verträge großteils unterzeichnet waren und die Tiefgarage in Bau, beschränkte sich der Versuch der Reduktion auf eine Verringerung der Gebäudehöhe und eine verkleinerte Dachlandschaft.
Nun steht das neue Ensemble kurz vor der Dachgleiche, und die eingerüsteten Volumina der beiden Baukörper nehmen wie selbstverständlich ihren neuen Platz ein. Ob ein Gemeindezentrum funktioniert, sprich: dem Dorf Lech einen neuen Bezugspunkt gibt, lässt sich erst sagen, wenn es nach Fertigstellung Ende 2023 einige Zeit in Betrieb ist, die Lecher:innen es angenommen und sich im besten Fall angeeignet haben
Skitourismus hat den Nachteil, auf Schnee und Kälte angewiesen zu sein. Die Fahrt über den Flexenpass führt durch das im Winter quirlige Zürs, das im Sommer einer Geisterstadt gleicht. Ohne Menschen erinnert die Struktur des Ortes an ein Straßendorf ohne Mitte. In Lech gibt es diese Mitte noch: Die alte Kirche mit dem Friedhof, die neue Kirche aus den 1970er-Jahren von Leopold Kaufmann und Roland Ostertag, die auch als Veranstaltungssaal genutzt wird, und das Schulzentrum bilden einen starken Kern, hier findet der Alltag zum Teil noch unberührt vom Tourismus statt. Gemeindeamt, Lebensmittelmärkte und ärztliche Versorgung stehen auch im Sommer zur Verfügung.
Neben der intensiven Pflege des Wanderwegenetzes setzt die Gemeinde auf Veranstaltungen als Frequenzbringer: Medicinicum, Arlberg Classic Car Rallye, musikalischer Höhenrausch, Literaricum oder eben das Philosophicum, das dieses Wochenende stattfindet. So entstand der Wunsch nach einem Gemeindezentrum, das die Verwaltungstätigkeiten an einem Ort bündelt, aber auch Raum für Vereine und Veranstaltungen bietet. Nach mehreren Anläufen in den vergangenen Jahrzehnten war das leer stehende Postareal samt Garage jene Verlockung, die es brauchte, um aus der Fiktion den kleinen Schritt in die Wirklichkeit zu machen. 2017 wurde in Kooperation mit der in Tirol und Vorarlberg zuständigen Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten ein EU-weiter, nicht offener, zweistufiger Realisierungswettbewerb mit dem Ziel der „Ortskernentwicklung des Postareals“ ausgeschrieben. Die Jury wählte im Oktober 2017 aus 13 Projekten den Entwurf von Dorner/Matt Architekten aus Bregenz.
Das Baugrundstück liegt am Fuße des Kirchhügels und wird im Osten durch die Landesstraße, im Westen durch den Lech begrenzt; südlich und nördlich schließt die einzeilige Uferbebauung an. „Spirituelles“ und kommunales Zentrum pflegen so eine nur durch die Straße getrennte Nahebeziehung. Dorner/Matt setzen zwei von der Grundfläche unterschiedlich große, aber gleich hohe fünfgeschoßige Kuben auf das Areal. Die Bauflucht zur Lechtalstraße verläuft in gerader, ruhiger Linie; auf der anderen Seite dehnt sich der größere Baukörper in die durch eine Flussbiegung entstandene Fläche.
Das hybride Nutzungsgemenge wird durch die Aufteilung auf zwei Gebäude entflochten. Der kleinere Baukörper nimmt die kommunale Verwaltung mit Tourismusinformation und Bibliothek auf. Das Innere ist klar gehalten: Das Stiegenhaus ist an der Südwestfassade platziert, die Arbeitsbereiche verlaufen rundum entlang der Fenster – so bleibt die Mitte als große Begegnungs- oder Besprechungszone frei. Das zweite, größere Gebäude nimmt kommerzielle und kulturelle Agenden des Dorfes auf: Geschäfte, Lokale, Vereinsräume, Musikschule und Veranstaltungssaal für bis zu 700 Personen sind in teils ineinanderfließenden Nutzungsebenen angeordnet. In den Veranstaltungssaal wird man regelrecht hineininszeniert: Über den Eingangsbereich erreicht man das großzügige Foyer im ersten Stock. Von hier schreitet man über eine an den Fassaden angeordnete spiegelsymmetrische Treppenanlage zum Saal mit Galerie, der über eine elf Meter hohe Verglasung Ein- und Ausblicke auf den Lech oder Kirchhügel bietet.
Die formale Strenge der in einer Mischbauweise aus Stahlbetonskelett und Holzmassivkonstruktion errichteten Baukörper wird durch vorgesetzte Holz-Lamellen-Fassaden weder gemildert noch kontrastiert, sondern eher begleitet. Mies van der Rohe trifft hier auf die vorarlbergische Tradition des Holzhandwerks: ein Versprechen für ein im Lauf der Jahres- und Tageszeiten wechselndes lebendiges Licht- und Schattenspiel. Großflächige Aussparungen und die der Treppenführung nachgezeichnete schräge Linie sorgen für interessante Brüche in der geometrischen Struktur. Jegliche Referenz zu einem weiteren „alpenländischen“ Fünfsternehotel verbietet sich von selbst, das Gebäude-Ensemble erzählt eine neue Geschichte von Lech. Die Freifläche um die Kuben soll teils entsiegelt und in Zusammenschluss mit der Uferpromenade für die Dorfgemeinschaft nutzbar gemacht werden. Eine zweigeschoßige Tiefgarage mit knapp 180 Stellplätzen soll die Lechtalstraße von Parkplätzen befreien, um sie auch als Flaniermeile erlebbar zu machen.
Vergangenes Jahr kam es dann zum Eklat. In Zeiten eines bestenfalls stagnierenden Wirtschaftswachstums müssen Baukosten von 40 Millionen Euro kritisch betrachtet werden. Nicht nur einmal kam die Frage auf, wer sich hier ein Denkmal setzen will, und ob die Dimensionen für ein „kleines Dorf“ nicht überproportioniert seien – außerdem wurden Lage und Einfügung in den bestehenden Kontext diskutiert.
Die mediale Aufregung war aber weniger der Architektur als vielmehr dem kommerziellen Hintergrund geschuldet: Plötzlich war nicht mehr von kleinen Shops und Cafés im Erdgeschoß die Rede, sondern von der Übernahme einer Geschäftsfläche von 2500 Quadratmetern durch die österreichische Signa Holding von René Benko. Die ortsansässigen Handelstreibenden formierten sich gegen den Deal. Bürgermeister Ludwig Muxel musste sein Amt übergeben, Neo-Bürgermeister Stefan Jochum versuchte mitten im pandemiebedingt tourismusfreien Winter 2020/21 das Projekt zunächst gänzlich zu stoppen oder zu reduzieren. Der KaDeWe-Deal war vom Tisch, aber da die Verträge großteils unterzeichnet waren und die Tiefgarage in Bau, beschränkte sich der Versuch der Reduktion auf eine Verringerung der Gebäudehöhe und eine verkleinerte Dachlandschaft.
Nun steht das neue Ensemble kurz vor der Dachgleiche, und die eingerüsteten Volumina der beiden Baukörper nehmen wie selbstverständlich ihren neuen Platz ein. Ob ein Gemeindezentrum funktioniert, sprich: dem Dorf Lech einen neuen Bezugspunkt gibt, lässt sich erst sagen, wenn es nach Fertigstellung Ende 2023 einige Zeit in Betrieb ist, die Lecher:innen es angenommen und sich im besten Fall angeeignet haben
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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