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Profil

Studium an der TU-Wien (Dipl.Ing.) und an der ETH-Zürich (Dr.sc.techn.); unterrichtet am Institut für Gebäudelehre der TU-Wien; seit 1995 im Vorstand der österreichischen Gesellschaft für Architektur; seit 2000 Vorstand der Architekturstiftung Österreich. Publikationen unter anderem „Das Wahre, das Schöne und das Richtige - Adolf Loos und das Haus Müller in Prag“, Vieweg 1989 (Neuauflage 2001); „Stilverzicht - CAAD und Typologie als Werkzeuge einer autonomen Architektur“, Vieweg 1998; „Anton Schweighofer - A Quiet Radical“, Springer 2001; „Ringstraße ist überall - Texte über Architketur und Stadt 1992 - 2007“; seit 1992 Architekturkritiker für „Die Presse“ und „Architektur & Bauforum“. Studiendekan der Studienrichtungen Architektur und Building Science an der TU Wien von 2008 bis 2023; Vorsitzender des Beirats für Baukultur im Österreichischen Bundeskanzleramt seit 2015; Kommissär für den österreichischen Beitrag zur Architekturbiennale in Venedig 2014.

Artikel

8. Juni 2023 Spectrum

Soll man Sechzigerjahre-Gebäude überhaupt noch renovieren?

Lieber günstiger neu bauen oder doch das bestehende Gebäude sanieren? Für die renovierungsbedürftige Mittelschule im steirischen Weiz gibt es zwei Optionen – noch ist nichts entschieden.

Die Bau-Scham geht um. Von der Architekturbiennale in Venedig bis zu den Einführungsseminaren an den Architekturschulen der Welt wird über die Frage diskutiert, ob man in fortgeschrittenen Industriegesellschaften noch neue Gebäude errichten darf. Vor ein paar Jahren wäre die Antwort der Mehrheit der Architekturszene ein klares Ja gewesen. Gerade wegen der drohenden Klimakatastrophe müsse man die neuesten Technologien nutzen und Häuser bauen, die praktisch keine Energie mehr verbrauchen oder sogar als Plus-Energie-Häuser einen Überschuss produzieren.

Inzwischen hat sich der Horizont dieser Debatte erweitert. Berücksichtigt man die graue Energie, die in die Produktion von Baumaterialien, in deren Transport auf die Baustelle und schließlich in die Kosten für Abbruch, Recycling und Endlagerung fließt, sieht die Bilanz düster aus. Klimaneutrales Bauen mit den Technologien der Industriegesellschaft ist langfristig so gut wie unmöglich. Allein die Zementherstellung erzeugt zwischen fünf und sieben Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Im besten Fall lässt sich der Zementeinsatz effizienter gestalten, durch intelligente Konstruktionen, etwa Schalentragwerke im mehrgeschoßigen Bauen, oder durch Wiederverwendung von Bauteilen. Die geringsten CO2-Emissionen erzeugt allerdings, wer nichts Neues baut, sondern einen Bestand adaptiert.

Angesichts beachtlicher Leerstände quer über alle Sektoren des Immobilienwesens liegt hier beachtliches Potenzial. Doch kann es sein, dass eine Sanierung höhere Kosten verursacht als Abbruch und Neubau. Eine konsequente und drastisch höhere CO2-Bepreisung für Baumaterialien könnte das ändern und die für den „Naturverbrauch“ ausgelagerten Kosten wieder in die Kalkulation hereinholen. Zumindest für die nächsten Jahre ist eine solche Entwicklung angesichts hoher Inflationsraten politisch nur schwer zu vermitteln, selbst wenn die CO2-Bepreisung aufkommensneutral angelegt ist. Umso wichtiger ist die Vorbildwirkung der öffentlichen Hand im Umgang mit ihrer Bausubstanz, gerade in schwierigen Fällen, bei denen eine rein ökonomische Betrachtung eher gegen Erhaltung spricht.

Ein Beispiel dafür ist das Schulzentrum in Weiz in der Steiermark, ein Komplex aus Realgymnasium und Neuer Mittelschule mit gemeinsamem Turnsaaltrakt, der 1964 vom Architekten Viktor Hufnagl entworfen und in Etappen bis Anfang der 1970er-Jahre realisiert wurde. Für das Projekt erhielt die Gemeinde Weiz 1968 den Bauherrenpreis der Zentralvereinigung der Architekten, 1969 wurde Hufnagl dafür mit dem Staatspreis für Architektur ausgezeichnet. In der Broschüre, die anlässlich der Eröffnung des ersten Bauabschnitts erschien, wurde die gute Zusammenarbeit mit dem Architekten hervorgehoben. Der Bauausschuss der Gemeinde hätte eine Reise zu innovativen Beispielen in ganz Österreich unternommen und sei dabei auf Viktor Hufnagls Schule in Strobl am Wolfgangsee gestoßen, eine Hallenschule, bei der mehrere Klassenräume um einen gemeinsamen mehrgeschoßigen Raum angeordnet sind.

Die Halle ist dabei nicht einfach ein weiterer Raum, sondern ein die ganze Schule verbindendes Element; die Trennung in Klassenzimmer und Gänge löst sich auf. „Die ganze Bodenfläche“, so Hufnagl, „kann als ein Kontinuum miteinander in Beziehung stehender Räume aufgefasst werden.“ Das Schulzentrum in Weiz markiert einen ersten Höhepunkt in Hufnagls Werk, gemeinsam mit der Schule in Wörgl in Tirol, die er ab 1970 mit Fritz G. Mayr entwarf. Die Schule in Wörgl, ein lichtdurchfluteter Bau, der trotz seiner Konstruktion aus Sichtbeton leicht und fast schwebend wirkt, wurde 1998 bis 2003 vom Schweizer Peter Märkli vorbildlich saniert und steht heute unter Denkmalschutz. Sie gilt zu Recht als ein Meilenstein des österreichischen Schulbaus.

Unter Denkmalschutz steht – seit 2021 – auch die Schule in Weiz. Ihre Zukunft ist aber alles andere als sicher. Der Bundesschulteil wurde zwar saniert, nicht aber der Hauptschulteil, für dessen Finanzierung die Gemeinde verantwortlich ist: Ein Neubau auf dem Sportplatz nebenan wäre um 15 Prozent günstiger als eine Sanierung. Kosten sind ein zulässiges Argument, vor allem bei einem Bau, in den man sich nicht auf den ersten Blick verlieben würde: sehr viel verwitterter Stahlbeton mit ornamentartigen Vertiefungen, durchlaufende Bandfenster. Erst eine genauere Analyse zeigt, dass dieser Bau noch radikaler ist als sein jüngerer Bruder in Wörgl. Er versucht nämlich, die Anzahl der tragenden Stützen auf zwölf zu minimieren, an jeder Ecke der zentralen Halle als Dreiergruppe positioniert, ergänzt um einige Pendelstützen in der Fassade. Das ist keine selbstgefällige konstruktive Akrobatik: Ziel ist ein möglichst flexibles Raumangebot, das abgeschlossene Bereiche für den Frontalunterricht ebenso zulässt wie offene Lernlandschaften. Die archaisch-expressive Konstruktion, die für die Wiener Moderne der 1960er-Jahre typisch ist, bildet einen festen Rahmen für diese Nutzungsvielfalt.

Seit vorigem Jahr liegt ein vom Land Steiermark beauftragtes, von den Architekten Gangoly & Kristiner in Abstimmung mit dem Denkmalamt erstelltes Gutachten vor, das nachweist, dass hier im Bestand eine absolut zeitgemäße Schule mit einzigartigen räumlichen Qualitäten entstehen kann. Ein nachträglich angebautes Stiegenhaus kann dabei entfernt werden, die Fassade erhält eine zweite innere Schicht nach dem Prinzip des Kastenfensters. Hier könnte ein Leuchtturmprojekt für die intelligente Sanierung von schwierigen Bauten aus den 1960er-Jahren entstehen. Eine ähnliche Situation findet sich in Wien mit der Schule am Kinkplatz von Helmut Richter, die nach Einsprüchen der Stadt Wien noch auf ihre definitive Unterschutzstellung wartet. Als Produkt der 1990er-Jahre wäre sie ein Leuchtturmprojekt für eine andere Epoche.

Die angekündigte Novellierung des Denkmalschutzgesetzes könnte in solchen Fällen mit einem „Erhaltungsgebot“ dafür sorgen, dass Eigentümer ihrem Denkmal nicht beim Sterben zusehen dürfen, sondern die nötigen Schritte für dessen Erhaltung setzen müssen. Kombiniert mit der schon lange geforderten steuerlichen Absetzbarkeit von Erhaltungsmaßnahmen könnte diese Novelle die Rahmenbedingungen für die Denkmalpflege spürbar verbessern.

6. Mai 2023 Spectrum

Wenn Maschinen träumen lernen

Bedeutet der Erfolg der künstlichen Intelligenz den Sieg des Ausprobierens über das Nachdenken? Eine Ausstellung im Wiener MAK sucht Antworten und lädt zu einer Reise in die neue Virtualität.

Es gibt kaum ein Thema in der langen Geschichte der industriellen Revolution, das so oft totgesagt wurde wie die künstliche Intelligenz. Ihre Geburtsstunde ist relativ einfach zu bestimmen: der Darthmouth Workshop, ein 1956 von Marvin Minsky organisiertes Treffen von Wissenschaftlern, an dem u. a. Herbert Simon, Allen Newell und Paul McCarthy teilnahmen. Minsky war einer der Miterfinder künstlicher neuronaler Netzwerke und eine der treibenden Kräfte der KI-Forschung; Newell und Simon propagierten die Idee eines „General Problem Solvers“; McCarthy empfahl die Speicherung des gesamten Wissens der Menschheit in einheitlicher Form. Das ist in Summe – vereinfacht – das Rezept, auf dem auch die heute erfolgreichen KI-Systeme aufbauen.

Die Geschichte der KI ist eine Abfolge großer Versprechungen, gefolgt von abrupten Abstürzen. Nach dem ersten Boom geriet die KI-Forschung in den Jahren 1974 bis 1980 ins Abseits, erhielt in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre neuen Auftrieb, vor allem durch das vom japanischen Industrieministerium massiv geförderte „Fifth Generation“-Projekt“, das eine neue Ära der Digitalisierung versprach, aber seine Ziele weit verfehlte. Bis 1993 wurden über 300 KI-Unternehmen in Konkurs geschickt oder aufgekauft. Der nächste „KI-Winter“ war nicht so frostig wie die vorigen. Im neuen Jahrtausend zeichnete sich das Potenzial der Technologie im Umfeld von Internet, steigender Rechenleistung und besserer Algorithmen ab. Aber bis in die 2010er-Jahre war es schwer, Geldgeber zu finden, die in ein KI-Unternehmen zu investieren bereit waren.

Inzwischen scheint die Technologie aber ihre Versprechungen zu halten, und es ist zu erwarten, dass sie unsere Lebenswelt und unser Selbstverständnis dramatisch verändern wird. Aktuelle KI-Systeme schlagen jeden menschlichen Spieler in Schach und seit Kurzem in Go; sie verstehen Witze; sie können Bilder deuten, übersetzen Texte auf hohem Niveau in andere Sprachen und verfassen Essays und Gedichte, die sich mit denen von Menschen messen können.

Auch im Bereich der Bilderzeugung haben KI-Systeme wie DallE oder Midjourney neue Maßstäbe gesetzt. Sie generieren Bilder als Antwort auf eine verbale Eingabe, in der das gewünschte Bild inhaltlich und stilistisch beschrieben wird. Der menschliche Einfluss ist damit noch gegeben, die Ausführung liegt aber in der Hand des Computers. Die Ergebnisse können verfeinert oder durch eine modifizierte Beschreibung verändert werden. Derzeit haben die entstehenden Bilder noch einen leicht surrealistischen Charakter, der aber in Zukunft ein Sonderfall auf einer Skala von photorealistisch bis psychedelisch sein wird. Indem sie sich nicht vollständig kontrollieren lassen, sind diese „generativen“ Systeme der endgültige Sieg des Ausprobierens über das Nachdenken. In Architektur und Design treffen diese Systeme auf ein Feld, in dem schon fast so lange mit Computern experimentiert wird, wie es den Begriff KI gibt.

Ergebnis dieser Experimente waren Computer-Aided-Designsysteme zur Planerstellung und zum Modellieren von dreidimensionalen Geometrien, die sich heute zum Building-Information-Modelling (BIM) weiterentwickelt haben. BIM speichert im digitalen Modell nicht nur Geometriedaten, sondern auch Kennwerte, aus denen sich etwa der Energieverbrauch für Herstellung und Betrieb von Bauten ableiten und optimieren lässt. Dazu kamen Programme zur immer realistischeren Visualisierung, die auch in Computerspielen eingesetzt werden, und die 3-D-Produktion von Modellen und Bauteilen über Robotik- und Druckverfahren.

Die von Marlies Wirth und Bika Rebek kuratierte Ausstellung, die ab kommendem Mittwoch unter dem Titel „Imagine: Eine Reise in die Neue Virtualität“ im MAK zu sehen ist, verbindet diese Themen zu einem gelungenen Panorama von Werken, die in den vergangenen zehn Jahren entstanden sind. In vier Kapiteln – „Speculative Narratives and Worldbuilding“, „Research Investigations“, „Dreamscapes“ und „KI and Algorithmic Variation“ – werden Arbeiten in unterschiedlichen Medien gezeigt: Filme wie Liam Youngs „Planet City“ über eine Stadt für zehn Milliarden Menschen; eine Mixed-Reality-Installation von Lara Lesmes und Frederik Hellberg zum Thema „Portale“ als Instrumente der Verbindung und der Ausschließung; Genevieve Goffmans 3-D-gedruckte Miniaturen treffen auf das „Doghouse“ der Gruppe SPAN (Sandra Manninger und Matias del Campo), der Rückübersetzung eines KI-generierten Bilds in einen fast monumentalen 3-D-Druck, der von Roboterhunden bewohnt wird. Gegenüber zeigt Lee Pivnik, Gründer des Institute of Queer Ecology, KI-unterstützte, in Zusammenarbeit mit lokalen Gruppen in Südflorida entwickelte Architekturvisionen.

Dass die Ausstellung auf historische Tiefe verzichtet, ist Programm. Die virtuellen Welten, die hier gezeigt werden, brauchen keinen Stammbaum. Soweit sie KI-generiert sind, haben sie sowieso alles Wissen der Welt in sich aufgesogen.

Muss man sich vor KI-Systemen fürchten? Als Kränkung, weil sie in manchen Bereichen mehr leisten als ein einzelnes Gehirn, sollten wir sie nicht empfinden. Der Gedanke, „klüger“ sein zu wollen als eine Bibliothek, ergibt ja auch keinen Sinn. Im Idealfall werden sie neue Mitspieler und Mitgestalter, vielleicht auch Botschafter und Moderatoren, die mit ihrem überlegenen Zugriff auf große Datenmengen Sachverhalte transparent machen und zwischen Interessen vermitteln. Dass sie, wie jede disruptive neue Technik, großes Missbrauchspotenzial haben und entsprechend reguliert werden müssen, sollte sich von selbst verstehen.
Wer nach der Ausstellung im MAK noch Zeit hat, dem sei im Anschluss ein Besuch im Architekturzentrum Wien empfohlen, dessen aktuelle Werkschau der 82-jährigen pakistanischen Architektin Yasmeen Lari vorige Woche an dieser Stelle von Franziska Leeb besprochen wurde. Ganz abgesehen von der Kluft zwischen den dort und hier gezeigten Architekturwelten: Nach einem bewegten Leben alt und weise zu werden ist eine Erfahrung, die künstlichen Intelligenzen für immer unzugänglich bleiben wird.

4. April 2023 Spectrum

Krematorium Simmering: Ein kühler Abschied ins Feuer

Vor 100 Jahren wurde das Krematorium Simmering eröffnet. Nun hat es einen Zubau mit allem Komfort erhalten. Aber sollte Architektur im Umfeld des Todes nicht doch einen Gedanken ausdrücken?

Auch in einer aufgeklärten, entzauberten Welt bleibt die Gestaltung des letzten Wegs eine heikle Frage. Heute gilt die Entscheidung zwischen Erd- oder Feuerbestattung als Privatsache, vor 100 Jahren war sie noch massiv ideologisch belastet. In Wien wurde 1904 der Arbeiterverein „Die Flamme“ gegründet, der sich für die Feuerbestattung einsetzte. Erfüllt wurde diese Forderung erst, als das „Rote Wien“ unter Bürgermeister Jakob Reumann 1922 ein Krematorium errichten ließ. Bis zuletzt blieb es Spielball im Konflikt der Ideologien: Der christlich-soziale Innenminister Richard Schmitz untersagte die Inbetriebnahme per Weisung; Reumann eröffnete trotzdem und bekam vom Verfassungsgerichtshof, wo der Fall schließlich landete, Recht.

Das Gebäude, das für diesen Zweck errichtet wurde, stammt von Clemens Holzmeister und gilt als der „bedeutendste expressionistische Bau Österreichs“. Als solchen bezeichnete ihn Friedrich Achleitner, der profundeste Chronist der österreichischen Architektur des 20. Jahrhunderts. Dem 1886 geborenen Holzmeister brachte das Projekt internationale Aufmerksamkeit für das, was seine Zeitgenossen als „gewaltigen inneren Drang zur Monumentalität“ würdigten. Achleitner spricht von „Theatralik und Pathos, dem man sich auch heute nicht entziehen kann“. Dass mit Holzmeister ausgerechnet der zukünftige Chefarchitekt des Ständestaats und Planer zahlreicher Kirchen für dieses Renommierprojekt des roten Antiklerikalismus zum Zug kam, ist bemerkenswert. Bei genauerer Betrachtung erweist sich Holzmeisters Expressionismus denn auch als ziemlich erdig, nicht zuletzt im Vergleich zu dem nach Meinung der Zeitgenossen fortschrittlichsten Projekts aus dem Wettbewerb, der 1921 für das Krematorium ausgeschrieben wurde: Arthur Grünberger und Adolf Jelletz, auf deren Pläne die 1938 zerstörte Neue-Welt-Synagoge in Hietzing zurückgeht, entwarfen einen kronenartigen, filigranen Rundbau, der sich am deutschen Expressionismus der Zeit orientiert, etwa Bruno Tauts Visionen zur „Alpinen Architektur“. Holzmeisters markante Spitzbögen verströmen dagegen einen Hauch von Burgenromantik.

Diese Romantik dürfte der Grund sein, dass Holzmeister als Drittplatzierter des Wettbewerbs den Auftrag zur Realisierung erhielt. Ursprünglich war für das Projekt ein Standort in St. Marx vorgesehen gewesen; man entschied sich aber schließlich für ein Areal gegenüber dem Zentralfriedhof – den Park des Schlosses Neugebäude, das Maximilian II. Mitte des 16. Jahrhunderts hatte errichten lassen. Die Begrenzungsmauern des Schlossparks mit ihren Wehrtürmen waren ein ideales Umfeld für Holzmeisters Projekt. Auf der Hauptachse des Schlosses, etwas ins Innere des Parks gerückt und durch gedeckte Kolumbarien-Gänge mit der Schlossmauer verbunden, bildet die Feuerhalle das Zentrum eines gefassten Freiraums, der sich in das Ensemble des Neugebäudes einfügt. Der kompakte Zentralbau bestand im Wesentlichen aus dem Verabschiedungsraum direkt unter der steilen Kuppel, an dessen Stirnwand der Sarg aufgebahrt und über einen „Tumbenaufzug“ nach unten zu den Verbrennungsöfen abgesenkt wurde. Ein Aufbahrungsraum und eine Leichenkammer lagen an der Rückseite, wo auch die Anlieferung erfolgte. Diese Anlage wurde bereits 1931 um zusätzliche Aufbahrungsräume erweitert und Ende der 1960er-Jahre von Holzmeister radikal umgebaut. Der Raum unter der Kuppel verwandelte sich dabei in einen Verteiler, von dem aus zwei seitliche und ein auf der Hauptachse liegender Verabschiedungsraum erschlossen werden. Die beeindruckende, von Giselbert Hoke gestaltete Glaswand, die den Raum abschließt, ändert nichts daran, dass der Um- und Zubau insgesamt eher plump ausgefallen ist. Vom spannungsvollen Zentraltyp ist im Inneren nicht mehr viel zu spüren.

Der jüngste Zubau eines weiteren Verabschiedungsraums, der voriges Jahr zum 100-Jahr-Jubiläum der Feuerhalle fertiggestellt wurde, setzt die Erweiterung axial nach hinten fort, mit dem Problem, dass Holzmeisters Erweiterung seitlich überholt werden muss. Im Wettbewerb war dafür vonseiten der Friedhöfe Wien ein Gang vorgegeben, der zwangsläufig ungeschickt an den Bestand andocken muss. Nur ein einziges der eingereichten 38 Projekte schlug eine überzeugende Alternative vor: Juri Troy wiederholt Holzmeisters Erweiterungsstrategie, indem er dessen zentrale Verabschiedungshalle zu einem Verteiler umfunktioniert, der beiderseits je eine neue Halle erschließt. Die Jury konnte sich nur zu einem zweiten Platz für das Projekt durchringen.

Das Siegerprojekt stammt von Christian Tabernig und Harald Kloiber, die als Projekt CC firmieren. Sie setzen dem Bestand eine große Betonskulptur gegenüber und verbinden Alt und Neu durch seitliche Spangen, die einen Innenhof umschließen. Der Verabschiedungsraum wirkt im Gegensatz zum rauen Äußeren skandinavisch komfortabel. Er bietet Licht von beiden Seiten, auch Ausblick in den Park, der allerdings durch eine quadratische Betonscheibe ohne statische Notwendigkeit störend unterbrochen ist. Die vergoldete schwebende Ellipse über dem Tumbenaufzug ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner Christof Cremer.

Ursprünglich war geplant, in der neuen Halle eine „Verabschiedung ins Feuer“ zu ermöglichen, bei der die Angehörigen den Weg des Sarges in den Verbrennungsofen verfolgen können, aus logistischen Gründen nahm man davon wieder Abstand. Nun gibt es auf dem unteren Niveau einen Raum, in dem das für bis zu zehn Personen möglich ist. In der oberen Halle ist dafür ein hochauflösender Bildschirm an der Stirnwand montiert, um die Verstorbenen in Bild und Ton zu würdigen. Die Friedhöfe Wien bieten bereits ein „Digitales Grab“ zum Totengedenken im virtuellen Raum an.

Was kann Architektur in diesem Umfeld noch leisten? Sie müsste kompromisslosere, außergewöhnliche Ort schaffen. Unter den Beiträgen im Wettbewerb gab es dazu nur wenige Ansätze (architekturwettbewerb.at): einen Luftschiffhangar für die aufsteigenden Seelen von Wolfgang Tschapeller; eine präzise um einen Seerosenteich geneigte Rampe von Gerhard Vana. Sollte Architektur zumindest im Umfeld des Todes nicht doch einen Gedanken ausdrücken?

9. März 2023 Spectrum

Diese Bücher machen Lust auf Architektur

Wie wollen wir leben? Wer macht Stadt? Um sich dem Thema Architektur zu nähern, gibt es verschiedene Wege: etwa über das Festival Turn On, ein Buch mit farbenfrohen und musikalischen Entwürfen oder den Katalog des Architekturzentrums Wien als Einstiegsdroge.

Es ist noch nicht zu spät. Wenn Sie diesen Text lesen, ist es wahrscheinlich Samstagvormittag, und Sie überlegen, was Sie mit dem Tag noch anstellen wollen. Offensichtlich sind Sie an Architektur interessiert, sonst hätten Sie diese Seite nicht aufgeschlagen. Die Empfehlung für den Nachmittag fällt mir daher leicht: Das Architekturfestival Turn On im Radiokulturhaus Wien, geleitet von Margit Ulama und veranstaltet von der Architekturstiftung Österreich, öffnet um 13 Uhr die Pforten. Schon der Ort ist Architekturgeschichte: der Große Sendesaal im ehemaligen Ravag-Gebäude in der Argentinierstraße, 1935 von den Architekten Aichinger und Schmid mit Clemens Holzmeister entworfen. Turn On findet hier seit 2003 jährlich statt und besteht inzwischen aus zwei Teilen, einem ersten am Donnerstag und Freitag, in dem Planer und Unternehmen gemeinsam ein Projekt und seine technische Realisierung vorstellen, und einem zweiten Teil am Samstag, bei dem Architekt:innen ausgehend von einem Projekt ihre Denk- und Arbeitsweise präsentieren.

Inklusive eines Festvortrags von Walter Angonese und einer Talkrunde, in der András Pálffy, Wilfried Kühn und Claudia Cavallar um 16.15 Uhr über die Frage diskutieren, unter welchen Bedingungen neu bauen statt sanieren vertretbar ist, ergibt das 40 Präsentationen quer durch die hiesige Architekturlandschaft: vom VinziDorf bis zum Wien Museum, von Querkraft bis Flöckner und Schnöll. Als Gäste aus dem Ausland ergänzen Sergison Bates und Ripoll-Tizón das Programm. Die Vorträge sind auch über einen Livestream auf turn-on.at zu sehen.

Abrufbar sind danach aus Copyright-Gründen allerdings nur die Vorträge vom Donnerstag und Freitag. Wenn Sie diesen Text erst am Sonntag lesen, haben Sie also Pech gehabt. Das tut mir leid, denn wenn Sie bis hier gelesen haben, sind Sie wirklich an Architektur interessiert. Zum Trost kann ich Ihnen einige neu erschienene, außergewöhnliche Architekturbücher empfehlen.

Vom Reden zum Bauen

Die ersten beiden sind Werkmonografien zweier annähernd gleich alter Büros: Holodeck wurde 1998 von Marlies Breuss und Michael Ogertschnig gegründet, Nonconform 1999 von Peter Nageler und Roland Gruber. Von einem „Werk“ im üblichen Sinn kann man bei Nonconform nur bedingt sprechen. Für sie ist Architektur vor allem ein Prozess, und so deklariert sich ihr von Wojciech Czaja und Barbara Feller im Jovis Verlag herausgegebenes Buch schon im Titel als „Lesebuch“ über das „Reden, Planen, Bauen auf dem Land und in der Stadt“. Im Zentrum stehen – durch zahlreiche Fotos porträtiert – „die Menschen“ auf dem Weg vom Reden zum Bauen. Das Buch entwickelt seinen Sog durch eine Fülle an Interviews und Fallstudien, mit denen Nonconform beweisen, dass man auch in der Prozessbegleitung eine kollektive Meisterschaft entwickeln kann. Zentrales Werkzeug dafür ist die „Nonconform Ideenwerkstatt“, ein Partizipationsformat, das Kommunen und Unternehmen hilft, Interessen abzuwägen und die Richtung für die weitere Planung festzulegen. Dass Nonconform mit inzwischen sieben Bürostandorten in Österreich und Deutschland auch Gebäude planen, geht im Buch beinahe unter.

Der Unterschied zu der bei Birkhäuser erschienenen Werkmonografie von Holodeck könnte kaum größer sein, wie sich schon bei der äußeren Erscheinung der Bücher zeigt. Während das Nonconform-Lesebuch mit seinem weichen Cover und einer speziellen Fadenheftung einer scheinbar beiläufig zusammengefügten Zettelsammlung gleicht, kombinieren Holodeck zwei massive Bücher zu einem perfekt konstruierten Ensemble aus Bildern, Texten, Plänen und Skizzen. Einfach loslegen mit dem Lesen ist hier keine Option: Um das Buch scharf zu machen, braucht man exakt 100 Zentimeter freie Tischplattenlänge, auf die man die beiden Teile auffalten muss. Das mag unzeitgemäß wirken, zwingt aber zu einer konzentrierten, fast klösterlichen Lektüre der Projekte, die diese Aufmerksamkeit durchwegs verdient haben, allen voran die österreichische Botschaft in Bangkok. Strahlende Gesichter wird man auf den Fotos nicht finden, dafür gut proportionierte und gestaltete Räume und zahlreiche komplexe Detailzeichnungen – eine Seltenheit in heutigen Architekturpublikationen.

Wofür die Farben stehen

Wer die beiden Publikationen in einen größeren Kontext stellen will, kann zu einer Neuerscheinung greifen: dem von Angelika Fitz und Monika Platzer herausgegebenen Katalog zur Schausammlung des Architekturzentrums Wien unter dem Titel „Hot Questions, Cold Storage. Architektur aus Österreich“. Hier geht es um die ganz großen Fragen geordnet nach Leitbegriffen wie Planet, Kapital, Habitat, Selbstschau, Gemeinwohl: Wie wollen wir leben? Wer macht Stadt? Wie überleben wir auf einem immer heißeren Planeten? Das Buch übersetzt die atmosphärisch dichte Ausstellung kongenial in ein Druckwerk, bis hin zur starken Farbigkeit in der Gestaltung. Eine Geschichte der österreichischen Architektur des 20. und 21. Jahrhunderts kann und will der Katalog nicht liefern – als Einstiegsdroge zum Thema Architektur ist er bestens geeignet.

Das eigenwilligste Architekturbuch des Jahres ist schon im Herbst im Verlag Sonderzahl erschienen, wird aber erst am 16. März in der Buchhandlung König im MQ vorgestellt: Sabine Pollaks „Die unendliche Stadt“, eine Sammlung von 80 Textminiaturen mit Zeichnungen, die Pollak während der Lockdowns begonnen hat. Die Inspirationen sind offensichtlich: Für den Text sind es Italo Calvinos „Unsichtbare Städte“, für die Zeichnungen Yona Friedmans Raumstadt-Skizzen. Pollaks Sprache ist präzise, trockener Humor hält die Miniaturen zusammen. Da gibt es eine Sechseckstadt, eine Medusenstadt und eine erotische mit dem Namen Visiona X, die sich auf Verner Pantons Rauminstallation Visiona 2 bezieht. Eine andere zeigt unter dem Titel Schlauchstadt sechs Wohnkugeln, die auch geflochtene Körbe sein könnten, verbunden durch Schläuche in Rot, Gelb und Grün. „Wenn eine Kugel einatmet, atmet eine andere aus“: Und wofür stehen die Farben? „Panafrikanisch? Zu ideologisierend. Postkolonialistisch? Wahrscheinlich. Antikapitalistisch? Ja, doch. Reggae? Auf jeden Fall!“

Ist das zu verspielt angesichts der laufenden Weltkatastrophen? Wohl kaum. Gerade nach Katastrophen braucht es Imagination, also eine Vorstellungskraft, die bildhaft über das Quantitative hinausgeht. Nur wer von Städten träumt, die schöner und lebenswerter sind als je zuvor, hat Kraft genug für einen Wiederaufbau.

16. Januar 2023 Spectrum

In Graz wachsen Türme und Träume

Zwei neue Stadtteile in Graz erwachen zum Leben: Smart City und Reininghausquartier. Reichen Dichte und Durchmischung aus, um echte Urbanität zu erzeugen?

Graz wächst. Seit 2012 ist die Zahl der Stadtbewohner von 298.000 auf 335.000 gestiegen, ein Zuwachs von 12,5 Prozent. Damit liegt die Stadt proportional gleichauf mit der Entwicklung in Wien. Eine im Herbst 2022 veröffentlichte Wohnbaustudie zeigt einige Grazer Besonderheiten: 18.000 neue Wohnungen zwischen 2015 und 2020, davon nur 15 Prozent Gemeinde- und Genossenschaftswohnungen. Im Jahr 2021 wurden 44 Prozent der Wohnungen zur Weitervermietung gekauft, wobei die durchschnittliche Wohnungsgröße auf rund 60 Quadratmeter zurückging, wie es für Anlegerwohnungen typisch ist.

Die beiden innerstädtischen Gebiete, die mit den größten Ambitionen entwickelt wurden, sind alte Industrieareale, beide im Westen in der früheren Vorstadt gelegen, jenseits der Bahn, die immer noch eine Barriere darstellt. Das kleinere der Areale, das sich als Smart City Graz positioniert, liegt unmittelbar an der Bahntrasse hinter dem Hauptbahnhof; das mit 52 Hektar deutlich größere, die Reininghausgründe, etwas weiter stadtauswärts im Südwesten. Beide Areale wurden mit neuen beziehungsweise erweiterten Straßenbahnlinien an den öffentlichen Verkehr angebunden.

Die Smart City hinter dem Bahnhof hat eine spezielle Entwicklungsgeschichte, deren erster Impuls auf zwei vom Architekten Markus Pernthaler entworfene Bauten zurückgeht, die List Halle und den Science Tower, die als Basilika und Campanile zum Nukleus eines Stadtquartiers wurden, das in dieser Form eigentlich nicht geplant war. Heute ist das Areal gerade in der letzten Phase der Fertigstellung; eine bewohnte Baustelle, an der man die städtebauliche Idee aber bereits gut ablesen kann: eine Stadt mit klaren Platz- und Straßenräumen, gemischt genutzt und hoch verdichtet. Trotz klassischer städtebaulicher Vorgaben gibt es eine gute Bandbreite an Gebäudelösungen, durchaus mit typologischen Innovationen.

Verkehrs- versus Freiraumplanung

Urbanität braucht neben Durchmischung und Dichte aber noch eine dritte Komponente, nämlich Theatralik, gewissermaßen die Art und Weise, wie Menschen und Räume im Alltag zu einem Ereignis verschmelzen. Ob es in der Smart City genug dafür geeignete Orte gibt, darf bezweifelt werden. Wie so oft in neuen Stadtvierteln schlägt die Verkehrsplanung die Freiraumplanung: Auch eine noch so gelungene Stadtmöblierung kann gegen überdimensionierte Asphaltflächen nicht viel ausrichten.

Das Reininghausquartier dürfte in Hinblick auf die Freiräume besser abschneiden. Hier ist erst ein Viertel der Bewohner eingezogen, im Herbst 2022 waren es 2300 Personen von 10.000, die hier im Endausbau vorgesehen sind. Dazu sollen 5000 Arbeitsplätze kommen. Maßstab für die vertikale Entwicklung des Gebiets war der Siloturm einer am Standort weiterhin in Betrieb befindlichen Malzfabrik. Hier entstehen mehrere Wohnhochhäuser mit 50 bis 70 Meter Höhe, unter anderem ein Green Tower mit begrünter Fassade von Thomas Pucher und ein Doppelturm nach Plänen der Architektengruppe Pentaplan, der auf einem Sockelgebäude aufsitzt. Dieser Sockel ist Teil der Randbebauung des Reininghausparks, der mit rund drei Hektar Fläche das grüne Herz des Gesamtprojekts werden soll. Eine kleine Wasserfläche am nördlichen Rand des Parks erinnert an die Eisteiche, die es hier zu Zeiten gab, als auf dem Areal noch Bier gebraut wurde. Die Randbebauung des Parks lag weitgehend in der Hand von Pentaplan, die alle von der Stadt vorgeschriebenen Wettbewerbe gewonnen haben. Ihre Architektur ist kostengünstig, intelligent organisiert und gut proportioniert. Sie vereint Pragmatik mit einem nicht zu dick aufgetragenen Witz, wenn sie etwa das große Bauvolumen, das die gesamte Nordseite des Parks markiert, einfach in einen beigen und einen rötlichen Teil gliedert und damit der großen Masse neue Obertöne herauslockt.

Für mehr Spektakel wird aber ein Projekt sorgen, dass an der Ostseite des Parks entstehen soll: ein Büro- und Wohnhaus nach Plänen von Coop Himmelb(l)au und Hermann Eisenköcks Büro Architektur Consult, eine Glas-und-Stahl-Glitzermaschine mit zwei Türmen und schwungvollem Sockel.

Spätestens bei diesen Namen im Grazer Kontext darf man stutzig werden: War da nicht noch etwas? Ein Modell Steiermark, das in den 1980er-Jahren im österreichischen Wohnbau eine Vorreiterrolle innehatte, mit von der Politik unterstützten Beamten wie Wolfdieter Dreibholz als Strippenzieher? Oder eine „Grazer Schule“, die sich zur selben Zeit international bemerkbar machte, mit Günther Domenig als Leitfigur? Auf dessen Einladung Wolf Prix und Helmut Swiczinsky 1980 an der TU Graz einen tonnenschweren „Flammenflügel“ brennen ließen, als Illustration zu ihrem Motto „Architektur muss brennen“?

Künstlerarchitekten

Viel weiter weg von dieser Architekturvorstellung könnte der Pragmatismus, der heute den Mainstream nicht nur der Grazer, sondern der Architektur im Allgemeinen prägt, nicht sein: auf der einen Seite die anonymen Dienstleister, auf der anderen Seite die kompromisslosen, geradezu besessenen Einzelkämpfer, die die Architekturgeschichte hinter sich lassen und ihre Ideen gegen eine Vielzahl von Widerständen durchsetzen. Dass sich hinter dieser für die Öffentlichkeit inszenierten Figur des Künstlerarchitekten eine komplexere Realität verbirgt, zeigt eine höchst gelungene Ausstellung, die derzeit im Kunsthaus Muerz in Mürzzuschlag zu sehen ist: „Wir Günther Domenig. Eine Korrektur.“ Ihr Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass das Wort „wir“ im Sprachgebrauch Günther Domenigs nicht existierte, seine Karriere aber von einem vielfältigen Netzwerk von Förderern, Partnern, Bauherren und nicht zuletzt Mitarbeitern getragen war.

Der Ausstellungsmacher Michael Zinganel hat dieses Netzwerk minutiös, Lebensphase für Lebensphase und Projekt für Projekt untersucht, von der frühen Partnerschaft mit Eilfried Huth bis hin zu Domenigs Lehrtätigkeit an der TU Graz und dem Netzwerk aus Diplomand:innen, die oft auch Mitarbeiter:innen in Domenigs Büro waren. Das klingt nach trockenem Stoff, ist aber höchst abwechslungsreich mit Originalmaterialien, Filmen und Modellen aufbereitet. Deutlich wird auch Domenigs erstaunliche Fähigkeit, intuitiv den nächsten Trend zu erkennen und von einer brutalistischen über eine technoide zu einer organischen Architektur zu finden, die sich schließlich auch als dekonstruktivistische darstellen ließ.

Bis zum Ende der Ausstellung am 5. Februar sind noch einige Kuratorenführungen angesetzt, die man Architekturinteressierten dringend empfehlen kann. Die raffiniert geknüpften Männernetzwerke, die hier zum Vorschein kommen, müssen uns nicht abgehen; die ansteckende Leidenschaft für die Sache Architektur aber sehr wohl.

16. Dezember 2022 Spectrum

Ein Brüsseler Plenarsaal in den Wolken

Der Wettbewerb für ein neues EU-Parlament in Brüssel ist entschieden. Ob wirklich etwas Neues entsteht oder es am Ende bei der Sanierung eines schwachen Bestands bleibt, ist freilich noch offen.

Versucht man einem Gast aus den USA die politische Struktur der EU zu erklären, wird es rasch kompliziert. In den USA bilden der Präsident, der Kongress und der oberste Gerichtshof ein stabiles Dreieck von Exekutive, Legislative und Judikative. In der EU gibt es gleich drei Präsident:innen: eine mächtige für die Kommission, eine weniger mächtige für das Parlament und einen vergleichsweise machtlosen, alle 2,5 Jahre neu gewählten, der den „Europäischen Rat“ der Regierungschefs leitet; im „Rat der EU“ treffen sich die Minister auf fachlicher Ebene.

Immerhin haben die beiden EU-Räte seit ein paar Jahren ein eigenes Haus: die Erweiterung eines Art-déco-Gebäudes aus den 1920er-Jahren unweit des Brüsseler Place Schumann, genau gegenüber vom Sitz der Kommission. Der Bestand wurde vom belgischen Büro Samyn und Partner um einen gebäudehohen Wintergarten erweitert, hinter dessen Fassade aus nachgenutzten Eichenholzfenstern eine gigantische gläserne Amphore hervorleuchtet, in der die Ratssäle gestapelt sind. Das Ensemble aus Alt und Neu wirkt einigermaßen surrealistisch, insbesondere da die Amphore nicht kreisrund, sondern gequetscht ist, was ihr in der Seitenansicht einen beachtlichen Schmerbauch verleiht. Als Hintergrund für die mediale Berichterstattung ist das „Haus Europa“ aber gut brauchbar. Im Logo der Räte findet sich das Haus ebenso wieder: als kleines Fass mit horizontalen Streifen.

Auch das Europäische Parlament hat ein Logo: einen konzentrisch angelegten Plenarsaal, das einen konzentrisch angelegten Plenarsaal darstellt. Dass hier kein Gebäude gezeigt wird, ist kein Zufall. Die Frage, wo das Europaparlament zu Hause ist, lässt sich nämlich nicht so einfach beantworten. Straßburg ist als offizieller Sitz des Parlaments in Verträgen festgeschrieben, die nur einstimmig geändert werden können. Dass es klüger wäre, Kommission, Räte und Parlament an einem gemeinsamen Ort unterzubringen, liegt aber auf der Hand.

Zwischen Brüssel und Straßburg

Als die Belgier Ende der 1980er-Jahre versuchten, das Parlament in einen Neubau nach Brüssel zu locken, musste dieser Plan quasi geheim umgesetzt werden, was bei einer Bauführung im Ausmaß von mehreren Hunderttausend Quadratmetern Fläche nicht einfach ist. Der Zaubertrick, mit dem dies gelang, war die Planung eines Kongresszentrums in zufällig denselben Ausmaßen, wie sie das EU-Parlament benötigte. Der Standort dieses als „Espace Léopold“ bezeichneten Komplexes liegt prominent am Rande des Quartier Léopold, 15 Minuten Fußweg vom Place Schumann entfernt. Sein Spitzname „Caprice des Dieux“ bezieht sich auf einen Käse gleichen Namens, dessen Schachtel eine ähnlich längliche, an beiden Seiten abgerundete Form aufweist wie das Parlamentsgebäude. Heute finden hier im Schnitt sechs Sitzungen des EU-Parlaments pro Jahr sowie die Ausschuss- und Fraktionssitzungen statt. Zwölf weitere Sitzungen des Plenums erfolgen im 400 Kilometer entfernten Straßburg, wo seit 1999 ein für 470 Millionen Euro errichteter Parlamentsneubau zur Verfügung steht. Mit diesem Investment signalisierte Paris, dass es der EU nie erlauben würde, das Parlament komplett nach Brüssel zu verlagern. Das hat seinen Preis: Die Kosten für das Hin- und Herreisen werden auf rund 200 Millionen Euro pro Jahr geschätzt.

Nun steht das Brüsseler Parlament nach knapp 30 Jahren und zahlreichen Zu- und Umbauten vor einer Generalsanierung, die bis zum Abbruch und Neubau gehen könnte. Um Vorschläge dafür zu erhalten, startete das Parlament 2019 einen mehrstufigen Architekturwettbewerb für ein Projekt mit einem Kostenrahmen von rund 300 Millionen Euro. Diesmal wollte die EU nichts falsch machen: Die Ausschreibung war präzise, das Preisgeld angemessen, und in der Jury saßen mit Kazuyo Sejima, Dorte Mandrup, Manuelle Gautrand und Kristiaan Borret international ausgewiesene Expert:innen. Die Jurysitzung der letzten Stufe mit 25 Finalisten fand im Juni 2021 statt. Die Ergebnisse wurden dem Parlament coronabedingt erst im Sommer 2022 präsentiert und kürzlich im Internet veröffentlicht.

Wo Demokratie reflektiert wird

Die Grundentscheidung war jene zwischen Abbruch und Neubau. Ist es ökologisch vertretbar, ein Objekt dieser Größe nach nur 30 Jahren abzutragen? Nein, argumentieren in ihrem Projekt die Architekten Baumschlager-Eberle: Der Bestand wird transformiert, teilweise in Holz ergänzt und in eine neue Hülle gepackt, die nicht unangenehm auffällt. Ja, argumentieren Jabornegg und Pálffy, die in Kooperation mit Kuehn Malvezzi den zweiten Platz im Wettbewerb erzielten: Ein Plenarsaal fast in den Wolken verbindet sich mit einem Sockelgebäude zu einer gläsernen Skulptur, die aus dem Kontext herauswächst. Der defizitäre Bestand wird abgetragen, womit der Weg frei wird zu einer präzisen räumlichen Fassung des parlamentarischen Betriebs, mit grandiosen Foyers, Besucherterrassen und Gärten. Das Ergebnis ist ein Ort, an dem Demokratie nicht nur praktiziert, sondern auch reflektiert wird. Über die nächsten 50 oder 100 Jahre, die das Gebäude überdauern sollte, wird sich auch die Praxis der Demokratie verändern. Die großzügigen Begegnungszonen in diesem Entwurf bieten dafür den nötigen Raum.

Der erste Platz im Wettbewerb ging an einen Kompromiss: Das belgische Büro JDS in Partnerschaft mit Carlo Ratti, NL Architects, Ensamble Studio und Coldefy aus Frankreich entfernt den mittleren Teil des Bestandes und implantiert dort die Elemente des parlamentarischen Betriebs als Revue von Themen: eine Rolltreppenhalle für die Besucher, ein als Totem bezeichnetes Implantat für diplomatische Spezialanlässe, dazwischen eingespannt der Plenarsaal, über dem als krönender Abschluss ein Wintergarten errichtet wird, in dem Pflanzen aus der ganzen EU wachsen sollen.

Diese Theatralik wirkt etwas billig. Aus der Käseschachtel würde mit diesem Projekt eine Pralinenschachtel. Das mag ein Fortschritt sein, aber er reicht nicht. Laut Ausschreibung muss der Auftraggeber den Rat der Jury nicht unbedingt befolgen. Er sollte diese Option nutzen und ein konsequentes Projekt wählen statt eines faulen Kompromisses – falls er an einer Umsetzung interessiert ist. Vonseiten der Parlamentspräsidentin Roberta Metsola gibt es jedenfalls kein offizielles Statement zum Projekt.

17. November 2022 Spectrum

Sag nicht Schule zu mir

Ein Campus kombiniert verschiedene Aufgaben – beim neuen Campus Penzing gehören dazu ein Inklusions-Cluster für Kinder mit Hörbehinderung und eine Musikschule. Infrastrukturen dieser Art werden wir in den nächsten Jahrzehnten vermehrt brauchen.

Wien wächst. Nach einem Tiefpunkt im Jahr 1988 mit unter 1,5 Millionen Einwohnern bewegt sich die Stadt gerade wieder auf die Zwei-Millionen-Grenze zu, die sie schon einmal, im frühen 20. Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg, überschritten hat.

Mit dem Wachstum einher geht der Bedarf an zusätzlichem Wohnraum, der entweder an der Peripherie in Stadterweiterungsgebieten befriedigt wird oder durch Verdichtung im Inneren, etwa auf den Flächen aufgelassener Industrie- und Gleisanlagen. Mit den zusätzlichen Wohnungen steigt die Nachfrage nach dem, was Planer gern „soziale Infrastruktur“ nennen, also nach Gesundheitseinrichtungen, Schulen oder Kindergärten.

Der Begriff „Infrastruktur“ kommt eigentlich aus dem militärischen Bereich und bezeichnet heute Einrichtungen, die im Hinter- und Untergrund für das Funktionieren einer Gesellschaft nötig sind. Schulen und Kindergärten in einen Topf mit Kanälen, Schnellstraßen und Brücken zu werfen ist aus architektonischer Sicht allerdings kein glücklicher Gedanke. Als wichtige soziale Einrichtungen sollten sie ja alles andere als im Hintergrund wirken – nämlich zu den schönsten und prägendsten Bauten eines Stadtteils gehören.

Die Entwicklung des Bildungsbaus in der Stadt Wien über die vergangenen Jahrzehnte war in dieser Hinsicht durchaus erfreulich. Die erste Welle ambitionierter Schulbauten geht auf das Jahr 1991 zurück, als unter Stadtrat Hannes Swoboda das „Schulbauprogramm 2000“ lanciert wurde, in dessen Rahmen über 30 neue Volks- und Hauptschulen errichtet wurden. Geplant wurden sie von renommierten Architekten, die vor dem EU-Beitritt noch in Direktvergabe zu ihren Aufträgen kamen, danach über Wettbewerbe.

Wiener Campusmodell

Die Spannweite der Lösungen war typologisch bescheiden, da man sich vom traditionellen Modell der Gangschule nicht trennen wollte; architektonisch lagen freilich Welten zwischen den Resultaten, zu denen Hermann Czechs im besten Sinne „manieristische“ Schule in der Fuchsröhrenstraße ebenso gehört wie Helmut Richters „gläserne“ am Kinkplatz, deren Schicksal nach Jahren des Leerstands ungewiss ist.

Da sich das Bevölkerungswachstum Ende der 1990er-Jahre überraschend abflachte, kam es auch im Bildungsbau zu einer kurzen Stagnation, in der unter der Ägide der Stadträtin und ausgebildeten Lehrerin Grete Laska ein neuer Typ von Schulgebäude erfunden wurde, das „Wiener Campusmodell“. Mit dem angelsächsischen Modell eines Campus, der in der Regel aus mehreren isolierten Gebäuden besteht, die in einen großzügigen Freiraum komponiert sind, hat der Wiener Campus nichts zu tun. Er besteht zwar aus mehreren Institutionen, meist Kindergarten, Volksschule, Hauptschule und anderen Einrichtungen wie etwa einer Musikschule. Diese Institutionen sind aber nicht auf der grünen Wiese verteilt, sondern in ein sehr großes Gebäude verpackt, in dem sich bis zu 1100 Kinder unterschiedlicher Altersstufen und mit unterschiedlichen Talenten beziehungsweise Förderbedarf tummeln. Die Verbindung der Einrichtungen soll unterschiedliche Betreuungskompetenzen zusammenführen und das Arbeiten in Teams erleichtern. Als erste Realisierung dieses Modells gilt der Bildungscampus Monte Laa von NMBP-Architekten, der 2010 eröffnet wurde.

Seit damals ist die Wiener Bevölkerung um rund 200.000 Einwohner gewachsen, und die Stadt hat neben der Sanierung und Erweiterung bestehender Schulen ihr Campusprogramm auf 14 Standorte erweitert. Ein wichtiger Meilenstein für die Entwicklung war der Campus Sonnwendviertel von PPAG-Architekten, der erstmals im Wiener Kontext eine Cluster-Typologie verfolgte, bei der mehrere Klassenräume um eine gemeinsame Mitte, den „Marktplatz“, angeordnet sind. Die Klassenräume sind keine Schachteln, sondern über Verglasungen mit dem Marktplatz verbunden. Kleine Annexräume zur Klasse bieten den Kindern eine Rückzugsmöglichkeit, und zu jedem Klassenraum gehört eine Terrasse für den Unterricht im Freien. Während im Sonnwendviertel der Kindergarten und die Volksschule separiert bleiben, befinden sich bei den jüngeren Projekten Räume für den Kindergarten und die Volksschule in einem gemeinsamen Cluster, wodurch der Übergang zwischen den beiden Institutionen unterstützt wird.

Der mit dem laufenden Schuljahr in Betrieb gegangene Campus Deutschordensstraße in Penzing ist das jüngste in einer Reihe von Campusprojekten, die durch ihre städtische Figur und eine Gebäudehöhe von bis zu fünf Geschoßen auffallen. Das Grundstück liegt nordseitig direkt an der Westbahn und südseitig an einem Grünzug, der parallel zur Bahn alte und neue Wohnhäuser verbindet. Die Architekten Misa Shibukawa und Raphael Eder setzen ihren Bau an die nordwestliche Ecke ihres Grundstücks und treppen ihn südseitig über vorgelagerte Terrassen ab. Dabei entsteht ein öffentlicher Vorplatz mit dem Haupteingang in den Campus, der in ein Foyer mit doppelter Raumhöhe führt. Von hier aus geht es über zwei Treppen, die jeweils einen Cluster erschließen, nach oben. Diese Treppen haben Aufenthalts- und Entdeckerqualität: Die Architekten haben angrenzend jeweils über zwei Geschoße reichende Lufträume implantiert, in denen Pflanzen nach oben wachsen.

Platz für Visionen

Seinen besonderen Charakter bekommt der Campus durch die südseitigen Terrassen. Aus dem einfachen rechteckigen Grundriss wächst hier eine vertikale Landschaft von großer Heiterkeit nach oben. Das liegt nicht zuletzt an den minzgrün gestrichenen Geländern, die leicht diagonal zu einem Muster verschweißt sind, dessen Geometrie von der nächsten Fassadenebene, den Rankgerüsten, aufgenommen wird. Außen liegende Jalousien und Sonnensegel schützen die Klassenräume und die Freibereiche vor sommerlicher Überhitzung. Während sich die älteren Kinder, die in beiden obersten Geschoßen einquartiert sind, eher auf diesen Terrassen aufhalten werden, steht der Kleinkindergruppe ein großzügiger Freiraum zur Verfügung, der auf den ehemaligen Bahndamm Bezug nimmt und von den Simma Zimmermann Landschaftsarchitektinnen als kleinteilige Spiellandschaft gestaltet wurde.

Zur Nordseite gibt sich das Campusgebäude mit schmalen Fensterschlitzen eher zugeknöpft. Dass die Bahngleise hier auf ewige Zeiten bestehen bleiben, ist allerdings nicht zu erwarten. Wahrscheinlich reichen hier wenige Gleise als Zubringer zum Westbahnhof, und dann wäre Platz für Visionen: ein Westpark auf der Strecke von Hütteldorf bis zum Gürtel, gemischt mit Wohnbebauung an den richtigen Stellen. Dann wird auch die neue soziale Infrastruktur nicht mehr ausreichen und um neue Campusstandorte ergänzt werden müssen.

Einen Bildungscampus als „Schule“ zu bezeichnen ist für die Pädagogen der Stadt Wien übrigens fast ein Sakrileg. Tatsächlich ist das Besondere eines Campus die Kombination vieler Funktionen, die früher separiert waren. Beim Penzinger Beispiel gehören dazu ein Inklusions-Cluster für Kinder mit Hörbehinderung und eine Musikschule. Vielleicht schafft es die Stadt Wien eines Tages, noch einen Schritt weiterzugehen und weitere Institutionen zu integrieren, etwa ein Tageszentrum für Senioren. Das ist die „soziale Infrastruktur“, die wir in den nächsten Jahrzehnten brauchen werden.

19. Oktober 2022 Spectrum

Wenn das Gerüst zum Raum wird

Der Mies van der Rohe Award ist die höchste europäische Auszeichnung für zeitgenössische Architektur. Nominiert wurden 532 Projekte. Die 40 besten werden derzeit in einer Ausstellung im Architekturzentrum Wien präsentiert.

Seit 2001 ist der Mies van der Rohe Award endlich der offizielle „Preis der EU für zeitgenössische Architektur“. Die Mies van der Rohe Stiftung in Barcelona, die den Preis seit 1988 alle zwei Jahre vergibt, hat sich bei der EU für diese Rolle beworben und den Zuschlag erhalten. Mit einem Preisgeld von 80.000 Euro gehört er neben dem Kiesler- und dem Pritzker-Preis zu den höchstdotierten Architekturpreisen der Welt. Die Nominierungen stammen aus zwei Quellen: auf der einen Seite von den Berufsvertretungen der einzelnen Länder, auf der anderen von unabhängigen Experten. Letztere werden von einem Beirat vorgeschlagen, dem Vertreter von 15 europäischen Architekturmuseen angehören, darunter das Architekturzentrum Wien (AzW). Die Berufsvertretungen nominieren je nach Größe des Landes fünf bis sieben Projekte, die Experten je fünf; und auch der Beirat hat das Recht, bis zu 20 Projekte zusätzlich vorzuschlagen. Die Auswahl der Preise aus diesen Projekten obliegt einer siebenköpfigen Jury, die diesmal aus 532 Projekten zuerst eine Shortlist von 40 Projekten zu wählen hatte. Reduziert auf sieben Finalisten, wurden diese von der Jury vor Ort besucht. Am Ende stehen ein Sieger und eine Auszeichnung für das beste Projekt eines Nachwuchsbüros fest.

Die Europakarte, die dem Award zugrunde liegt, ist etwas eigenwillig: Albanien, die Ukraine und Montenegro gehören dazu, die Schweiz nicht. Großbritannien ist 2022 zum letzten Mal dabei, allerdings mit fulminantem Abschied: Das Siegerprojekt der irischen Architektinnen Shelley McNamara und Yvonne Farrell, die als Grafton Architects firmieren, ist Teil des Campus der Kingston Universität in London. Der Name des Gebäudes, „Town House“, deutet schon an, dass man es hier nicht mit einem normalen Universitätsgebäude zu tun hat. Obwohl sich eine Bibliothek im Kern des Hauses befindet, ist es kein klassisches „Learning Center“, sondern ein offener Ort, an dem auch getanzt, gegessen und Theater gespielt wird. Das wichtigste Element des Hauses ist eine Loggia, die dem Baukörper an der Südseite vorgesetzt ist. Diese Loggia besteht aus einem raffinierten System von Platten und Stützen aus Stahlbeton mit zahlreichen Vor- und Rücksprüngen und Verkröpfungen, die nicht willkürlich sind, sondern nach einem System komponiert, das McNamara und Farrell virtuos beherrschen.

Augenmerk auf die Gebäudehülle

Das ist keine Architektur der leisen Töne: Wäre sie ein Musikinstrument, dann eine Orgel, an der alle Register gezogen sind. Ihren praktischen Zweck findet diese Loggia als Begegnungszone und als Traggerüst für vertikales Grün, das einige der Rahmen schattenspendend füllen wird. Das besondere Augenmerk auf die Gebäudehülle ist charakteristisch für die zeitgenössische Architektur, zumindest wenn man die Nominierungen zum Mies Award als repräsentativ betrachtet. Diese Hülle wird nicht mehr zweidimensional als „Fassade“ gedacht, sondern als Raumschichte mit Tiefe, die zwischen innen und außen vermittelt.

In einer extremen Form findet sich das Thema bei einem multifunktionalen Schulbau in Ghent von Xaveer De Guyter, das auf die Shortlist des Awards kam. Hier mutiert die Hülle zu einem offenen Raumgerüst, dessen Volumen den eigentlichen Nutzbau übersteigt. Auch der „Emerging“-Preis für das beste Nachwuchsbüro ging an ein Projekt, in dem die Idee von Gerüst und Hülle besonders betont wird. La Borda ist ein Baugruppenprojekt in Barcelona, das vom Architekturkollektiv Lacol gemeinsam mit den späteren Nutzern entwickelt wurde. Niedrige Mieten bei hoher räumlicher Qualität zu schaffen gelingt dem Projekt durch kompakte Grundrisse für das private Wohnen, einen günstig gepachteten Baugrund und eine preiswerte Holzkonstruktion. (Zur Zeit seiner Errichtung war das Projekt das höchste Holzhaus in Spanien.) Das Innere des Hauses wird belebt durch einen überdachten Hof, über den nicht nur alle Wohnungen, sondern auch ein zwei Geschoße hoher und damit räumlich im besten Sinn verschwenderischer Gemeinschaftsraum erschlossen werden kann.

Eine ähnliche Hof-Typologie zeichnet ein weiteres Projekt auf der Shortlist aus: einen sozialen Wohnbau in Cornellà de Llobregat in Spanien von Peris + Toral Arquitectes. Auch dieses Haus ist aus Holz, in einem Quadratraster von 3,6 Metern konstruiert, der für das Material optimal, für die üblichen Grundrisse im Wohnbau aber eher eng ist. Peris + Toral erfinden dafür einen neuen, hocheffizienten Typus von Wohnbau, ein System von scheinbar identischen Zellen, die ohne Innengänge aneinandergekoppelt werden. Verbunden ist dieser Ansatz mit einem raffinierten Erschließungssystem, das sich in den Raster integriert, und einer umlaufenden Loggia als privatem Freiraum.

Europa der Städte und Regionen

Aus österreichischer Sicht erfreulich ist, dass fünf Projekte aus Österreich auf die Shortlist der besten 40 gekommen sind, unter anderem die Schule in Neustift im Stubaital von Fasch und Fuchs, das Baugruppenprojekt Gleis 21 von 1:1 Architekten und das Atelierhaus C.21 von Werner Neuwirth, beides in Wien. Alle Projekte auf der Shortlist werden in einer Ausstellung präsentiert, die derzeit im AzW in Wien zu sehen ist. Besonders hervorzuheben ist der von David Lorente/Spread gestaltete Katalog zur Ausstellung, in dem die 532 eingereichten Projekte präsentiert werden. Er ist ein Geniestreich der Architekturpublizistik – nicht zuletzt, weil er die nationalistische Betrachtung, wie ich sie oben angestellt habe, bewusst ignoriert. Die Einträge im Katalog sind streng alphabetisch geordnet und listen mit Querverweisen sowohl die Projektnamen als auch die Namen der Architekten und jene der Städte auf, in denen sich die Projekte befinden. Je nach Auszeichnung wird den Projekten innerhalb dieser Ordnung mehr oder weniger Platz gegeben; zu den Nominierungen gibt es über mehrere Seiten lange Essays mit ausführlicher Foto- und Plandokumentation. Die Nationalstaaten kommen in diesem Katalog nicht mehr vor: Er erzählt von einem vereinten Europa der Städte und Regionen.

Neben der Ausstellung im AzW gibt es derzeit im Ringturm eine weitere sehenswerte Ausstellung, in der die Ergebnisse des wichtigsten österreichischen Architekturpreises gezeigt werden, des Bauherrenpreises der Zentralvereinigung der Architekten. Zu den sechs Preisträgern gehören die Bauherren für das Sigmund Freud Museum von Hermann Czech, das Schulzentrum in Gloggnitz von Dietmar Feichtinger und das VinziDorf Wien von Alexander Hagner und Ulrike Schartner (Gaupenraub). Auffällig ist, dass es – anders als beim Mies Award – kein mehrgeschoßiger Wohnbau auf die vordersten Plätze geschafft hat. Vielleicht wollte die Jury daran erinnern, dass die österreichische Baukultur in dieser Hinsicht doch nicht so hoch entwickelt ist, wie sie gern glaubt.

14. September 2022 Spectrum

Wien: Im Land der Pratoide

Jahrzehntelang nur Passierort und Verkehrsinsel, nun ein Platz mit Aufenthaltsqualität: Die Umbauten am Praterstern sind abgeschlossen, dem heterogenen Gebilde wurde neues Leben eingehaucht. Kritik an der Wiener Stadt- und Verkehrsplanung blieb bei der Eröffnung aber nicht aus.

Ein richtiger Platz zum Verweilen war der Praterstern nie, hier ist immer vieles zusammen- und durchgelaufen: die Achsen der Alleen, die den Prater durchzogen, später die Eisenbahn, die in Hochlage erst um, dann quer über den Platz führte. Seine annähernd halbkreisförmige Grundrissfigur war danach für die Fußgänger kaum mehr wahrnehmbar. Nach dem Zweiten Weltkrieg verwandelte sich der Praterstern endgültig in eine Verkehrsinsel, umspült von dreispurigen Straßen und durch unterirdische Fußgängerpassagen mit dem Festland verbunden. Aus dem Halbkreis wurde eine für die Zeit typische geschmeidige Nierentischform.

Heute passieren 150.000 Menschen pro Tag diesen Ort. Mit der 2007 abgeschlossenen Neugestaltung des Bahnhofs durch Albert Wimmer verbesserte sich die Innenraumqualität des Bahnhofsgebäudes deutlich, der Platz rundherum blieb aber gestalterische Kampfzone. Boris Podrecca, der im Wettbewerb für das Bahnhofsgebäude eine monumentale Gesamtüberdachung des Pratersterns mit einem Membrandach vorgeschlagen hatte, durfte die stadtseitige Kontur des Platzes mit einer fünf Meter hohen Stahlpergola nachzeichnen. Von seiner Überdachungsidee blieb ein Glasdach übrig, das den Haupteingang zum Bahnhof markiert und zugleich die Gleise der Straßenbahnlinien überdeckt, die den Platz kreuzen und hier ihre Haltestellen haben.

Zu den Menschen, die hier aneinander vorbei strömen, zählen Touristen auf der Suche nach dem Riesenrad, aber auch Obdachlose und Suchtkranke, die aus dem Praterstern einen sozialen Brennpunkt machen, den die Stadt durch Alkoholverbote, Sozialarbeit und Polizeipräsenz einzuhegen versucht. Diesem heterogenen Bestand neues Leben einzuhauchen war Gegenstand eines zweistufigen, im Jahr 2019 ausgeschriebenen Bieterverfahrens, das eine Arbeitsgemeinschaft der Architektengruppe KENH mit D&D Landschaftsarchitektur für sich entschied. KENH waren bereits seit 2015 am Praterstern tätig: Sie hatten den Auftrag, die ehemalige Polizeistation, einen kleinen fünfeckigen Pavillon, in ein Café-Restaurant umzuwandeln. Das Projekt hat gedauert: Der Pavillon wurde erst diese Woche als veganes Restaurant PURE in Betrieb genommen. Seine frühere Aufgabe, den Platz gut im Blick zu haben, ist auch jetzt ein Vorteil: Das Restaurant mit seinem kleinen Gastgarten bereichert den gesamten Platz.

Erlebnis „Platz am Platz“

Eine Polizeistation gibt es nach wie vor. Sie wächst wie eine schwarze Wucherung aus dem Bahnhof heraus und entstand ohne Abstimmung mit der restlichen Platzgestaltung. Die Wucherung enthält neben den Räumen für die Polizei einige Abluftschächte der U-Bahn, neue Geschäfte und einen neu organisierten Abgang zu den U-Bahnpassagen. Mit den schwarzen Streckmetallgittern wirkt sie so kommunikativ wie ein geschlossener Vollvisierhelm. Man kann nur hoffen, dass sich die Polizei nicht von diesem Bauwerk repräsentiert fühlt.

KENH suchten für den Praterstern nicht nach dem „großen Wurf“, der dem Platz eine neue Ordnung aufprägt, sondern entwickelten einen Katalog aus einem Dutzend Einzelmaßnahmen, die zusammen ein neues Platzerlebnis bieten. „Platz am Platz“ zu schaffen war eine davon: Die Pergolen und Pflanzgerüste aus Podreccas Projekt wurden entfernt, das Tegetthoff-Denkmal freigespielt. Die Grünflächen bleiben zwar weiterhin Inseln auf der Verkehrsinsel, werden aber in ihrer Dimension verdoppelt, ebenso die Anzahl der Bäume, wobei die Neupflanzungen nach dem Schwammstadt-Prinzip, also mit einer speziellen wasserspeichernden Schichte, erfolgen. Die bisher klare Trennung des Platzes in eine Vorderseite zur Stadt und eine Rückseite zum Prater wird nicht ganz aufgehoben, aber reduziert.

Die Stadtmöblierung nutzt dieselben Geometrien – bezeichnet als Pratoide, weil sie die eiernde Form des Pratersterns aufnehmen –, teilweise als Betonkörper, die eher skulptural und nicht für längeres Sitzen geeignet sind, teilweise als schwebende Betonbänder, von denen viele um bestehende oder neue Bäume herumführen. Bequem werden diese Bänder erst durch aufgesattelte Holzbänke, die leider nicht ganz mit ihrem Unterbau harmonieren. Hier musste auf eine Standardlösung zurückgegriffen werden, die von der Stadt vorgegeben wird. Insgesamt gibt es doppelt so viele Sitzmöbel wir früher, aber in besserer Verteilung, was es sozialen Randgruppen erlauben soll, den Platz konfliktfrei zu nutzen. Die Bespielung wird wie bisher von Sozialarbeitern betreut.

Ungenutzte Chancen?

Um den Platz möglichst niederschwellig als Veranstaltungsort anbieten zu können, wurden vier spezielle Zonen geschaffen, an denen Strom, Wasser und Abwasser installiert sind und die Genehmigung durch Standardverträge vereinfacht ist. Die größte Zone ist zugleich die zentrale Attraktion des Platzes, ein 500 Quadratmeter großes Wasserspiel mit Spritz- und Nebeldüsen. Ein erster Eindruck des Platzes im Betrieb bestätigt das Konzept: Dieser Platz hat Aufenthaltsqualität, für Tagespendler ebenso wie für Touristen und die Wohnbevölkerung. Vergleicht man die Baukosten von rund 7,5 Millionen Euro mit den Hunderten Millionen, die hier im Untergrund verbaut sind, ist der Platz ein Geschenk, auf das die Stadt stolz sein kann.

Getrübt wurde dieser Stolz bei der Pressekonferenz mit den Stadträten Ulli Sima und Jürgen Czernohorszky zur Eröffnung Ende August durch den Auftritt einer Gruppe von Aktivisten, die mit einem Transparent „Greenwashing ist keine Klimapolitik“ den Praterstern in einen erweiterten Kontext rückten. Der Protest richtete sich gegen die „Stadtstraße“ in der Donaustadt, die wie unter einem Brennglas Fehlentwicklungen der Stadt- und Verkehrspolitik der jüngsten Jahre ans Licht bringt, und gegen den Bau einer Sporthalle auf dem Areal der Venediger Au hinter dem Praterstern, eines Parks mit Sportflächen und Spielplätzen.

Die neue Sporthalle ersetzt eine bestehende, die andernorts dem neuen Busbahnhof weichen muss. Dass es für sie keinen bereits versiegelten Standort gegeben hätte, muss man der Stadt glauben. Dass man das Projekt nicht zum Anlass nahm, den ganzen Park neu zu denken und die Chancen auszunutzen, die eine Sporthalle an einem so prominenten Platz bietet, ist bedauerlich. Beispiele für innovative Sportbauten gäbe es genug, etwa in Dänemark. Die Banalität des Wiener Hallenentwurfs war offenbar gewünscht: Auf einen Architekturwettbewerb glaubte man verzichten zu können, weil laut Projekt-Webseite „die baulichen und qualitativen Vorgaben der Ersatzhalle zum Zeitpunkt der Beauftragung bereits klar definiert waren, nämlich eine sportlich gleichwertige Halle unter heutigen ökologischen Gesichtspunkten zu errichten“. Die Direktvergabe eines Entwurfsauftrags mit diesem Argument grenzt an einen Missbrauch des Vergaberechts.

6. August 2022 Spectrum

Klimarat: Die radikalen Pläne der Bürger

Der Klimarat empfiehlt, was Experten seit Jahrzehnten fordern – die Raumplanungskompetenz von den Gemeinden auf die Landes- oder Bundesebene zu verlagern. Bisher scheint das in Österreich unmöglich zu sein.

Der Nachteil der Demokratie, so beklagt es Coriolan im gleichnamigen Shakespeare-Stück, bestehe darin, dass nichts entschieden werden könne ohne Zustimmung der Dummen. Dieser elitäre Dünkel äußert sich heute selten so freimütig. Seine mächtigste Plattform findet er im Populismus, dem die Dummen gar nicht blöd genug sein können, siehe Brexit und Trump. Die repräsentative Demokratie ist für diesen Populismus nur noch Folklore, die in regelmäßigen Wahlkämpfen abgefeiert wird. Wählen war aber nicht immer der Königsweg zu einer demokratischen Legitimation. Der belgische Historiker David van Reybrouck hat 2013 in seinem Buch „Gegen Wahlen“ historische und aktuelle Alternativen beschrieben, die auf dem Zufallsprinzip basieren. Im antiken Athen beruhte die Mitgliedschaft im gesetzgebenden Rat der 500 nicht auf Verdienst und Wahl, sondern auf einem Losverfahren. Bis auf das Heer und die Finanzen galt das auch für die operativen Organe der attischen Demokratie: Jede Bürgerin und jeder Bürger sollte fähig sein, ein öffentliches Amt zu bekleiden.

Die moderne Form dieses Prinzips, die auch David van Reybrouck propagiert, sind Bürgerräte, deren per Zufall ausgewählte Mitglieder einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung abbilden. In Österreich wurden solche Bürgerräte auf Gemeindeebene vor allem in Vorarlberg erfolgreich durchgeführt. Der erste solche Beirat auf nationaler Ebene war das Resultat des Klimavolksbegehrens 2020, das von fast 400.000 Menschen unterstützt wurde und die Einrichtung eines „Klimarats“ forderte. Dessen Zusammensetzung erfolgte nach den Kriterien Alter, Geschlecht, Schulbildung, Einkommen, Wohnsitzregionen, Geburtsland und Urbanisierungsgrad. Die Statistik Austria zog entsprechend eine gewichtete Zufallsstichprobe von mehreren Tausend Personen aus dem zentralen Melderegister, die zur Teilnahme eingeladen wurden. Am Ende blieben 84 Personen übrig, die an sechs Wochenenden begleitet von Expert:innen zu den Themen Energie, Konsum und Produktion, Ernährung und Landnutzung, Wohnen und Mobilität diskutierten und Empfehlungen aussprachen.

Bereit zu Verhaltensänderungen

Das Ergebnis: eine bemerkenswert objektive Auseinandersetzung mit der drohenden Klimakatastrophe und ein Hinweis darauf, dass die „Dummen“ weit weniger dumm sind, als sich manche wünschen. Dass die Treibhausemissionen weltweit um 45 Prozent gegenüber 2010 gesenkt werden müssen, um die Folgen der Erderwärmung kontrollierbar zu halten, ist die unwidersprochene Ausgangsposition des Klimarats. In den ersten vier Treffen ging es um das gemeinsame Problemverständnis, den „common ground“, auf dem zuletzt Empfehlungen formuliert und noch einmal kritisch hinterfragt wurden. Diese lassen den Schluss zu, dass die Bevölkerung sehr wohl zu Verhaltensänderungen bereit wäre, wenn der Staat dafür entsprechende Rahmenbedingungen schafft. Von der Politik wird dabei mehr fraktionsübergreifende Zusammenarbeit und Sachlichkeit gefordert.

Viele der Empfehlungen haben mit Architektur und Raumplanung zu tun. Das ist nicht weiter überraschend, bedenkt man, dass die Bau- und Gebäudewirtschaft 38 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes ausmacht und der Verkehr 22 Prozent. Überraschend ist aber sehr wohl, dass dem Klimarat eine Empfehlung so wichtig war, dass sie fast gleichlautend in drei Handlungsfeldern auftaucht: die Verlagerung der Verantwortung für die Raumplanung von der Gemeinde- auf die Landes- bzw. Bundesebene. Dort, und nicht bei den Ländern, sollte die Verantwortung für die Gesetzgebung in Raumplanungsfragen liegen, während der Vollzug eine Ebene über den Gemeinden anzusiedeln wäre. Das sind keine neuen Forderungen. Experten erheben sie seit Jahrzehnten, und seit Jahrzehnten werden sie gebetsmühlenartig abgewürgt. Der Gemeinderat als höchste Instanz in Raumplanungsfragen, das ist heilige österreichische Tradition und aktuelle Rechtslage. Die Folgen sind weitreichend: Die regionale Abstimmung von sozialer Infrastruktur wird erschwert, ebenso die effiziente Organisation des öffentlichen Verkehrs. Wenn Wettbewerb statt Kooperation zwischen den Gemeinden herrscht, breiten sich Gewerbeparks und Fachmarktzentren aus. Baulandwidmungen auf Gemeindeebene sind ein eigenes Kapitel. Zu den berüchtigten 16 Fußballfeldern, die täglich dem Landschaftsraum entzogen werden, zählen auch sie. Nicht jeder Bürgermeister hat das Rückgrat und die Berater, hier Grenzen zu setzen.

Kulturelle und planerische Fragen

Die Probleme sind bekannt, und es gibt Hilfskonstruktionen, ihre negativen Effekte zu reduzieren. Dass aber die klarste und in anderen Ländern selbstverständliche Lösung, den Großteil der Raumplanungsagenden auf regionale oder nationale Ebene zu heben, in Österreich unmöglich scheint, ist ein Skandal für sich. Dabei geht es auch um kulturelle, nicht nur um planerische Fragen, wie das Beispiel der Gemeinde Laßnitzhöhe zeigt, einer Umlandgemeinde von Graz, die langsam mit neuer Wohnbebauung zuwächst. Der Flächenwidmungsplan sieht ein großzügiges Angebot an Grundstücken mit einer Bebauungsdichte von „0.2 bis 0.8“ vor. Diese Spannweite bietet dem Eigentümer das Recht auf maximale Ausnutzung.

Für Laßnitzhöhe ist das insofern von Belang, als sich die Gemeinde zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Luftkurort etabliert hat, mit Villen und Sanatorien, und sie ist sich dieses Werts bewusst: Ein „Villenwanderweg“ führt Besucher zu den wichtigsten Objekten. Dass der Gemeinde aber die Instrumente fehlen, an das baukulturelle Erbe anzuschließen, zeigt sich an aktuellen Neubauprojekten. An der Adresse Greimelweg soll ein Wohnbau entstehen, der architektonisch mehr als fragwürdig den Hang hinuntertanzt. Zwar noch ohne publiziertes Projekt, aber durch seine Nachbarschaft zu einer historischen Villa wesentlich brisanter ist ein Projekt, das bei maximaler Ausnutzung des Grundstücks bis zu 2200 Quadratmeter Nutzfläche erzielen könnte. Die denkmalgeschützte Villa Luginsland (1905) stammt vom Architekten Adalbert Pasdirek-Coreno und wurde von der Kunsthistorikerin Antje Senarclens de Grancy kürzlich in einer im Onlinemagazin „Gat.st“ publizierten Analyse auf eine Stufe mit Werken von Adolf Loos und Josef Hoffmann gestellt.

Wie knapp werden die neuen Nachbarn an die Villa heranrücken? Wird der Neubau in einen Dialog mit dem Bestand treten? Sollte eine Gemeinde, die ein so außergewöhnliches Erbe verwaltet, nicht auf einen Gestaltungsbeirat zurückgreifen können, der sie kompetent unterstützt? Es wäre kein Schaden für die Gemeinde, fielen Fragen in die Verantwortung des Landes oder teilweise – wie es beim Denkmalschutz der Fall ist – des Bundes.

1. Juli 2022 Spectrum

Eine Bühne für die Kunst

Das neue Museum für die Heidi Horten Collection ist ein gelungener Ort zur Begegnung mit großer Kunst, dem der Spagat zwischen White Cube und Wohnlichkeit virtuos gelingt.

Schön, wenn man nicht sparen muss. Welcher Architekt wünscht sich nicht eine Bauherrin mit tiefen Taschen, die alles möglich macht? Ein Füllhorn kann allerdings auch zum Problem werden; man denke nur an Donald Trumps goldstrotzende Interieurs. Wer sich alles leisten kann, ist gut beraten, über die Angemessenheit der Mittel nachzudenken, die er zum Einsatz bringt.

Das gilt auch für die exquisite Bauaufgabe des Privatmuseums, wie es sich die verwitwete Milliardärin Heidi Horten im Wiener Hanuschhof errichten ließ. Die Kunstsammlung, die Horten mit fachlicher Unterstützung von Agnes Husslein, der ehemaligen Direktorin des Museums der Moderne in Salzburg und der Galerie Belvedere, seit Mitte der 1990er-Jahre aufgebaut hat, war ursprünglich nicht fürs Museum gedacht. Horten integrierte ihre Bacons und Picassos in ihre diversen privaten Wohnsitze. Im Lauf der Jahre wuchs die Sammlung auf mehrere Hundert Objekte, mit einem Schwerpunkt auf der klassischen Moderne, zunehmend ergänzt um Werke der Gegenwartskunst. Man darf vermuten, dass die Sammlung mit wachsender Größe ein Eigenleben zu führen begann und quasi von sich aus danach drängte, in eigene Räume zu übersiedeln.

In die Öffentlichkeit wagte sich ein Teil der Sammlung zum ersten Mal 2018, als das Leopold Museum unter dem aus der Pop-Art entlehnten Titel „WOW! The Heidi Horten Collection“ zentrale Werke zeigte. Die Ausstellung war ein enormer Erfolg bei Presse und Publikum und setzte die Sammlung auf der Landkarte der Privatsammlungen Europas an eine respektable Position. Die Errichtung eines eigenen Museums erschien als der logische nächste Schritt.

In Wien einen guten Platz für ein neues Museum zu finden ist keine leichte Aufgabe. Wenn man ernsthaft mitspielen will, muss man im ersten Bezirk bleiben, wo freie Grundstücke oder zumindest eine Bausubstanz, in die man ohne allzu große Sorgen um den Denkmalschutz eingreifen kann, nicht gerade dicht gesät sind.

Das Hofgebäude im Hanuschhof, in dem das Museum schließlich entstand, erfüllt diese Anforderungen. Es liegt im ersten Bezirk nahe der Albertina, einem der großen Museumstanker, und es ist nicht denkmalgeschützt. Anders als die Albertina, die mit der Kombination aus Flugdach und Rolltreppe, beide von Hans Hollein entworfen, Touristen mit beachtlichem „Wow!“ entgegenkommt, liegt das Horten-Museum versteckt in einem Innenhof. Ursprünglich stand an der Stelle des Gebäudes eine eingeschoßige Reithalle.

Im Jahr 1914 entstand hier im bestehenden Umriss ein dreigeschoßiges Gebäude, das im Erdgeschoß als Wagenpark für die Automobile Erzherzog Friedrichs genutzt wurde. Um den Automobilen mehr Platz zu bieten, kam hier eine Konstruktion mit Säulen aus Stahlbeton zum Einsatz, während für die Bürozellen im Obergeschoß eine konventionelle Mittelmauer aus Ziegel errichtet wurde. Nach außen neobarock verziert, ist dieser Bau exemplarisch für den trockenen, auf höchste Effizienz getrimmten Rationalismus in den letzten Jahren der Monarchie.

In einem Architekturwettbewerb im Jahr 2019, zu dem drei Büros geladen waren, konnten sich Marie-Therese Harnoncourt und Ernst Fuchs, die unter dem Namen The Next Enterprise Architects firmieren, gegen Ortner und Ortner Baukunst und Kühn Malvezzi durchsetzen. Ihr Konzept lässt den Bestand von außen praktisch unangetastet, entkernt aber den im Grundriss quadratischen Mittelteil, der durch eine über alle Geschoße reichende Halle ersetzt wird. In diese Halle platzieren Next Enterprise zwei um rund 45 Grad verdrehte kleinere quadratische Ebenen für die Ausstellung übereinander und verbinden diese über zwei frei im Raum geführte Treppen. In den Ecken des großen Quadrats im Erdgeschoß entstehen damit Lufträume, die einen spannungsvollen Kontrast zur Horizontalität der Ausstellungsebenen herstellen. Links und rechts der zentralen Halle wird der Bestand nicht entkernt, sondern saniert und in kleinere Ausstellungsräume umgewandelt.

Seine besondere Qualität erhält dieses klare Konzept durch die spielerische Feinjustierung. Die Quadrate der Ausstellungsebenen sind nämlich keine exakten Quadrate, und die Verdrehung um 45 Grad erweist sich beim genaueren Hinsehen auch als ungefähr. Dass die Ebenen nicht exakt übereinanderliegen, gibt der vertikalen Dynamik zusätzlichen Schwung, andererseits erlaubt es konstruktiv, die Lasten der Stahlkonstruktionen in zwei separate Pfeiler abzuleiten. Ein wichtiges Element sind die beiden Treppen aus massivem Edelstahl, die sich in die hofseitigen Lufträume schwingen.

Insgesamt vermittelt das Museum einen wohnlichen Charakter. Die Details sind exquisit, vom Handlauf mit integrierter Beleuchtung bis zu den Anschlüssen der Sicherheitsverglasung zum Hof, der man nicht anmerkt, dass das Gebäude sicherheitstechnisch beinahe ein Safe ist. Im ersten Obergeschoß befindet sich ein von Markus Schinwald gestalteter „Tea Room“, eine mit Gobelins verkleidete höhlenartige Wunderkammer mit einer speziell für diesen Raum entwickelten Deckenskulptur aus rot eloxiertem Aluminium von Hans Kupelwieser.

Den schwierigen Spagat zwischen White Cube und Wohnlichkeit meistern Next Enterprise virtuos, indem sie ihr Projekt als eine „Bühne für die Kunst“ anlegen. Man mag sich daran stoßen, dass durch die Dachverglasungen direktes Sonnenlicht auf manche Kunstwerke fällt und dass die Mischung von künstlichem und natürlichem Licht schwierig ist. Im Kontext einer privaten Sammlung, die aus dem Wohnumfeld in die Kunstwelt migriert ist, kann man das in Kauf nehmen. Als Bühne verstanden, wird sich dieses Museum verändern: Manche Verdunklungen sind bereits installiert, zusätzliche Stellwände für eine dichtere Bespielung vorbereitet. Diese Architektur ist nicht neutral, sondern selbstbewusst und flexibel. Sie wird mit der Sammlung mitwachsen.

Und der Wow-Effekt von außen? Hätte man von Next Enterprise, den Architekten des Wolkenturms in Grafenegg, nicht doch eine kräftigere Geste erwarten dürfen? In diesem engen Hof wäre eine solche Geste wohl verpufft. Der präzise gesetzte Schnitt an der Ecke reicht. Er lässt keinen Zweifel, wo der Eingang ist. Zum verzauberten Ort wird dieser Hof werden, wenn in ein paar Jahren die bunt blühenden Kletterpflanzen die Fassade des Museums überwuchert haben.

15. Juni 2022 Spectrum

Retten uns Holz und modulares Bauen vor der Klimakatastrophe?

Holz als Baustoff? Das Forum am Seebogen in Wien Aspern zeigt, dass weder Materialien noch Technologie allein den Ausschlag geben. Entscheidend wäre systemisches Denken.

Die Seestadt Aspern bezeichnet sich gern als das größte Städtebauprojekt Österreichs. Im Endausbau sollen hier 25.000 Menschen wohnen und 20.000 Ausbildungs- und Arbeitsplätze angesiedelt sein. Die 3420 Aspern Development AG, die das Projekt entwickelt, steht im öffentlichen Eigentum, wobei der Stadt Wien 75 Prozent der Anteile gehören und der Bundesimmobiliengesellschaft 25 Prozent. Wer ein so großes Bauvolumen dirigiert, kann sich einzelne Experimente leisten, was die 3420 AG auch tut. Manche missglücken, wie etwa der Plan, einen Campus der Religionen in Verbindung mit einer Kirchlich-Pädagogischen Hochschule zu errichten: Das Projekt, für das schon ein Architekturwettbewerb stattgefunden hatte, scheiterte schließlich an der Finanzierung. Anderes gelingt, wie etwa ein Hochhaus namens HoHo, das sich als höchstes Holzhaus Österreichs bezeichnen darf, auch wenn es sich eigentlich um eine Mischkonstruktion mit hohem Holzanteil handelt. Auch das „Forum am Seebogen“ ist ein Sonderprojekt, bei dem Holz schließlich eine zentrale Rolle spielte. Ursprünglich ging es weniger um den Werkstoff, sondern um das modulare und damit schnelle Bauen. Die 3420 AG wollte mit dem Projekt vor allem testen, ob sich Bauzeiten und damit die Lärmbelastung der Anrainer drastisch auf sechs Monate reduzieren ließen. In der Projektentwicklung kann es laut 3420 AG sinnvoll sein, ein Baufeld vorerst frei zu halten, um es temporär anders, etwa als sozialen „Hub“, zu bespielen, bis die umliegenden Wohnbauten realisiert sind. Bei der Errichtung des „Schlusssteins“ kommt es dann auf kurze Bauzeiten an, um die Nachbarn nicht zu belasten. Den Namen „Forum“ erhielt das Projekt, weil es kein üblicher Wohnbau ist: Nur 80 Prozent der knapp 1800 m? Nutzfläche sind Wohnungen, der Rest Büros, die im Haus verteilt sind, und ein großes Lokal im Erdgeschoß, das bis Jahresende von der Internationalen Bauausstellung Wien als Quartierszentrum für den IBA-Standort Seestadt genutzt wird. Die unmittelbare Nähe des Bauplatzes zur U-Bahnstation prädestiniert ihn für eine solche halböffentliche Nutzung.

Im Bauträgerwettbewerb, der 2017 stattfand, mussten nicht nur – wie in Wien im geförderten Wohnbau üblich – Bauträger und Architekten gemeinsam antreten, sondern als dritten Partner den Hersteller der vorgefertigten Elemente mit Preisgarantie mitbringen. Dass am Ende alle Projekte der engeren Wahl in Holz konstruiert waren, ist bezeichnend für den aktuellen Trend. Das Image des Betons, der wahrscheinlich nach wie vor das größte Volumen an vorgefertigten Bauelementen produziert, ist schwer angeschlagen; mit Stahl assoziiert man in der Modulvorfertigung bestenfalls den Container als temporäre Unterkunft. Holz gilt dagegen als ökologischer, weil nachwachsender Baustoff.

Den Zuschlag für das Grundstück erhielt der Bauträger Familienwohnbau mit einem Projekt der Architekten Heribert Wolfmayr und Josef Saller, die gemeinsam als heri&salli firmieren, und einem Hersteller von Holzbauelementen. Das Projekt ist ungewöhnlich für einen Holzbau: Während üblicherweise tragende Holzelemente möglichst hinter einer Verschalung geschützt werden, zeigt dieses Haus sein Holzgerüst selbstbewusst nach außen und vermittelt den Eindruck, als ob es noch nicht ganz zu Ende gebaut wäre. Verstärkt wird dieser Eindruck durch zahlreiche Loggien, die aus dem quaderförmigen Baukörper herausgeschnitten sind. Das gibt dem Haus eine gewisse Leichtigkeit und „Lufthaltigkeit“; konstruktiv führen die pittoresken Holzrahmen und die schmucken Loggien allerdings zu schwierig lösbaren Details. Es ist nicht verwunderlich, dass der vorgesehene Hersteller recht bald aus dem Projekt ausstieg. Ein estnisches Unternehmen konnte zwar trotz weiter Transportwege im Preisrahmen anbieten, erhielt den Auftrag aber aus Gewährleistungsgründen nicht: Der Hersteller hätte die Elemente geliefert, aber nicht selbst montiert. Schließlich übernahm die steirische Firma Strobl Holzbau den Auftrag. Die Bauzeit betrug für den reinen Holzbau mit in der Fabrik vorgefertigten Elementen sechs Monate; die Errichtung der betonierten Teile – Erdgeschoß und den Erschließungskern mit Treppe und Aufzug – dauerte allerdings genauso lang.

Das Ergebnis sieht exakt so aus wie 2018 in den Wettbewerbsbildern versprochen, mit der Ausnahme der Loggien-Entwässerungen, deren Rohre die Fassade recht prominent überziehen. Ein Modell für die Zukunft ist das Projekt aber nur bedingt. Das beginnt bei der Konstruktion aus verleimten Brettsperrholz-Elementen, die sich wegen des Leimanteils nur schlecht recyclieren lassen. Außerdem ist der Preis dieser massiven Holzelemente in den letzten Jahren durch die große Nachfrage aus den USA dramatisch angestiegen. Dieser Anstieg wird inzwischen durch die generellen Preissprünge bei Baumaterialien etwas relativiert. Gewichtsreduktion und bessere Wiederverwertbarkeit sind im Bauen aber das Gebot der Stunde. Dass in Österreich und Deutschland Förderprogramme existieren, die Holzbauten mit einem Euro pro verbautem Kilo Holz fördern, ist ein Signal in die falsche Richtung.

Auch als Vorbild für serielles Bauen kann das Projekt in Aspern nicht überzeugen. Seine Ästhetik ist zu formalistisch, um die Kostenvorteile der Herstellung in der Fabrik auszunutzen. Die einmalige Komposition ist hier eindeutig wichtiger als die serielle Konstruktion. Drastische Einsparungen bei den Kosten lassen sich so nicht erreichen. Es gibt in Österreich einige Unternehmen, die radikale Modelle des seriellen Bauens verfolgen, etwa Gropyus, das gerade in Koblenz ein neungeschoßiges Wohnhaus mit 54 Wohnungen errichtet hat. Die Bauzeit vor Ort betrug elf Wochen, das einzig Bemerkenswerte an der Fassade sind die integrierten PV-Elemente. Bei Gropyus werden Häuser nicht entworfen, sondern am 3-D-Modell „konfiguriert“. Architekten verlieren hier ihre klassische Rolle; als Gestalter auftreten können sie bestenfalls in der Produktentwicklung.

Was das für die Architektur als Disziplin bedeutet, ist noch nicht abzusehen. Werner Sobek, der renommierteste deutsche Bauingenieur und Leiter des Lehrstuhls für Leichtbau in Stuttgart, hat kürzlich in einem Interview für „Die Welt“ eine Zeitenwende für die Architektur verkündet, um die anstehenden Emissions- und Ressourcenprobleme zu bewältigen. Dazu braucht es eine andere Wahrnehmung von Gebäuden als Teil eines größeren Ökosystems, in dem Stoff- und Energiekreisläufe maßgeblich sind. Ob Holz, Beton oder Stahl das ökologisch bessere Material ist, lässt sich dabei nicht generell beantworten. Sobek provoziert mit der Empfehlung, Holz besser im Wald zu lassen, um dort CO? zu absorbieren. Beton hält er für unverzichtbar; er müsse aber in leichteren Konstruktionen und aus wiederverwerteten Zuschlagstoffen zum Einsatz kommen. Generell würden sich die Klimaziele aber nur durch Verzicht realisieren lassen, auch wenn das weder Politik noch Wirtschaft in dieser Klarheit zugeben möchten.

Zumindest die Energiekrise hält Sobek für ein temporäres Problem. Die Sonne liefere 10.000 Mal mehr Energie an die Erde, als für deren Versorgung benötigt werde. Sobald irgendwann um das Jahr 2050 keine Energie mehr durch Verbrennung gewonnen wird, käme es zu einer neuerlichen Umwertung aller Werte, bei der Materie durch die dann im Überfluss vorhandene Energie ersetzt werden könne. Wie wir die knapp drei Jahrzehnte bis dahin überstehen, ist eine andere Frage. Zu ihrer Beantwortung wird es nicht zuletzt eine grundsätzlich andere Vorstellung von Architektur brauchen, die in Kreisläufen denkt und ihren angeborenen Kompositionstrieb vor allem auf der systemischen Ebene zum Einsatz bringt.

9. Mai 2022 Spectrum

Reden wir über Baukultur!

Die IG Architektur feiert ihren 20. Geburtstag. Ein guter Anlass für ein Fest, ein Buch und eine Ausstellung, die zum Nachdenken anregen möchten. Reicht das Reden über Baukultur?

Am Anfang war es eher der Zufall, der die Dinge ins Rollen brachte. Im Wiener Künstlerhaus, damals noch keine hochgerüstete Kulturmaschine, sondern das Aschenputtel unter den Wiener Kunstinstitutionen, kuratierten Peter Bogner, Karin Christof und der – letzten Herbst verstorbene – Jan Tabor im Jahr 2000 eine Ausstellung mit dem Titel „Den Fuß in der Tür. Manifeste des Wohnens“. Eingeladen waren Vertreter der jüngeren Architekturszene, für die Tabor als genialer Netzwerker eine Art Vaterfigur war. Das Budget war knapp; die beteiligten Nachwuchs-Büros halfen einander mit Kontakten und Werkzeug und tauschten ihre E-Mail-Adressen aus. Das Ergebnis war eine Ausstellung, die in Erinnerung blieb, weil sie an das Thema Wohnen origineller und weniger utilitaristisch heranging als in der Hauptstadt des Sozialen Wohnbaus sonst üblich.

Auf diesen Ursprung hinzuweisen, ist im Falle der Interessengemeinschaft (IG) Architektur, die sich ein Jahr später formierte, wichtig. Der im Jahr 2001 gerade ins Amt gekommene Wiener Planungsstadtrat Rudolf Schicker wollte die Kontakte der Stadt zu jüngeren Büros verbessern und bat Susanne Höhndorf, die an der Ausstellung im Künstlerhaus beteiligt war, Namen zu nennen. Höhndorf leitete die Einladung offen im Schneeballsystem weiter. Das war die Geburtsstunde der IG, zu deren ersten Treffen im Herbst 2001 sechzig bis hundert Gäste kamen, die sich schnell organisierten und Doris Burtscher und Jakob Dunkl als ihre ersten Sprecher wählten.

Das Besondere an der IG ist ihr Glaube an das Kollektiv und die Kraft der „gegenseitigen Hilfe“. Um die Jahrtausendwende galt dieser Glaube als anachronistisch. Der Star-Architekt machte in den Jahren 1996 bis 2008 Furore, wobei das erste Datum auf Hans Holleins Titel für die Architekturbiennale verweist, „Sensing the Future – Der Architekt als Seismograph“: das zweite Datum markiert mit der Finanzkrise das Ende der rauschenden Party. Den Initiatoren der IG ging es einerseits um die Baukultur an sich, andererseits um die Rahmenbedingungen ihres beruflichen Schaffens, insbesondere restriktiven Berufszugang, der von der Kammer der Ziviltechniker:innen kontrolliert wird. Recht bald war der Beschluss gefasst, den langen Marsch durch die Institutionen anzutreten und eine eigene Liste bei den Kammerwahlen aufzustellen. Mit Erfolg: 2014 bis 2018 konnte die Liste der IG in der Kammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland in Kooperation mit den Ingenieuren die zentralen Positionen besetzen.

Es ist daher kein Zufall, dass die IG gerade an diesem Wochenende ein großes Fest zu ihrem 20. Geburtstag abhält, kurz vor den Kammerwahlen am 19. Mai. Berufspolitik nimmt im Programm dieses Festes trotzdem nur eine Nebenrolle ein. Zum Anlass erscheint unter dem Titel „Reden wir über Baukultur!“ ein Buch mit zahlreichen kurzen Essays. Das Spektrum der Texte ist breit: Nachhaltigkeit, Mobilität, Boden, Spekulation, alternde Gesellschaft, Migration, Wohnen, Ausbildung, Verfahren und Prozesse, Berufsbild. Das Mosaik ist gut komponiert und vermittelt ein Bild des aktuellen Architekturdiskurses, das nicht nur für ein Fachpublikum verständlich ist. Publikumswirksam sind auch die Events des Fests, für das am Samstag am späten Nachmittag die Gumpendorfer Straße gesperrt wird, um „Platz für die Menschen“ zu schaffen. Die IG Architektur ist in den 20 Jahren ihres Bestehens zu einer unverzichtbaren Institution geworden. Sie ist damit eine von vielen, die sich bemühen, die Baukultur in Österreich zu stärken: Da gibt es die Architekturhäuser in allen Bundesländern und ihre gemeinsame Dachorganisation, die Architekturstiftung Österreich. In Wien hat sich das Architekturzentrum längst zu einem vollwertigen Architekturmuseum entwickelt; es gibt die Zentralvereinigung der Architekten, die älteste Berufsvertretung, die mit dem Bauherrenpreis den renommiertesten Architekturpreis des Landes verleiht. Es gibt die Kammern als primär berufliche Interessenvertretung, die über die Leistung ihrer Mitglieder die Hauptlast der baukulturellen Produktion trägt. Sie engagiert sich aber auch in der Baukulturvermittlung, etwa im Rahmen der biennalen Architekturtage, die in Kooperation mit der Architekturstiftung heuer wieder am 10. und 11. Juni zum Thema „Leben.Lernen.Raum“ stattfinden. Zusätzlich gibt es zahlreiche kleinere Initiativen mit speziellem Programm wie „architektur in progress“, und als alle diese Akteure übergreifende Klammer die „Plattform für Baukulturpolitik“, die vor allem vor Wahlen auftritt und die Position der Parteien zum Thema hinterfragt.

An Betriebsamkeit fehlt es in puncto Baukultur offenbar nicht. Dieser Betrieb erreicht durchaus eine immer größer werdende Anzahl von interessierten Bürgerinnen und Bürgern, die erkennen, dass Baukultur nichts Geringeres ist als die materiell gestaltete Antwort auf die Frage nach „einem guten Leben in einer gerechten Gesellschaft“. Architekten mit der passenden Haltung gibt es genug, und insofern bräuchte man sich für die Zukunft keine Sorgen zu machen, wäre da nicht die Evidenz, dass es mit der Baukultur des Landes nicht gut bestellt ist. In der Publikation der IG Architektur wird dieser Umstand kommentarlos durch zwei Fotoessays von Paul Ott, einem der besten Architekturfotografen des Landes, vermittelt. Die Bilder von Situationen in Wien und Graz zeigen eine traurige Sammlung missglückter Architektur, teilweise ohne, in den meisten Fällen aber mit Architektenbeteiligung, jedes eine Entgleisung für sich. Es sind keine Einzelfälle: Diese Fotos sind symptomatisch für ein ästhetisches Elend, von dem ganze Landstriche befallen sind.

Weder 20 Jahre IG noch 25 Jahre Architekturstiftung haben daran viel geändert. Themen wie Bodenverbrauch, Nachhaltigkeit und Freiraumqualität sind seit Jahrzehnten auf der Agenda und Teil von Regierungsprogrammen. Wo sind die politischen Akteure, die sich als Umsetzer einen Namen machen wollen? Einbetoniert in ihre Sachzwänge? Von der Wiener Stadtpolitik ist trotz Einladung jedenfalls niemand zum Fest der IG angekündigt.

Die Ausstellung „Reden wir über Baukultur!“ der IG Architektur findet bis 12. Juni in Graz und Wien statt. Weitere Infos unter: www.ig-architektur.at/baukulturausstellung

28. März 2022 Spectrum

Wien-Penzing: Wie der Baron in den Bäumen

Wie gehen baulicher Pragmatismus, künstlerische Freiheit, öffentliche Grünfläche und geförderter Wohnbau zusammen? Gut – wenn sich ein Planungsbüro auf die richtige Sache konzentriert. Zum Stadtteilprojekt in der Spallartgasse.

Ein vier Hektar großes, mit alten Bäumen bewachsenes Areal mitten im dicht bebauten Teil des Bezirks Penzing: Wo es in anderen Städten Industriebrachen gibt, die darauf warten, wachgeküsst zu werden, sind es in Wien alte Kasernenareale, die ganz oder teilweise aus der Funktion gefallen sind. Das Areal südlich der Spallartgasse gehörte zu einer ehemaligen Kadettenschule, errichtet 1898, in dem heute das Heeres-Nachrichtenamt untergebracht ist. Selbst mit Respektabstand braucht dieses Amt bestenfalls die Hälfte des Grundstücks, auf dem es steht. So war es naheliegend, sich von der anderen Hälfte zu trennen.

Zuständig für den Verkauf war die Sivbeg, eine 2005, in Zeiten der privatisierungsfreudigen schwarz-orangen Koalition gegründete Gesellschaft, die bis zu ihrer Auflösung 2016 Heeresliegenschaften im Wert von rund 370 Millionen Euro verkauft hatte. Die Stadt Wien hätte das Areal gerne selbst erworben, konnte sich aber mit der Sivbeg nicht über die den Preis bestimmenden Faktoren – Bebauungsdichte und Anteil an gefördertem Wohnbau – einigen. In einem irritierenden Konflikt zwischen zwei Auffassungen von „öffentlichem Interesse“ – der Schaffung von günstigem Wohnraum versus Budgetsanierung durch Privatisierung – ging das Areal schließlich 2015 an den Meistbietenden, den oberösterreichischen Projektentwickler CCI. Einige Platzhirsche unter den Wiener Bauträgern aus dem geförderten Bereich kamen nicht zum Zug.

Vonseiten der Stadt wurde eine Bebauung mit einer oberirdischen Bruttogeschoßfläche von 90.000 Quadratmetern in Aussicht gestellt. Im Gegenzug durfte der Anteil an frei finanziertem Wohnbau nicht mehr als ein Drittel ausmachen, der Rest sollte mit Wohnbauförderung errichtet und zu erschwinglichen Preisen vermietet werden. Diese Vereinbarungen wurden in einem städtebaulichen Vertrag zwischen Projektentwickler und Stadt festgelegt, in dem sich die CCI auch verpflichtete, für eine kontinuierliche Qualitätssicherung zu sorgen. Diese begann mit der Ausrichtung eines internationalen, zweistufigen städtebaulichen Realisierungswettbewerbs im Jahr 2016, an dem sich 94 Architekturbüros beteiligten.

Als Sieger ging das Projekt von Georg Driendl hervor, dem es am raffiniertesten gelang, die geforderten 90.000 Quadratmeter auf dem Areal zu verteilen. Driendl erfindet dabei keine neue Architektur: Das Rastermaß von 3,6 Metern, dem der Entwurf folgt, ist im Stahlbetonbau tausendfach bewährt; die tiefen Baukörper mit Innengängen und beidseitig angeordneten Wohnungen sind im heutigen Wiener Wohnbau Standard, ebenso Gebäudehöhen von bis zu zehn Geschoßen; knapp unter der Maximalhöhe, ab der verschärfte Brandschutzbestimmungen zum Tragen kommen. Die Haustechnik entspricht dem aktuellen Standard, die Materialien sind robust, aber sicher nicht reif für die Kreislaufwirtschaft, und die Balkontrenner in kräftigem Gelb und Orange zur Belebung der Fassaden hat man auch schon gesehen. Man könnte sagen: Driendl ist ein Pragmatiker, der sein Handwerk beherrscht. Es ist derselbe Pragmatismus, den auch Otto Wagner anspricht, wenn er als primäre Aufgabe der Architektur „peinlich genaues Erfassen und vollkommenes Erfüllen des Zwecks“ nennt. Dieser Pragmatismus hat allerdings eine Kehrseite: den Anspruch auf künstlerische Freiheit jenseits der Zweckmäßigkeit. Bei Driendls Entwurf für die Spallartgasse besteht diese Freiheit nicht zuletzt darin, im Rahmen des ökonomischen Rasters von 3,6 Metern die richtigen Baulinien zu finden. Sie folgen streckenweise der Straße, bilden U-förmig geschlossene Höfe, springen von der Straßenflucht zurück, wenn es zu eng wird, und weichen besonders erhaltenswerten Baumgruppen aus. Die Baukörper, die dabei entstehen, sind weder frei stehende, modernistische Einzelwesen noch starre Blockrandtypen, sondern locker platzierte Figuren, die miteinander und mit der Nachbarschaft im Dialog stehen. An einer Stelle schiebt sich eine dieser Figuren in die Tiefe des Parks und bildet dort einen der drei zehngeschoßigen Hochpunkte, mit denen die vereinbarte Dichte erreicht wird. Dass es sich hier ab dem fünften Geschoß lebt wie in Italo Calvinos „Baron auf den Bäumen“, ist ein Luxus, den es im geförderten Wohnbau selten gibt. Im Erdgeschoß dieses Trakts befindet sich ein Café mit Terrasse, das wie der ganze Park öffentlich zugänglich ist.

Dass Driendl überhaupt den Auftrag für die Objektplanung erhielt, ist keine Selbstverständlichkeit. Der Wettbewerb von 2016 hatte sich nur auf den Städtebau bezogen, der Ende 2017 nach Bürgerbeteiligung und Behandlung in der Stadtentwicklungskommission zu einer Widmung und Ausweisung von Baufeldern führte. Die CCI beschloss, die Wohnhäuser nicht selbst zu errichten, sondern die Baufelder an gemeinnützige Wiener Bauträger zu verkaufen, darunter jene, die sich schon 2015 für das Areal interessiert hatten. Üblicherweise hätten diese Bauträger ihren eigenen Architekten die weitere Planung übertragen, Driendl konnte sie aber mithilfe der Stadt Wien überzeugen, ihn und drei andere Wettbewerbsteilnehmer – Frötscher/Lichtenwagner, Gangoly & Kristiner und BWM – zu beauftragen.

Wer die Wiener Praktiken im geförderten Wohnbau kennt, weiß, dass das kein Geschenk ist. Die Bauträger streifen hohe Nebenkosten ein, vergeben aber die Ausführung an Generalunternehmer, die einen weiteren Aufschlag berechnen. Architekten, denen Ausführungsqualität ein Anliegen ist, müssen unter diesen Bedingungen um jedes Detail kämpfen. Driendls Projekt hat sich in diesem Kampf als extrem robust erwiesen. Fensterflächen mussten reduziert werden, liegen aber immer noch um fast das Doppelte über der Vorschrift. Die Raumhöhe blieb bei 2,7 Metern, und auch ein zentraler Aspekt des Brandschutzes blieb unverändert: Um den Park nicht für die Feuerwehr befahrbar machen zu müssen, gibt es in den Häusern parkseitig aufwendigere bauliche Brandschutzmaßnahmen.

Wenn hinter diesem Projekt eine Botschaft steht, dann lautet sie wohl: Konzentrieren wir uns auf die richtige Sache, und machen wir die Sache richtig. Die neue Architektur kommt dann ganz von selbst.

4. Februar 2022 Spectrum

Architekturzentrum Wien: Wenn die Sammlung zu erzählen beginnt

„Hot Questions – Cold Storage“: Unter diesem Titel präsentiert das Architekturzentrum Wien seine von Grund auf neu konzipierte Dauerausstellung. Unter den Schauobjekten: ein Riesenrad für Architekturmodelle. Wien ist um eine Attraktion reicher.

Die „a_chau“ nannte sich von 2004 bis 2021 die Dauerausstellung des Architekturzentrums Wien, eine chronologische Übersicht über die österreichische Architektur seit Mitte des 19. Jahrhunderts, mit einem klaren Schwerpunkt im 20. und ein paar ersten Beiträgen aus dem 21. Jahrhundert. Konzeptionell und gestalterisch war die „a?chau“ eine Herausforderung: Sie wirkte, als hätte ein Wirbelsturm Hunderte Seiten aus reich bebilderten Fachbüchern gerissen und im Raum verteilt. Einprägsam war diese Ausstellung jedenfalls nicht.

Dass gerade der Dauerausstellung des AzW der Erfolg verwehrt blieb, war kein Zufall. „Sturm der Ruhe. What is architecture?“ hieß 2001 die Ausstellung, mit der AzW-Direktor Dietmar Steiner sein Debüt in den neu adaptierten Räumen im Museumsquartier gab. Sie wollte dazu anregen, Architektur von ihren Rändern her zu denken, vom Unspektakulären, nicht medial Verwertbaren, und von den lapidaren Lösungen her, die erst auf den zweiten Blick ihre hohe „konzeptionelle Kompetenz“ preisgeben, von der sich Steiner eine „neue Architektur“ erwartete. Leicht vernebelte Assoziationsräume dieser Art zu öffnen war Steiners Stärke, und zu Recht wurde diese Ausstellung in der Architekturszene heftig diskutiert. Die didaktisch angelegte „a?chau“ war dagegen nie sein Herzensprojekt, auch wenn der Katalog zur „a?chau“ sich über die Jahre als Bestseller erwies.

Als Angelika Fitz im Jahr 2017 die Leitung des AzW übernahm, blieb die „a_chau“ trotz einiger Verbesserungen in der Präsentation und im Vermittlungsprogramm weitgehend unverändert. Der Schwerpunkt des AzW lag bei Sonderausstellungen, die sich konsequent mit den aktuellen „großen Fragen“ befassten, darunter „Boden für alle“ über die Ökonomie und Ökologie des Bodenverbrauchs, „Critical Care“ über den sorgsamen Umgang mit einem „Planeten in der Krise“ oder „Form folgt Paragraph“ über den Einfluss von Normen auf die Architekturentwicklung. Ergänzt wurde das Programm um Ausstellungen international renommierter Architektinnen und Architekten von Denise Scott Brown über Balkrishna Doshi bis Tatiana Bilbao.

Parallel dazu entstanden wichtige, von der Leiterin der AzW-Sammlung, Monika Platzer, kuratierte historische Ausstellungen, die vor allem die politische Dimension von Architektur und Stadtplanung untersuchten: „Kalter Krieg und Architektur“, quasi die Fortsetzung einer in der Ära Steiner entstandenen Ausstellung über die NS-Planungen unter dem Titel „Wien. Perle des Reiches“, oder eine Ausstellung über „Roland Rainer. (Un)Umstritten“, in der Rainers Karriere im NS-Staat in den Fokus rückte.

Dass man sich im AzW so lange mit der Neugestaltung der Dauerausstellung Zeit ließ, liegt nicht zuletzt daran, dass die Sammlung des AzW in den vergangenen Jahren auf inzwischen über 100 Vor- und Nachlässe gewachsen ist. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung dieses Materials erfordert einen langen Atem. Seit Mittwoch ist klar: Die Wartezeit hat sich gelohnt. Die neue, von Angelika Fitz und Monika Platzer konzipierte Dauerausstellung unterscheidet sich radikal von der bisherigen. Sie ist weder chronologisch aufgebaut noch versucht sie, aus der umfangreichen Sammlung eine Präsentation von Meisterwerken zusammenzustellen. Stattdessen überträgt sie das Konzept, mit dem das Sonderausstellungsprogramm des AzW so erfolgreich wurde, auf die Dauerausstellung: Sie stellt Fragen an die Sammlung und macht in ihren Antworten deutlich, dass Architektur nicht nur eine künstlerische, sondern auch eine sozioökonomische und politische Sache ist.

Der Titel der Ausstellung, „Hot Questions – Cold Storage“, bezieht sich auf die Doppelrolle jedes Museums: auf das so weit wie möglich objektive, „kühle“ Sammeln und Forschen auf der einen Seite und auf das Ausstellen auf der anderen, das immer bis zu einem gewissen Grad subjektiv bleiben muss, mit Präferenzen, die ein- und ausschließen, sowie mit Fragestellungen, die aus dem Heute an die Vergangenheit gestellt werden und so erst die aktuelle Relevanz eines Museums ausmachen. Das gilt für alle Museen, aber ganz besonders für ein Architekturmuseum, dessen Gegenstand eng mit sozioökonomischen und politischen Aspekten verbunden ist.

So lesen sich auch die sieben Begriffe und Fragen, nach denen die Ausstellung organisiert ist, wie ein Panorama des Zeitgeists: Kapital – Wer macht die Stadt? Habitat – Wie wollen wir leben? Gemeinwohl – Wer sorgt für uns? Selbstschau – Wer sind wir? Macher:innen – Wer spielt mit? Bausteine – Wie entsteht Architektur? Planet – Wie überleben wir?

Zu jeder dieser Fragen gibt es ein räumliches Gerüst, in dem Antworten aus der Sammlung präsentiert werden. Bei der Frage nach der Identität finden sich naheliegende Materialien über österreichische Beiträge zu Weltausstellungen, aber auch Detailinformationen über die Entstehung der Wiener UNO-City und Fotos von Kurt Waldheim, wie er als UNO-Generalsekretär in New York ein von österreichischen Betrieben gestiftetes Arbeitszimmer übernimmt, dazu die Rezeption dieses Nicht-Ereignisses in der österreichischen Presse.

Ein Unterabschnitt befasst sich mit Moscheen und Synagogen und präsentiert neben einem Modell der 1939 zerstörten Hietzinger Moschee von Arthur Grünberger und Adolf Jelletz ein geometrisch verwandtes Fassadenelement des islamischen Friedhofs von Bernardo Bader in Altach. In einer weiteren Unterabteilung zeigt ein unscheinbares Plandetail, die Beschriftung eines Geschäftsportals, den großen Architekten Otto Wagner als kleingeistigen Antisemiten. Dass er beides war, ist schmerzlich, aber eine Tatsache. Die Ausstellung ist voll von Überraschungen und mehr oder weniger großen Irritationen. So werden etwa die Monumentalbauten der Ringstraße im Abschnitt über das Kapital behandelt und als winzige Lego-Modelle gezeigt, an denen sich die Postkartenklischees, die wir von diesen Bauten im Gedächtnis haben, brechen.

Die Ausstellungsgestaltung von Michael Hieslmair mit Michael Zinganel (tracing spaces) und Christoph Schörkhuber mit Stefanie Wurnitsch (seite zwei) setzt mit ihrem Farbverlauf vom heißen Orange bis zum kalten Blau – wo Videos Einblick in den Betrieb des AzW-Lagers in Möllersdorf geben – die Grundidee der Ausstellung kongenial um. Zentrales Schauobjekt ist ein nach dem Vorbild des Paternosters langsam rotierendes Regalsystem hinter Glas, in dem Wohnbaumodelle mit der Unerbittlichkeit eines Uhrwerks durch den Raum kreisen (noch tun sie das nicht, weil pandemiebedingt einige Teile des Mechanismus fehlen).

Mit dieser Ausstellung ist Wien um eine Top-Attraktion reicher. Inhaltlich kann es das AzW mit den großen Tankern vom MAK bis zum Wien Museum aufnehmen. Jetzt sollte es endlich vom Bund und der Stadt Wien die Ressourcen erhalten, die diesem Format entsprechen.

11. Januar 2022 Spectrum

Was eine gute Universität ausmacht

Heute braucht es an Hochschulen nicht mehr nur gut ausgestattete Labore und Hörsäle, sondern auch Bereiche für informelles Zusammentreffen sowie Projekträume für selbstständiges Arbeiten. Die FH St. Pölten agiert mit ihrem Erweiterungsbau auf der Höhe der Zeit.

Von Loris Malaguzzi, dem Begründer der „Reggio-Pädagogik“, stammt die viel zitierte Behauptung, der Raum sei – nach den Mitschülern und den Lehrern – der „dritte Pädagoge“. Entstanden in den 1960er-Jahren im Bereich der Kindergartenpädagogik, in der mit Maria Montessoris Prinzip der „vorbereiteten Umgebung“ bereits eine explizit raumverständige pädagogische Praxis etabliert war, brauchte die Idee des „dritten Pädagogen“ einige Jahrzehnte, bis sie auch Volksschule und Gymnasium erfasste. Heute reicht es nicht mehr, wenn Architektur in der Schule einen neutralen Hintergrund bietet. Sie muss gut gestaltete Reviere zur Verfügung stellen: für die Jagd nach Wissen und für das Training im kultivierten Umgang miteinander.

Auch Universitäten und Fachhochschulen brauchen solche Reviere. Dass sich das Selbstverständnis dieser Institutionen gewandelt hat, zeigt sich in der Wortwahl: Zu den klassischen Begriffen Lehre und Forschung ist das Lernen als gleichwertige Aktivität getreten, für die es in den Gebäuden und Freiräumen optimale Bedingungen braucht. Dazu gehören nicht nur gut ausgestattete Labore und Hörsäle, sondern auch Bereiche für informelles Zusammentreffen und Projekträume, in denen Studierende selbstständig miteinander arbeiten können.

Die Fachhochschule in St. Pölten ist mit ihren zwei Bauetappen ein besonders gutes Beispiel dafür, wie sich die Anforderungen an solche Räume in den vergangenen Jahren geändert haben. Die FH nahm ihren Betrieb 1996 auf, zehn Jahre, nachdem St. Pölten zur Landeshauptstadt Niederösterreichs erhoben worden war. 2007 bezog sie ihr erstes neu gebautes Haus. Ende vorigen Jahres eröffnete sie einen Erweiterungsbau, der die zur Verfügung stehende Fläche fast verdoppelt. Hinter diesem Zuwachs an Fläche steht der Erfolg der FH, die von 60 Studierenden zu Beginn auf heute über 3500 gewachsen ist. Rund 360 hauptberufliche Mitarbeiter und 900 externe Lehrende betreuen 26 Bachelor- und Masterstudien, die von Informatik, Wirtschaft und Medien bis zu Gesundheits- und Krankenpflege reichen.

Der Standort des Campus liegt 15 Gehminuten nördlich des historischen Zentrums in einem Umfeld, das von Wohnbauten der 1960er-Jahre und dem benachbarten Universitätsklinikum geprägt ist. Ein Bundesschulzentrum markiert die südöstliche Grenze des Areals, auf dem noch Platz für zukünftige Erweiterungen ist. Das Haus aus dem Jahr 2007, ein im Grundriss annähernd quadratischer Block mit fast 70 Meter Seitenlänge und rund 14000 Quadratmeter Nutzfläche, bildet den Auftakt des Campus. Er enthält im Erdgeschoß Hörsäle und eine Mensa, darüber ein Geschoß mit Seminarräumen und zwei Ebenen mit Büro- und Laborräumen. Eine zentrale, von oben belichtete Halle verbindet alle Geschoße. Seine Form bekommt der Baukörper durch leichte Abschrägungen, die im Grundriss als auch im Schnitt vorgenommen werden und dem Haus ein kristallines Aussehen geben.

Der Entwurf stammt von Sascha Bradic, dem „B“ im Wiener Architekturbüro NMPB, das unter Extrembedingungen arbeitete: Die Planung hatte nur sechs Monate Vorlauf und ging fließend in eine Ausführungsphase von 15 Monaten über. Dass dabei nicht nur die Termine, sondern auch die Kosten eingehalten wurden, schuf beim Bauherrn nachhaltiges Vertrauen. Als 2015 eine Erweiterung um rund 11.000 Quadratmeter beschlossen wurde, ergab eine Machbarkeitsstudie einen Budgetrahmen von 30 Millionen Euro reiner Baukosten, die als Vorgabe für ein mehrstufiges Verhandlungsverfahren angesetzt wurden. Das inhaltliche Konzept wurde unter Einbindung von Studierenden und Mitarbeitern in einer vom Büro Nonconform moderierten „Ideenwerkstatt“ erarbeitet. Im folgenden Wettbewerb traten neben NMPB mehrere renommierte Büros gegeneinander an, darunter Dietmar Feichtinger aus Paris, Architekt der Donau-Universität in Krems, Laura Spinadel, Architektin des WU Campus, und DMAA, die Architekten des FH Campus Wien.

Der Siegerentwurf von Sascha Bradic lebt davon, nicht originell sein zu wollen. Er ist im Prinzip nichts anderes als der etwas kleinere Bruder des Bestandsgebäudes: eine rechteckige, von oben belichtete Halle, aufgespannt zwischen vier Fluchttreppenhäusern, darum gruppiert Seminar- und Büroräume; und eine äußere Hülle, die aus dem orthogonalen System ausbricht und dem Haus ein kristallines Aussehen gibt. Der Witz des Projekts besteht darin, innerhalb dieser typologischen Bindung einen evolutionären Qualitätssprung zu erzielen, der auf mehreren Ebenen eindrucksvoll gelingt. Die Halle, das Herz des Gebäudes, dient im Neubau nicht nur der Belichtung, sondern ist ein Aufenthaltsraum mit Podesten und Nischen geworden, ein „Wohnraum“, wie er in der Ausschreibung gefordert war.

Zur gleichwertigen Verbindung von Bestands- und Neubau auf allen Ebenen dient ein verglastes Zwischenelement, in dem nicht nur Verbindungsgänge, sondern auch Plattformen, die zum Verweilen einladen, von oben abgehängt sind. Die Büros werden großteils im Desk-Sharing-Prinzip bespielt und sind so verglast, dass man sich nie abgekapselt, aber auch nicht jedem Blick von außen ausgesetzt fühlt. Für Studierende gibt es großzügige Aufenthaltsbereiche mit 300 freien Arbeitsplätzen; zusätzlich können sie bei Bedarf Besprechungsräume buchen.

Die FH St. Pölten versteht sich als Teil der sozialen Infrastruktur der Stadt und als Brutstätte für „Open Innovation“. Das bedeutet etwa, dass die Hochschulbibliothek öffentlich zugänglich ist und als Filiale der städtischen Bücherei fungiert, mit einer kleinen Auswahl an Jugendliteratur. Auch den Rücksprung der Fassade im Erdgeschoß kann man als freundliche Geste zum umgebenden Stadtraum interpretieren. Beim Bestandsbau ist dieser Rücksprung eher symbolisch; im Neubau ist er ein ernsthaftes Angebot, sich niederzulassen: Vor dem Haupteingang beträgt die Auskragung satte acht Meter.

Nur 14 Jahre liegen zwischen diesen beiden Häusern. Ohne den Bestand abzuwerten, zeigt der Neubau, wie stark sich die Vorstellungen vom Lehren und Lernen in der kurzen Zeit verändert haben. Wie das Projekt typologische Kontinuität mit dem Anspruch verbindet, auf der Höhe der Zeit zu agieren, ist eine beachtliche Leistung.

16. Dezember 2021 Spectrum

Ist das die Stadt der Zukunft?

Ein gut vorbereiteter städtebaulicher Wettbewerb bot Gelegenheit, einen neuen Stadtteil zu gestalten. Am Ergebnis scheiden sich die Geister: Kann Wien sich aus den Mustern des vergangenen Jahrhunderts befreien? Ein Beispiel aus der Donaustadt.

Eine ebene Fläche, von der U-Bahnlinie U2 in einem großen Bogen überquert: Mehr ist hier nicht zu sehen, und trotzdem könnte die Zukunft dieses Orts kaum spannender sein. Auf einer Fläche von rund einem Viertel der Wiener Innenstadt sollen hier 2340 Wohnungen entstehen, in denen 5380 Menschen leben werden. Zehn Prozent der Bruttogrundfläche von 260.000 Quadratmetern werden für Büro- und Gewerbenutzungen, die sich vor allem im Bereich um die U-Bahnstation Aspernstraße am nördlichen Rand des Areals konzentrieren sollen, zur Verfügung stehen.

Die Umgebung dieses Gebiets ist eine Art Freilichtmuseum des Wiener Wohnbaus der Jahre 1980 bis 2000. Südöstlich liegt die 1981 entworfene Wohnhausanlage Biberhaufenweg. Otto Häuselmayer, Carl Pruscha und Heinz Tesar zitierten hier in bester postmoderner Manier traditionelle dörfliche Grundelemente: Anger, Gasse und Platz statt der rationalistischen Zeilenbebauung der Moderne. Im Südwesten, gegenüber dem SMZ Ost (heute Klinik Donaustadt), liegt die 1983 fertiggestellte Wohnhausanlage Gerasdorferstraße von Viktor Hufnagl, eine Variante der Gartenstadtidee mit lang gestreckten, von Laubengängen gesäumten Höfen. Zehn Jahre jünger ist die Siedlung Pilotengasse im Nordosten, geplant von Herzog & de Meuron und Adolf Krischanitz, ein Ensemble aus leicht gekrümmten Reihenhauszeilen, die an den Wiener Siedlungsbau nach dem Ersten Weltkrieg erinnern.

Zwei Nachbarn grenzen unmittelbar an den neuen Stadtteil an: im Westen die 1992 entstandene Wohnanlage Tamariskengasse von Roland Rainer, der hier sein Konzept einer Gartenstadt mit Atriumhäusern endlich auch in Wien umsetzen durfte. Der deutlich dichtere Nachbar im Osten ist die Erzherzog-Karl-Stadt, 1998 nach Plänen von Gustav Peichl und Martin Kohlbauer entstanden. Stadträumlich folgt sie den Ideen einer speziellen Postmoderne, aus der man die Moderne noch deutlich herausschmeckt: Diese „White City“ fällt im Freiluftmuseum durch ihre Sterilität auf, die nicht auf die einheitliche Farbe, sondern auf die industriell anmutende Wiederholung ihrer Elemente zurückgeht.

Je genauer man sich in dieser Gegend umsieht, desto deutlicher spürt man, dass etwas fehlt. Die Siedlungen sind zu sehr auf sich bezogen. Sie gleichen einem Patchwork von Ideen, die nicht zueinanderfinden. Und überhaupt: Kann eine Stadt aus nichts anderem bestehen als aus „Siedlungen“? Sollte es nicht möglich sein, andere Nutzungen zu integrieren und dafür neue, multifunktionale Bautypen zu entwickeln?

Antworten auf diese Fragen durfte man sich von einem städtebaulichen Wettbewerb erwarten, dessen Ergebnisse vergangene Woche bekannt wurden. Dass dieser Wettbewerb europaweit ausgeschrieben und anonym sowie zweistufig abgehalten wurde, ist bemerkenswert. Seit einigen Jahren hat sich die Stadt für ähnliche Aufgabenstellungen oft anderer Verfahren, die als „kooperativ“ bezeichnet werden, bedient. Bei diesen Verfahren sind die Teilnehmer bekannt und interagieren mit der Jury und den anderen beteiligten Büros. Das soll im Dialog Erkenntnisse bringen und zu einem besseren Verständnis der Aufgabe führen. Kritiker dieser Verfahren bemängeln, dass sie oft auf schwammigen Vorgaben aufbauen, weil die Aufgabe ja erst im Verfahren präzisiert werden soll, und am Ende schwache Kompromisse hervorbringen, für die niemand verantwortlich zeichnet.
Quo vadis, Donaustadt?

Im gegenständlichen Fall konnte die Ausschreibung der Stadt auf langjährigen Vorstudien aufbauen. Das Areal war bereits im Stadtentwicklungsplan 2005 ein „Zielgebiet“ und 2013 Teil des Strategieplans „Wo willst Du hin, meine Donaustadt?“. Vorgegeben war die Teilung des Areals in vier Quadranten mit einem verbindenden Park im Ausmaß von 2,15 Hektar. Um die Selbstbezogenheit früherer Siedlungen zu vermeiden, sollten sich die Gebäudehöhen an den Rändern an den Bestand angleichen und an der U-Bahnstation sowie im Zentrum des Areals auf maximal 35 Meter ansteigen dürfen; Hochhäuser jenseits dieser Grenze waren unzulässig. Zur Vernetzung der Stadtteile sollte die Empfehlung beitragen, die Eibengasse, gewissermaßen die Hauptstraße der „White City“ von Peichl und Kohlbauer, im neuen Stadtteil fortzuführen.

Das Siegerprojekt des Wettbewerbs vom Büro Superblock ist symptomatisch für den aktuellen Stand des Städtebaus in Wien. Das Verhältnis zur Umgebung ist durch eine entsprechende Abstufung der Gebäudehöhen zwar einigermaßen gelöst – problematisch ist allerdings der Umgang mit dem öffentlichen Raum. Superblock interpretieren das ebene Feld als Aufmarschplatz für Baukörper, die sich zu L- und U-förmigen Strukturen anordnen, zwischen denen Dreiergruppen von mittelhohen Türmen Aufstellung nehmen. Der öffentliche Raum ist das, was dazwischen übrig bleibt. Diese Art von Klötzchen-Urbanismus wird in der Regel damit verteidigt, es handle sich um eine Parklandschaft mit Einbauten, eine Metapher, an die Superblock mit der gewagten Behauptung anknüpfen, ihre Dreiertürme seien „Stadtkronen“ und „Leuchttürme“. Den Park gibt es zwar, aber er wird von der in Hochlage geführten U-Bahn dominiert und verfließt übergangslos ins Abstandsgrün zwischen den Baukörpern.

Ganz anders geht das zweitplatzierte Projekt von Hubert Rieß und seinen Partnerarchitekten an die Aufgabe heran. Es legt eine klare Ordnung fest, die Freiraum und Bebauung zugleich und überzeugend reguliert. Die Eibengasse wird als Allee durch das gesamte Planungsgebiet geführt und der Park als rechteckiges freies Feld einmal zur linken und einmal zur rechten Seite angeordnet. Seine Gestaltung bleibt offen; fürs Erste darf man sich eine große Wiese vorstellen, die frei bespielt werden kann. Das Areal wird durch Eibengasse und U-Bahn in vier Quadranten aufgeteilt, die nach einem einheitlichen Muster bebaut sind: linear angeordnete Zeilen mit einzelnen Hochpunkten, zwischen denen halb öffentliche, dicht mit Bäumen bewachsene Höfe entstehen. Die vorherrschende Gebäudehöhe beträgt 22 Meter, das Maximum, das bei dieser Struktur und Dichte sinnvoll ist. Die innere Erschließung der Wohnviertel erfolgt über West-Ost gerichtete Fußgängerwege mit kommerziell oder für soziale Zwecke nutzbaren Erdgeschoßzonen.

Dieses Projekt wäre eine Einladung, neben den gewohnten auch neue Formen städtischer Bebauung und neue Freiraumtypen zu entwickeln. Für die meisten Bauträger ist das eine Zumutung, da sie am liebsten Wohnungen, aber keine Stadt bauen wollen. Auf diesem Weg wird Wien in den Mustern des vergangenen Jahrhunderts stecken bleiben. Die zuständige Stadträtin, Ulli Sima, hätte die Aufgabe, die öffentliche Debatte über die Zukunft der Stadt anzuzünden, am besten mit einem Symposium, bei dem die Ergebnisse dieses Wettbewerbs diskutiert werden, als ginge es um den Lobau-Tunnel. Baumpflanzen, Installieren von Nebelduschen und Pseudo-Partizipation reichen nicht. Immerhin trägt Simas Ressort den Begriff „Innovation“ im Titel.

5. November 2021 Spectrum

Studieren auf der Piazza

Ob Österreich tatsächlich eine weitere medizinische Fakultätin Linz gebraucht hat, ist bis heute strittig. Ihren neuen Gebäuden, geplant von Lorenz Ateliers, fehlt es jedenfalls nicht an Selbstbewusstsein.

Seit 2014 gab es die neue medizinische Fakultät der Johannes-Kepler-Universität in Linz, wenn auch vorerst vor allem auf dem Papier: Die ersten Studierenden erhielten ihre Grundausbildung in Graz. Dass die neue Fakultät bald ein Bauwerk für Lehre und Forschung mit Signalwirkung erhalten würde, war anzunehmen: Die JKU hat sich unter Rektor Meinhard Lukas einen Ruf als Bauherr mit saftigem Repräsentationsanspruch erworben. Im Architekturwettbewerb für den neuen Erweiterungsbau des ehemaligen Linzer Allgemeinen Krankenhauses standen trotzdem die funktionellen Anforderungen im Vordergrund: große Hörsäle und Seminarräume, Bibliothek und Learning Center, Laboreinrichtungen für die medizinische Forschung sowie ein großer Bürotrakt. Die Ausschreibung war auf den Entwurf eines großen Hauses angelegt, in dem alle genannten Funktionen Platz finden.

Den Wettbewerb gewannen Lorenz Ateliers mit einem genau konträren Konzept, indem sie nicht vom monumentalen Einzelobjekt, sondern von der Stadt her dachten. Statt ein großes Haus zu entwerfen, schlugen sie die Schaffung eines städtischen Platzes vor, der sich an italienischen Vorbildern orientiert: eine Piazza ohne Bäume, ein städtisches Zimmer, dessen Wände von vier separaten, nur punktuell durch Brücken verbundenen Baukörpern gebildet werden. Diese Lösung wirkt in der Umsetzung so selbstverständlich, dass man sich im Nachhinein wundert, warum nicht mehrere Wettbewerbsteilnehmer auf sie gesetzt haben.

In der Geschichte des Universitätsbaus in Österreich gäbe es mit dem Campus der Wirtschaftsuniversität in Wien sogar einen Präzedenzfall, bei dem ebenfalls ein großes Haus ausgeschrieben war und am Ende ein Campus realisiert wurde, bei dem sich unabhängige Baukörper um eine gemeinsame Mitte versammeln. Angesichts der Größe des WU-Campus kamen dort in der Umsetzung verschiedene Architekten für die einzelnen Bauteile zum Zug. Beim Med Campus in Linz, der um eine Größenordnung kleiner ist als das Wiener Projekt, mussten Lorenz Ateliers diese Heterogenität selbst herstellen, was schon deshalb nicht einfach war, weil es bereits eine das Grundstück verbindende Substruktur gab: eine Tiefgarage, deren Stützen als Tragkonstruktion für eine Überbauung vorbereitet waren.

Die vier Baukörper des Neubaus setzen so weit wie möglich auf diesen Raster auf, wirken aber nach außen völlig eigenständig. Sie unterscheiden sich erstens in der Höhe: Der Bibliotheksbau ist mit Abstand der niedrigste, gefolgt vom Hörsaal- und Seminargebäude, dem Labor- und dem Bürobau. Diese Staffelung erhält eine besondere Note durch die Bäume, die auf dem Dach der Bibliothek gepflanzt sind und mit ihren Kronen ein weiteres Niveau im Höhenspiel der Piazza einziehen werden. Geplant war, auf diesem Niveau nicht nur Bäume, sondern einen Kräutergarten mit medizinischen Heilpflanzen anzusiedeln. Dieses Konzept musste aus Kostengründen aufgegeben werden, aber zumindest die Bäume werden, wenn sie in ein paar Jahren ihre geplante Höhe erreicht haben, einen surrealistischen Gegenpol zur baumlosen Piazza im Zentrum bilden.

Zweitens unterscheiden sich die Baukörper in Bezug auf ihre Fassaden, oder besser gesagt: in ihrem Dekor, einem Begriff, der ursprünglich nicht das „Dekorative“ als oberflächliche Ergänzung bezeichnete, sondern das angemessene oder schickliche Verhalten, insbesondere in der öffentlichen Rede. Die antike Rhetorik behandelte das „Decorum“ daher nicht als oberflächliche, sondern als ganzheitliche Qualität. Auch Fassaden des Linzer Med Campus sind keine glatten Oberflächen, sondern Vermittler zwischen Innen und Außen mit einer je eigenen, materialspezifischen Tiefe, die von der Holzverkleidung der Bibliothek über die bewegliche Keramikfassade des Laborbaus bis zur Loggia-artigen Beton-Elementfassade des Hörsaal- und Seminartrakts reicht. Jede dieser Fassaden harmoniert mit den Räumen dahinter, ganz im Sinne der antiken Auffassung von Dekor.

Zwischen diesen Fassaden spannt sich ein Raum auf, der auf Fotos nur ungenügend wiedergegeben werden kann, weil er sich erst aus der Bewegung in seiner ganzen Qualität erschließt. Für diese Bewegung gibt es zwei Arten von Attraktoren: einerseits die öffentlichen Zugänge an den Ecken der Piazza, die in die angrenzenden Straßen- und Grünräume führen, andererseits die Eingänge zu den einzelnen Funktionsbereichen in den Gebäuden, von denen es manchmal auch mehrere gibt. So ist etwa im Erdgeschoß des Bibliotheksbaus eine kleine Cafeteria untergebracht und im Erdgeschoß des Laborbaus ein Lebensmittelmarkt, neben dessen Eingang ein Aufzug zur Tiefgarage auch Letztere an prominenter Stelle mit der Piazza verbindet. Zwischen diesen Attraktoren bilden sich virtuelle Wege, die dann – je nach Jahreszeit – von den Licht- und Schattenmustern beeinflusst werden, wie sie die unterschiedlich hohen Gebäude auf die Piazza werfen.

Im Inneren der Baukörper herrscht eine Großzügigkeit, die unter den heutigen ökonomischen Bedingungen selten geworden ist. Mit einem Anteil an Erschließungsflächen von knapp 30 Prozent liegt das Projekt im oberen Bereich des Üblichen, aber jeder Prozentpunkt ist hier mit architektonischem Anspruch investiert. Vor allem das Hörsaal- und Seminargebäude bietet den Studierenden mehrgeschoßige Treppenhallen mit spektakulären diagonalen Durchblicken. In die Hörsäle dringt großzügig Tageslicht, das über Jalousien nach Bedarf geregelt werden kann. Allein die Option, nach einer medienunterstützten Frontalvorlesung im abgedunkelten Hörsaal für eine Diskussionsphase einen natürlich belichteten Raum zur Verfügung zu haben, ist den Aufwand wert.

Auf der Ebene der Seminarräume befindet sich ein Element, das schon von der Piazza aus irritierend auffällt: ein schmaler Balkon mit einem Boden aus Metallgittern, der in die Piazza hineinragt wie ein Trampolin in einen Swimmingpool. Ist das ein Balkon für Volks- oder Brandreden? Ein baukünstlerischer Hinweis darauf, wie dünn und zerbrechlich der Boden ist, auf dem wir alle stehen? Die Antwort wird jeder Besucher selbst finden müssen. Dieser Balkon ist „dekorativ“ im oben beschriebenen Sinn, ein rhetorisches Element, ohne das der Entwurf ein anderer, banalerer wäre.

Architektur hat dafür zu sorgen, dass die Menschen es in unseren Häusern trocken, warm und sauber haben. Sie ist aber auch die Kunst, das scheinbar Nutzlose notwendig zu machen. Angesichts der drohenden Klimakatastrophe mag diese Behauptung anstößig klingen: Sollten wir nicht den minimalen Ressourcenverbrauch zur obersten Maxime machen? Zwischen Baukunst und Banalität liegen aber oft nur wenige Prozent an Klimawirksamkeit. Späteren Generationen diese Kunst zu erhalten sollte die zusätzliche Anstrengung dafür wert sein.

13. Oktober 2021 Spectrum

Wie baut man Hochhäuser?

Ein einprägsamer Ort, der nicht nur den Nutzern und Investoren dient, sondern auch der Allgemeinheit: Henke und Schreieck zeigen mit dem Triiiple in Wien, was Architektur und Städtebau an einer unmöglichen Stelle bewirken können.

Ist Wien eine Hochhausstadt? Diese Frage lässt sich am besten von einem neuen Aussichtspunkt der Stadt aus prüfen, dem Restaurant auf dem Dach des Flakturms im Esterházypark, dessen umlaufender Balkon einen freien Blick in alle Himmelsrichtungen erlaubt. Von hier aus lassen sich einige prominente Hochhauscluster erkennen: im Norden die Donau City mit dem DC Tower; im Süden der Wienerberg mit den beiden dominanten Twin Towers; ein Stück östlich davon der Stadtteil Monte Laa, errichtet auf und neben der Überplattung der Südosttangente; deutlich näher zum Zentrum die Hochhäuser im Viertel um den Hauptbahnhof und in Wien-Mitte. Dazwischen gibt es eine ganze Reihe von vertikalen Entgleisungen, vom Millenniums- bis zum Florido-Tower, die im Stadtgefüge unruhig aufzeigen. Wien gewinnt seine Identität sicher nicht aus diesen Stadtbausteinen, aber sie gehören inzwischen dazu, wie die Windparks nördlich der Stadt, die sich aus der Vogelperspektive vom Flakturm recht dramatisch ins Bild schieben.

Das Hochhaus ist eine teure und wenig effiziente Form des Bauens, die aber hohe Renditen verspricht, wenn das ökonomische Umfeld passt. Hohe Bodenpreise sind dabei weniger die Ursache fürs hohe Bauen, vielmehr die Wirkung entsprechender Widmungen. Für die öffentliche Hand bieten sich daher Steuerungsmöglichkeiten über städtebauliche Verträge, in denen der Widmungsgewinn der Projektentwickler zumindest teilweise in Leistungen für die Öffentlichkeit umgelenkt wird, etwa durch die Mitfinanzierung sozialer Einrichtungen wie Schulen und Kindergärten oder die Überplattung von Autobahnen.

Viel größer sind die Einflussmöglichkeiten dort, wo die öffentliche Hand auch Eigentümerin der Liegenschaften ist. Ein Beispiel dafür ist ein weiterer Cluster mit drei Büro- und drei Wohntürmen in der 100-Meter-Klasse, der sich im dritten Bezirk zwischen den U-Bahnstationen Schlachthausgasse und Erdberg entwickelt hat, auf einem Areal, das fast ausschließlich aus Infrastruktur bestand: einer Schnellstraße entlang des Donaukanals; einer Autobahnauffahrt zur Südosttangente; dem Hauptzollamt, das in mehreren Hochhausscheiben untergebracht war; und schließlich einer Remise der U-Bahnlinie U3, über der bereits vor 20 Jahren unter dem Namen Town-Town ein Ensemble von Bürohäusern errichtet wurde.

In dieses Durcheinander Ordnung zu bringen, ist eine fast hoffnungslose Aufgabe, an der die Stadtplanung bei den drei Bürohochhäusern auch postwendend gescheitert ist. Selbst wenn einer von ihnen, der Austro Tower, eine durchaus interessante Geometrie besitzt, kann er die gnadenlose Banalität der beiden anderen Türme nicht wettmachen, die neben ihm wie zufällig abgestellt wirken. Auch die komplexe Doppelfassade hält im Detail nicht, was sie aus der Ferne verspricht: Technische Spitzenleistungen im Hochhausbau sind nur in Städten möglich, wo die Büromieten astronomisch sind. Wien kann da nicht mitspielen, was für visionäre Hochhausarchitektur bedauerlich, für die Stadt insgesamt aber nicht von Nachteil ist.

Von einer ganz anderen Qualität sind die drei Wohnhochhäuser, die auf dem Areal des ehemaligen Zollamts von den Architekten Dieter Henke und Marta Schreieck entworfen wurden. Als Projektentwickler traten hier die ARE – eine Tochtergesellschaft der BIG, die nach dem Abbruch des Zollamts über die Grundstücke verfügte – und die Soravia-Gruppe auf. Letztere hatte bereits mit der Stadt Wien Town-Town entwickelt. Im Architekturwettbewerb schlugen die Architekten vor, statt der geplanten zwei massiven Wohntürme drei zartere zu errichten, zwischen denen sich auf mehreren Ebenen öffentliche Räume aufspannen: auf Straßenniveau ein öffentlicher Platz, zu dem sich die Lobbys der Hochhäuser und einige Geschäfte orientieren, auf dem Niveau darüber – dessen Höhenlage von acht Metern durch die Überplattung von Remise und Autobahnzufahrt vorgegeben ist – eine ebenfalls öffentliche, großzügige Stadtterrasse, die über eine Brücke mit dem eher tristen inneren Platz von Town-Town verbunden ist. Diese Terrasse reicht auf der anderen Seite zum Donaukanal, wo sich ein kleines Café bis knapp ans Wasser vorschiebt.

Das gestalterische Charakteristikum der drei Türme ist ihre Höhenstaffelung mit dramatischen Überhängen und mehrgeschoßigen Terrassen-Einschnitten. Aus manchen Perspektiven fragt man sich, wie die Türme statisch im Gleichgewicht sein können. Sie wirken wie Turner, die schwierige gymnastische Übungen machen und ihre Muskeln bis zum Äußersten anspannen müssen. Hinter der Fassade sind bei genauerem Hinsehen die diagonalen Zugelemente zu sehen, mit denen die verantwortlichen Tragwerksplaner Gmeiner und Haferl dieses Kunststück zuwege gebracht haben. Den Fassaden sind umlaufende Balkone vorgesetzt, die mit Glasbrüstungen versehen sind; eine aufwendige Lösung, die darauf hindeutet, dass man es hier mit Wohnungen im Luxussegment zu tun hat. Das gilt jedenfalls für zwei der Türme; der dritte beinhaltet 700 Kleinstwohnungen für Studierende. Alle Wohnungen profitieren von der Lage am Wasser, vom Fernblick und davon, dass die drei Türme nicht nur skulptural interessant sind, sondern auch zwischen sich Räume aufspannen, die von den großen gemeinschaftlich nutzbaren Terrassen aus erlebbar sind.

Was hat die öffentliche Hand von diesem Projekt, dessen Bauplatz öffentliches Eigentum war? Einerseits geht ein Teil des Gewinns an die ARE und damit an die Republik. Anderseits finanziert es die Überplattungen und Sozialwohnungen an einem anderen Standort, wo sie rasch benötigt wurden. Dass es mit dem Triiiple gelungen ist, „Millionärswohnungen“ an einem Unort attraktiv zu machen, den man davor selbst für Sozialwohnungen als Zumutung bezeichnet hätte, ist eine Pointe dieses Projekts. Nach dem Viertel 2 mit dem OMV-Hochhaus und dem Erste Campus am Hauptbahnhof haben Henke und Schreieck mit dem Triiiple neuerlich bewiesen, dass sie in der Lage sind, im großen Maßstab einprägsame Orte zu schaffen, die nicht nur den Nutzern dienen, sondern auch der Allgemeinheit. Wien bräuchte mehr von dieser unaufgeregten und uneitlen, vom Städtebau bis zum Detail reichenden Kompetenz.

10. September 2021 Spectrum

Glück ohne Gras, wie dumm ist das

Zu hohe Dichte und halbherzig durchgeführte Freiraumgestaltung: Mit großen Ambitionen begonnen, bleibt die Biotope City auf dem Wienerberg hinter den Erwartungen zurück.

Eine jede Zeit hat ihr Lieblingsmaterial. In der frühen Moderne schwärmten Architekten wie Bruno Taut vom Glas. In seinem Glashaus auf der Werkbundausstellung in Köln zitierte er 1914 den Schriftsteller Paul Scheerbart mit Sätzen wie: „Das bunte Glas zerstört den Hass“ oder „Glück ohne Glas, wie dumm ist das“, die er über dem Eingang anbringen ließ. Glas blieb eines der zentralen Materialien der Moderne, wenn auch meist in anderer Form: Während Tauts Glashaus vielfarbig in geometrischen Mustern leuchtete, mutierte Glas in der Spätmoderne zur alles neutralisierenden, verspiegelten Rasterfassade.

Was ist das Lieblingsmaterial unserer Zeit? Bis vor Kurzem hätte ich auf diese Frage geantwortet, sie sei überflüssig: Gute Architektur kann mit jedem Material entstehen. Das mag stimmen, aber trotzdem zeichnet sich ein Trend ab, der nicht zu übersehen ist: Unsere neue Liebe gilt dem Stadtgrün auf Dächern und Fassaden. Dieses Grün ist zwar kein Material im engeren Sinn, aber es kann die Erscheinung von Gebäuden prägen. Die Stadt Wien unterstützt den Trend, indem sie nun in Bebauungsplänen vorschreibt, bei Neubauten mindestens 20 Prozent der straßenseitigen Fassadenflächen zu begrünen. Dahinter stehen nicht nur emotionale Überlegungen, sondern auch Aspekte des Klimawandels und der zunehmenden Hitzeproblematik. Schon 2015 hat Wien einen Strategieplan zum Umgang mit „Urban Heat Islands“ herausgebracht, der empfiehlt, das Thema schon bei der städtebaulichen Planung und nicht erst bei der Gebäudeplanung einzubeziehen.

Die Biotope City Wienerberg verdankt ihre Entstehung einer besonderen Konstellation von Interessen. Erstens gab es einen prominenten Standort, das Areal der ehemaligen Coca-Cola-Fabrik, gewissermaßen das Pendant zum Hochhauscluster auf der anderen Seite der Triester Straße, wo das Philips-Haus von Karl Schwanzer und die Twin Towers von Massimiliano Fuksas städtebauliche Akzente setzen. Hier plante die Stadt Wien, das ehemalige Industriegebiet für Bürobauten, ein Hotel und Wohnungen umzuwidmen. Ganz wird die Industrie nicht vom Areal verschwinden: Das Autohaus Liewers mit seinen eleganten, von Rudolf Vorderegger geplanten Werkshallen aus den 1950er-Jahren bleibt bestehen.

Zweitens gab es die Ambition eines Star-Architekten, Harry Glück, an diesem Ort eine Neuauflage seiner Wohnbauten in Alt-Erlaa zu realisieren, und drittens gab es mit dem Begriff der Biotope City eine städtebauliche Vision, die nach einer Umsetzungsmöglichkeit suchte. Hinter der Biotope City steht eine Stiftung der deutsch-niederländischen Stadtplanerin Helga Fassbinder, die der üblichen Vorstellung von Stadt als technische „Hardware“ eine Stadtvision entgegensetzt, in der die Stadt als Biotop konzipiert ist, in dem Menschen zwar dicht gepackt, aber in Symbiose mit der Natur leben. Das heiße, so Fassbinder, das Haus vom Freiraum her zu denken. Im großen Maßstab bedeutet das die Berücksichtigung von Beschattung und Wind, im mittleren die Planung der grünen Zonen im öffentlichen Raum, inklusive Dach- und Fassadenbegrünung, und im kleinen Maßstab das den Wohnungen zugeordnete Grün auf Balkonen und Terrassen, das zum kollektiven Grün werden kann, wenn es die Fassaden hinauf- oder hinunterwuchert.

Ganz neu sind diese Ideen nicht. Die erste grüne Welle erlebte die Architektur in den 1970-Jahren; Alt-Erlaa markiert das utilitaristische Ende dieser Bewegung (Stichwort: das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl), das Hundertwasser-Krawina-Haus das irrationale (Stichwort: Hundertwassers Verschimmelungsmanifest). Zwischen diesen Extremen gibt es, auch international, eine Fülle an gelungenen Beispielen für begrünte Gebäude. Was die Biotope City von diesen Ansätzen abhebt, ist die Behandlung des Themas im städtebaulichen Maßstab. Auf dem Wienerberg war die kritische Größe dafür vorhanden. Der damals schon 90-jährige Harry Glück konnte Helga Fassbinder als Partnerin gewinnen und die Stadt überzeugen, ein Pilotprojekt umzusetzen. Mit ins Team für ein „kooperatives Verfahren“ kamen die Büros Rüdiger Lainer, BKK3 und Vlay/Streeruwitz sowie für die Freiräume Auböck/Kárász. Dazu kamen zahlreiche Konsulenten, etwa aus einer von der FFG geförderten Begleitforschung. Auch im Rahmen der Wiener Internationalen Bauausstellung/IBA 2022 nimmt das Projekt einen prominenten Platz ein.

Angesichts der großen Ambitionen hinterlässt das Ergebnis einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits gibt es geglückte Momente, vor allem dort, wo sich sich die neue City in Struktur und Dimension an die kleinteilige Siedlungsstruktur der nordöstlichen Umgebung anpasst. Wo sie sich aber in den „Fingern“ nach Süden zu 35 Meter hohen Scheiben aufschwingt, wirkt der Stadtraum bedrängend. Das liegt nicht zuletzt daran, dass man auf die Terrassierung der Blöcke verzichtet hat, die für Alt-Erlaa charakteristisch ist. Nun wirkt es, als hätten die Planer die oberen, nicht terrassierten Geschoße von Alt-Erlaa samt Schwimmbad abgebaut, ein wenig auf schick geknickt und auf dem Wienerberg abgesetzt. (Was eine solche Terrassierung mit ihrem leichten Zurückweichen in Kombination mit einer raffinierten Gartenarchitektur leisten kann, lässt sich auch an Carl Auböcks Olof-Palme-Hof in der Hansson-Siedlung studieren.)

Das Konzept für die öffentlichen Freiräume hat mit dem Faktum zu kämpfen, dass die Erdgeschoßzonen weitgehend privatisiert und mit Mietergärten ausgestattet sind. Dem Raum zwischen den Scheiben fehlen dadurch Offenheit, Aneignungsqualität und Eleganz. Letzteres mag auch daran liegen, dass sich Auböck/Kárász aus der Umsetzungsplanung für die Freiräume zurückgezogen haben. Der großzügige Einsatz von betonierten Wegen und der Wegfall der drei geplanten offenen Wasserflächen schmerzen. Da ist es der Biotope City nicht besser gegangen als vielen anderen Projekten, bei denen am Ende dort gespart wird, wo es am leichtesten geht: bei den Freiräumen. Bemerkenswert ist auch, dass in den Publikationen zur Biotope City Wienerberg nicht ein einziger Haus- oder Wohnungsgrundriss enthalten ist. Das mag seine Gründe haben: Die dunklen Innengänge und einseitig ohne Querlüftung orientierten Grundrisse teilen sich die Neubauten mit ihrem Vorbild aus Alt-Erlaa.

Die Biotope City wird noch beweisen müssen, dass sie mehr ist als ein elegantes Instrument zur Erhöhung der Grundstücksausnutzung, die in diesem Fall von den ersten Überlegungen der Stadt bis zum realisierten Projekt 50 Prozent betragen haben soll. Hätte die Stadt Wien statt eines „kooperativen Verfahrens“ einen gut vorbereiteten und anonymen städtebaulichen Wettbewerb durchgeführt, um zu untersuchen, was das Areal an Dichte verträgt, wäre eine solche Steigerung wohl kaum eingetreten. Und die Biotope City hätte Luft zum Atmen.

6. August 2021 Spectrum

Zu Gast im Club Hybrid

Utopische Architektur im Grazer Stadtteil Gries: ein halbes Haus und ein Haus aus Luft – wo regelmäßig Workshops, Vorträge und Konzerte veranstaltet werden. Ein Club lädt zum Experimentieren ein.

Wer erinnert sich noch an das Jahr 2003? Um als Kulturhauptstadt Europas zu glänzen, stürzte sich die Stadt Graz in ein Abenteuer, zu dessen Hinterlassenschaften ein spektakuläres Kunsthaus, eine Stahlinsel in der Mur und nicht zuletzt beachtliche Löcher in den Budgets von Stadt und Land gehörten. Als die Stadt für 2020 ein „Kulturjahr“ ausrief, mag diese Erinnerung zu einer Klarstellung in dessen Titel beigetragen haben: „Graz. Unser Kulturjahr 2020“ sollte kein von oben geplantes, auf internationale Resonanz hin konzipiertes Kulturspektakel werden, sondern ein Jahr der kulturellen Reflexion über die urbane Zukunft mit Blick auf „Umwelt und Klima, digitale Lebenswelten, soziales Miteinander und die Arbeit von morgen“.

Mit einem Budget von fünf Millionen Euro Fördergeld sollten vor allem lokale Initiativen in allen 17 Bezirken gefördert werden. Eine offene Ausschreibung ergab 600 Einreichungen, von denen rund 90 eine Förderung erhielten. Das Spektrum reicht von Aktionen im öffentlichen Raum über Theaterarbeit und Themenworkshops bis zu Ausstellungen und landwirtschaftlichen Versuchsflächen.

So wie die Fußball-Europameisterschaft konnte auch das Kulturjahr 2020 bei gleichem Titel erst mit einem Jahr Verspätung stattfinden. An Intensität hat es dadurch nichts eingebüßt, sondern in manchen Fällen sogar von der aufgestauten Sehnsucht nach Kulturveranstaltungen profitiert. Das gilt jedenfalls für ein Projekt, das Heidi Pretterhofer und Michael Rieper für den Stadtteil Gries im Grazer Südwesten entwickelt haben, einen „Demonstrativbau“ mit der Adresse „Herrgottwiesgasse 161“, die erahnen lässt, dass man sich hier in der Nähe des Grazer Zentralfriedhofs befindet. In unmittelbarer Nachbarschaft des Grundstücks befinden sich vor allem Gewerbebauten und Handelsflächen, aber auch die größte Moschee der Stadt, Teil eines islamischen Kulturzentrums, das 2014 eröffnet wurde. Der Entwurf stammt vom Grazer Büro GSP und geht auf einen Wettbewerb aus dem Jahr 2011 zurück.
Demonstrativbau als kulturelles Herz

In der mentalen Hierarchie der Stadtteile, die es in Graz wie in jeder anderen Stadt gibt, rangiert der Süden von Gries am unteren Ende. Nebel hält sich hier länger, Emissionen von Industriebetrieben und dem Schlachthof machen sich bemerkbar. Trotzdem wohnen und arbeiten hier Menschen, es gibt eine Schule und ein Fitnesscenter, Außenstellen des Berufsförderungsinstituts und des Hilfswerks Steiermark. Der „Club Hybrid“, wie Pretterhofer und Rieper ihren Demonstrativbau genannt haben, versteht sich als kulturelles Herz dieser hybriden Umgebung. Der Club Hybrid ist dreigeschoßig: Im Erdgeschoß liegen eine Küche, Toiletten und viel überdachter, aber nach außen hin nicht abgeschlossener Raum, der als Café und Begegnungszone dient. Die Plattform darüber dient zur einen Hälfte als Ausstellungsraum, zur anderen Hälfte als Terrasse. Darüber liegen Wohnkojen für Gäste, die hier ein paar Tage übernachten können.

Wenn von außen der Eindruck entsteht, als sei nur das halbe Haus gebaut und der Rest einfach mit Stahlträgern in die Luft skizziert, ist das durchaus beabsichtigt: Im Budget von 200.000 Euro war kein Vollausbau über dem großzügigen Erdgeschoß möglich. Weitere 200.000 Euro fließen in die Betreuung und Bespielung des Clubs, der seit seiner Eröffnung im Juni 2021 Vorträge und Konzerte veranstaltet und Künstler zu Workshops einlädt. Den Namen „Club“ würden die Betreiber inzwischen gerne loshaben: Für die beabsichtigte Offenheit klingt er zu exklusiv.

Zu den als Partnern geladenen Gästen gehört auch das Wiener Kollektiv AKT, das zum Großteil aus jungen Architektinnen und Architekten besteht, die sich neben ihrer „normalen“ Architekturpraxis mit Formen von Raumproduktion befassen, die weder im vordergründigen Sinn nützlich noch profitabel sind. Bisher haben AKT Ausstellungen hergestellt, in denen die Mitglieder jeweils individuelle Beiträge zu Themen wie Europa, Nachbar*in oder EinGang lieferten.

Mit „AKT 4“ arbeiteten sie zum Thema „Gast“ erstmals gemeinsam an einem Objekt, das sie als „Gastgeschenk“ für den Club Hybrid verstehen. Was diesem fehle, sei nämlich ein abgeschlossener Hof, und den errichteten AKT aus Gabionenkörben aus verzinktem Stahl, die normalerweise mit Steinen gefüllt zur Hangbefestigung oder als Gartenmauer zum Einsatz kommen. Die gesamte Stahlmenge des Raumgerüsts, das AKT aus diesen Elementen gestalteten, ließe sich komprimiert in zwei größeren Reisekoffern unterbringen. Als Unterbau diente der Aushub, der beim Graben der Fundamente des Club Hybrid anfiel.

Im zentralen, von weißen Vorhängen abgeschirmten Hof schwingt sich dieser Aushub zu einer Miniatur-Bergspitze auf, deren Besteigung dem Besucher einen Ausblick in die Umgebung erlaubt. Für die Ewigkeit sind weder der Club Hybrid noch der Gast-Hof von AKT gedacht. Sie belegen, dass Architektur mit einem Gedanken beginnt, der unabhängig von der gebauten Realität existiert. Ludwig Wittgenstein hat dazu angemerkt: „Erinnere dich an den Eindruck guter Architektur, dass sie einen Gedanken ausdrückt. Man möchte auch ihr mit einer Geste folgen.“
Leichtigkeit und Transparenz

Um welche Gedanken und Gesten könnte es bei den beiden Objekten in Graz gehen? Jedenfalls um Gedanken wie Leichtigkeit und Transparenz, um das Verschließen und Öffnen als Grundgesten der Architektur, um Genauigkeit der Raumbildung ohne den Anspruch auf erstickende Perfektion.

In der heutigen Architektur liegen solche Gedanken zwar in der Luft, aber sie zu bauen gelingt fast nie mehr. Das ist kein Wunder. Tendenziell zerfällt die Architekturwelt heute in einen marktgetriebenen Sektor, in dem in erster Linie Profitmaximierung zählt, und in einen ökologischen Sektor, der sich die Mitverantwortung für alle drohenden Katastrophen auflädt. Dazwischen schrumpft zusehends der Raum für das Utopische, für das Experimentieren mit Lebensstilen und Lebensformen im direkten Sinn des Wortes, oder, wie AKT behaupten: „Die unabhängige und insbesondere utopische Raumproduktion, die jede soziale und kulturelle Wende begleitet, ist praktisch zum Erliegen gekommen.“

Auch Michael Rieper und Heidi Pretterhofer verstehen ihren Club als Einladung zum Experiment. Ursprünglich war geplantgewesen, den Betrieb Mitte August einzustellen. Inzwischen sind neue Nutzer aufgetaucht, teilweise aus dem universitären Bereich, aber auch Nutzer vor Ort wie das islamische Zentrum, womit der Betrieb zumindest bis Herbst gesichert scheint. Der Grund, auf dem der Club steht, gehört der Stadt, und eine der Intentionen des Clubs ist es, diesen Grund als öffentlichen und zugänglichen zu bewahren. Die Stadt der Zukunft braucht solche Orte, um neue Gesten einzustudieren, die sich dann auch im Alltag bewähren.

2. Juli 2021 Spectrum

Da stöhnt der Geist des Wien Museums

Denkmalschutz führt sich ad absurdum, wenn er nicht nur pragmatisch, sondern prinzipienlos vorgeht. Was passieren kann, wenn die nötige Einfühlung fehlt, zeigt sich aktuell am Umbau des Wien Museums am Karlsplatz.

Die Passanten am Wiener Karlsplatz kamen aus dem Staunen nicht heraus. Was passierte da vor ihren Augen mit dem Wien Museum? Im Laufe weniger Wochen verwandelte es sich in eine Ruine, die ohne Dach, Fensterrahmen und Natursteinfassade dastand und das rohe Tragwerk aus Stahlbeton und Ziegelmauerwerk zum Vorschein kommen ließ. Wie konnte man mit einem Haus, das doch unter Denkmalschutz steht, so umgehen? Auch der ORF griff das Thema auf und berichtete im „Kulturjournal“ über die Hintergründe. Der Bericht gab einerseits Entwarnung: Der ruinöse Anblick sei nur temporär, alle Maßnahmen seien mit dem Denkmalamt abgestimmt. Andererseits vermittelte der Bericht in den Kurzinterviews diverser Experten den Eindruck, dass es zwei Arten von Denkmalschutz gibt: eine fundamentalistische, die keinerlei Änderung an einem Baudenkmal akzeptiert, und eine pragmatische, die davon ausgeht, dass ein Denkmal „lebendig“ bleiben und sich daher an veränderte Nutzungsansprüche und Normen anpassen muss.

Das Wien Museum ist exemplarisch für das angesprochene Dilemma. Es zeigt aber auch, dass sich der Denkmalschutz ad absurdum führt, wenn er nicht nur pragmatisch, sondern prinzipienlos vorgeht. Im konkreten Fall beginnt das Problem schon damit, dass der Denkmalschutz in der Ausschreibung des Wettbewerbs im Jahr 2015 explizit festgehalten hat, dass „sowohl eine Aufstockung als auch ein weiterer Anbau an das Bestandsgebäude aus Sicht des Bundesdenkmalamtes als nicht möglich erachtet werden“. Dem Siegerprojekt gelang es, gegen beide Vorgaben zu verstoßen: Es schlug die Aufstockung des Hauses um zwei Geschoße und einen Zubau ans Foyer an der Hauptfassade vor. Das Denkmalamt hatte zwar keine Stimme in der Jury, aber man darf annehmen, dass seine Meinung vor der Juryentscheidung sondiert wurde. Offensichtlich gab es grünes Licht. Hätte das Denkmalamt auf seinen Positionen beharrt, wäre die Politik am Zug gewesen: Der zuständige Minister hätte den Denkmalschutz aufheben müssen, so wie es die damalige Bildungsministerin Elisabeth Gehrer im Fall eines anderen Museums, der Albertina, entschieden hatte, bei dem eine historische Deckenkonstruktion dem Expansionstrieb des Hausherren im Weg stand.

Wäre es fundamentalistisch gewesen, es auf ein solches politisches Urteil ankommen zu lassen? Nein: Fundiert und fundamentalistisch sind nicht dasselbe. Auch ein pragmatischer Zugang zum Denkmalschutz, der seinen Schutzgegenstand „lebendig“ halten möchte, braucht Prinzipien und muss sich diesen Gegenstand durch Forschung und Bewertung erarbeiten, bevor er dem „Leben“ seine Bahn lässt. Diese Arbeit ist nicht nur analytisch, sondern auch kreativ. Sie schließt eine emotionale Beziehung zu ihrem Gegenstand ein, zu dem, was „Genius Loci“ oder im Fall eines Baudenkmals der „Geist des Hauses“ genannt werden kann, mit dem so respektvoll wie möglich umzugehen ist. Um ein analoges Beispiel aus einem weniger hoch kulturellen Bereich zu wählen: Wer ein Automobil aus den 1950er-Jahren kauft und instand setzt, kann es mit neuem Motor, Metallic-Lackierung, besseren Scheinwerfern und einem Rolls-Royce-Kühlergrill ausstatten, um dann mit 220 Kilometern pro Stunde über die Autobahn zu brettern. Das Ergebnis mag spektakulär sein, aber es steht für eine Haltung, die mit Denkmalschutz völlig unverträglich ist, selbst wenn wesentliche Elemente des Alten erhalten bleiben.

Denkmalschutz muss ein Sensorium dafür haben, was einem Denkmal zugemutet werden kann, bevor es seine Integrität verliert. Wenn die Nutzungsansprüche oder der Wunsch nach „zeitgenössischem“ Ausdruck über das vertretbare Maß hinausgehen, muss der Denkmalschutz diesen Ansprüchen fundiert eine Absage erteilen, oder – in Fällen, in denen die Unterschutzstellung disputabel erscheint – auf den Denkmalschutz verzichten. Wäre es nicht wirksamer, weniger Objekte unter Schutz zu stellen, diese aber konsequent und kompromisslos zu schützen. Dass man ausgerechnet in Wien, wo im frühen 20. Jahrhundert die theoretischen Grundlagen der modernen Denkmalpflege von Größen wie Alois Riegl und Max Dvořzák entwickelt wurden, an solche Prinzipien erinnern muss, ist besonders schmerzlich. Für das Wien Museum hätte es mehrere Wege gegeben: einerseits der lange Zeit diskutierte andere Standort für einen Neubau, der es erlaubt hätte, für das Bestandsgebäude eine adäquate Nutzung im Rahmen des Denkmalschutzes zu finden; oder dessen Aufhebung, die einen radikalen Neubau am Karlsplatz zugelassen hätte, oder auch einen, der Elemente des Bestandes integriert, wie es im Wettbewerb einige Projekte vorgeschlagen hatten. Im Unterschied zu diesen Projekten, die offensichtlich nicht mit dem Denkmalschutz kompatibel waren, gelang es dem Siegerprojekt den Eindruck zu vermitteln, den Bestand fast unangetastet zu lassen.

Dieses Versprechen kann das Projekt in der Umsetzung nicht einlösen. Von der alten Substanz bleibt wenig übrig, Baukörperproportion und Raumabfolgen sind bestenfalls fragmentarisch erhalten, explizit geschützte Elemente wie der alte Lift werden funktionslos an eine andere Stelle versetzt, weil sie mit dem neuen Tragsystem kollidieren. Vom „Geist des Hauses“ wird trotz beachtlichen Aufwands nicht viel überleben. Ob unter diesen Umständen eine Kombination von Alt und Neu erreicht werden kann, die den angekündigten höchsten museologischen Ansprüchen genügt, wird man spätestens bei der Wiedereröffnung des Museums beurteilen können.

Überraschenderweise findet das Wien Museum auch prominente Erwähnung in der Stellungnahme der Unesco zum Stand des Welterbes Wien Innere Stadt, die gerade als Entwurf für die ab dem 16. Juli in Fuzhou in China geplante Sitzung des Welterbe-Komitees publiziert wurde. Neben dem Heumarkt-Areal wird dort die Entwicklung am Karlsplatz thematisiert und eine Neuplanung entsprechend den Empfehlungen der Unesco aus dem Jahr 2018 gefordert. Diese Forderung bezieht sich auf das benachbarte Gebäude der Zurich-Versicherung, das über zwei „Brücken“ direkt mit dem Museum verbunden ist. Im Ausgleich für den Abbruch dieser Brücken, der das Museum wieder als eigenständigen Baukörper freistellen würde, erhielt die Versicherung im Flächenwidmungsplan das Recht auf Aufstockung ihres Gebäudes um drei Etagen. Die Unesco kritisiert deren Auswirkung auf die Karlskirche, immerhin eine der wichtigsten Barockkirchen der Welt.

Wie die Stadt Wien auf die Idee kommt, den Beschluss-Entwurf der Unesco in einer Presseaussendung als „so positiv formuliert“ zu bezeichnen, dass mit einer Streichung von der „Roten Liste“ 2022 gerechnet werden darf, ist ein Rätsel, da alle bisherigen Forderungen der Unesco aufrechtbleiben und um methodische Vorgaben ergänzt wurden. Die Illusion, Stadt und Unesco würden sich in ihren Verhandlungen „auf halber Höhe“ treffen, wird sich nicht mehr lange aufrechterhalten lassen. Aber was passiert dann? Bisher ist das Projekt mit jedem Schritt der Weiterbearbeitung nur schlechter geworden. So schmerzlich das nach rund zehn Jahren auch sein mag: Nur ein Neustart, der von der Frage ausgeht, wie viel zusätzliches Bauvolumen diesem Ort zuzumuten ist, kann hier noch zu einem guten Ergebnis führe.

14. Juni 2021 Spectrum

Achtsam in den Untergang

Zwei Biennalen, ein Thema: Wie geht es weiter mit der Welt? In Venedig und im Wiener MAK bleibt es beim Problemaufriss und disparaten Antworten. Mehr Utopie ist in Zeiten der Pandemie wohl nicht zu erwarten.

Es hätte ein Wettbewerb der Utopien werden können: „How will we live together?“, lautete die Frage, die Hashim Sarkis der für 2020 geplanten Architekturbiennale als Leitthema voranstellte. Sarkis ist libanesisch-amerikanischer Architekt und Dekan der Architekturschule am MIT. Man durfte gespannt sein, ob es ihm gelingen würde, an das Niveau der jüngsten Biennalen anzuschließen: Rem Koolhaas' „Elements“ von 2014, Alejandro Avarrenas „Reporting from the Front“ von 2016 und „Freespace“ von 2018, geleitet von den irischen Architektinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara.

Jede seriöse Antwort auf die Frage, wie wir in Zukunft zusammenleben werden, muss mit der Frage nach dem „Wir“ beginnen. Wer ist gemeint: unsere Familie? Unsere Nachbarn? Unsere Landsleute? Alle mit ähnlichen Anschauungen? Zählen auch Tiere dazu? Alle Lebewesen im Kosmos? Die Reibung zwischen identitätspolitischen Aspekten der Fragestellung und der konkreten architektonischen und stadtplanerischen Antwort ließ eine spannende Biennale erwarten, mit Platz für Utopien und Dystopien. Dass bereits bei den Biennalen 2016 und 2018 ähnliche Themen angesprochen waren, hätte kein Hindernis sein müssen, hier nochmals in die Tiefe zu gehen.

Doch dann kam die Pandemie. Neben praktischen Problemen transportierte sie eine Botschaft, die für eine Veranstaltung, in der es im Kern um das Soziale in der Architektur gehen sollte, nicht kontraproduktiver sein könnte: Am sozialsten verhält sich, wer Social Distancing praktiziert. In diesem Umfeld Co-Housing-Projekte und partizipative Planungsprozesse zu debattieren bekommt leicht einen zynischen Unterton.

Man darf die aktuelle Biennale angesichts der Produktionsbedingungen nicht mit bisherigen vergleichen. Die Verschiebungen, zuerst auf Herbst 2020, dann auf Mai 2021, haben viel Energie gekostet und manches unmöglich gemacht. Nur ein sehr erfahrener Kurator hätte aus den außergewöhnlichen Umständen etwas Außergewöhnliches machen können. So bleibt es in den von Sarkis kuratierten Bereichen in den Giardini und im Arsenale bei einer losen Ansammlung von Installationen, von denen nur die wenigsten für sich überzeugen können. Und dann sind es oft wenig überraschende Beispiele wie die Präsentation des Raumlabor.Berlin oder eine Studie zum sozialen Wohnbau in Zürich von Anna Kockelkorn und Susanne Schindler und ihren Studierenden von der ETH Zürich.

In den Länderpavillons macht sich die Pandemie deutlich bemerkbar. Manche bleiben überhaupt geschlossen; an der Tür des australischen Pavillons klebt ein Zettel mit einem Hinweis auf die Website, die die Ausstellung ersetzt. Der Deutsche Pavillon bleibt leer, abgesehen von QR-Codes, die auf Filme verlinken, in denen aus der Perspektive des Jahres 2018 auf die Gegenwart geblickt wird. Der von Olaf Grawert und Arno Brandlhuber kuratierte Pavillon ist nicht der einzige, der auf aktive Teilnahme durch Besucher im Internet hofft, aber in dieser Hinsicht sicher der konsequenteste.

Im Österreichischen Pavillon geht es um neue Formen des Zusammenlebens im virtuellen Raum, die von den Kuratoren Helge Mooshammer und Peter Mörtenböck unter dem Begriff „Platform Urbanism“ zusammengefasst werden. Die digitalen Plattformen, um die es geht, sind jung, in der Regel nicht viel älter als 15 Jahre, bestimmen unser Leben aber in einem beachtlichen, durch die Pandemie weiter gesteigerten Ausmaß. Mooshammer und Mörtenböck interessieren sich nicht nur für die freundliche Vorderseite von Amazon, Google, Facebook oder Tinder, die mit ihren Headquarters eine neue Welt repräsentieren und ganze Stadtteile entwickeln wollen, in denen sie Zugriff auf die von den Bewohnern erzeugten Bewegungsdaten bekommen. Zusätzlich geht es den Kuratoren um die stadträumlichen Seiteneffekte: Leerstand von Verkaufsflächen, Arbeitsbedingungen von Zustellern, Serverfarmen im Nirgendwo. Aus Tausenden Bildern, die in Summe eine Ahnung geben, wohin sich die Stadt als Idee entwickeln könnte, haben die Kuratoren ein Diptychon gestaltet, das die Vorder- und Rückseite der Plattformen illustriert.

In der Ausstellung kombinieren Mooshammer und Mörtenböck die Ergebnisse ihrer langjährigen Forschungsarbeit zum Thema mit Beiträgen von rund 50 geladenen Respondenten, deren Beiträge aus jeweils einem einprägsamen Foto und einer kurzen Videosequenz bestehen. Diese konventionelle Vermittlung steht in einem gewissen Widerspruch zum Thema; sie ist aber im Interesse der Besucher, die mit 3-D-Brillen oder interaktiven Projektionen auch nicht mehr Erkenntnisgewinn verbuchen könnten. Der Österreichische Pavillon hat eine Außenstelle bei der „Vienna Biennale for Change“ des MAK, deren Hauptausstellung unter dem Titel „Planet Love. Klimafürsorge im digitalen Zeitalter“ noch bis Anfang Oktober zu sehen ist. Sie besteht aus drei Teilen, von denen zwei jedenfalls empfehlenswert sind: ein Problemaufriss, der anschaulich zeigt, dass wir seit 50 Jahren alles Nötige über die ökologische Katastrophe wissen, ohne ausreichend zu reagieren, sowie eine gut recherchierte, dichte Sammlung aktueller Lösungsansätze. Der dritte Teil ist purer Kitsch: ein Wald verkohlter Bäume mit einer Oase im Zentrum, das Werk einer Künstlergruppe mit Namen Superflux.

Solche Pseudokunst durchsetzt auch die Biennale in Venedig, etwa in Form von dröhnenden Riesenkanistern, die auf den Rückgang des Polareises hinweisen sollen, oder eines aus Japan importierten Schneehaufens, der im Hauptpavillon unter einer Schutzdecke vor sich hinschmilzt. Wer in Venedig wirklich bewegende Kunst sehen will, sollte die Videoinstallation „Contrapposto Studies“ von Bruce Nauman im Pinault-Museum in der Punta della Dogana besuchen: Das Problem ist nicht irgendwo draußen, sondern in uns, immer zerrisseneren Gestalten, die auf der Stelle treten.

Zum Trost kann man aus dem Österreichischen Pavillon einen Slogan mitnehmen, der Mark Zuckerbergs berüchtigtes Motto „Move fast and break things“ ins Gegenteil verkehrt: „Move slowly and fix things“ – eine Aufforderung zu Achtsamkeit und einer gewissen Skepsis gegenüber der rasenden, technologiegetriebenen Ökologisierung, die uns bevorstehen könnte.

13. Mai 2021 Spectrum

Bauen in Poesie – auch in Wien

Wer die Erderwärmung bis 2050 beschränken will, muss das Bauen revolutionieren. Eine hohe Baukultur heißt, Häuser so zu entwerfen, dass sie von ihren Nutzern über Jahrzehnte geliebt und gepflegt werden. Die gute Nachricht: Solche Häuser finden sich etwa im Sonnwendviertel hinter dem Hauptbahnhof.

Muss, wer ein Haus baut, über die Erde nachdenken? Nicht über den Baugrund, wohlgemerkt, sondern über die Erde als Ganzes. Es hat 50 Jahre gedauert, bis sich Bauherren und Architekten zu einem zögerlichen „Ja“ durchgerungen haben. Die Fakten sind inzwischen bekannt. Wer die Erderwärmung bis 2050 auf das vereinbarte Ziel beschränken will, muss das Bauen revolutionieren, damit die Erde eine gute Wohnung bleiben kann. Bauen ist für ein Drittel der treibhausrelevanten Emissionen verantwortlich und für fast zwei Drittel des Abfalls. Vermeidbarer Verkehr, der durch schlechte Siedlungsstrukturen entsteht, noch nicht eingerechnet. In welche Richtung die Entwicklung geht, wissen wir seit Anfang der 1970er-Jahre, als erstmals über die „Grenzen des Wachstums“ geschrieben wurde. Dass E. F. Schumachers Buch „Small is beautiful“ auch einen Untertitel hatte, der auf den Kern des Problems verweist, wird oft übersehen: „A study of economics as if people mattered“.

Der Gedanke, die „Erde als eine gute Wohnung“ zu verstehen, stammt vom Architekten Bruno Taut, der 1920 ein gleichnamiges Buch publizierte, dessen andere Titel „Die Auflösung der Städte“ und „Der Weg zur alpinen Architektur“ waren. Taut, kein Fantast, sondern der Architekt einiger der besten sozialen Wohnbauten und Siedlungen seiner Zeit, ließ in diesem Buch seiner Fantasie freien Lauf. In dreißig Zeichnungen skizzierte er Stadtkronen und Blumenstädte, die sich über die Erde ausbreiten, aber auch kristallin gefaltete Typenhäuser, die Individualität garantieren sollen. In diesen Skizzen imaginierte Taut eine neue Lebens- und Bauweise für das zweite Jahrtausend. Konsequenterweise folgen im Buch auf die 30 Bildtafeln über hundert Seiten mit nachgedruckten revolutionären Texten von Engels bis zu Tolstoi und Kropotkin.

Taut war nicht der Einzige, der in dieser Zeit mit der Idee Aufmerksamkeit erregte, Kunst als Mittel zur Revolutionierung der Gesellschaft zu verstehen. Zu seinen Freunden zählte Walter Gropius, 1918 Mitgründer des Arbeitsrats für Kunst und ab 1919 Direktor des Bauhauses, einer Kunsthochschule, die zuerst in Weimar und ab 1926 in Dessau angesiedelt war. Das von ihm entworfene Bauhausgebäude in Dessau ist ein Schlüsselwerk des funktionalistischen internationalen Stils. Mit anarchisch aufgelösten Städten und fantastischen neuen Wohnwelten hat es freilich nichts zu tun: Ab den frühen 1920er-Jahren träumte Gropius von Wohnmaschinen für das Existenzminimum, hergestellt in Fertigteilbauweise.

Dass in der Europäischen Union die Idee eines „Neuen Bauhauses für Europa“ umgeht, ist daher etwas überraschend. Niemand geringerer als Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat die Idee in einer Rede Anfang des Jahres lanciert, gewissermaßen als das Gesicht des Green New Deal, der nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein kulturelles Projekt werden müsse, um Erfolg zu haben. Als treibende Kraft im Hintergrund gilt der deutsche Umweltforscher Hans Joachim Schellnhuber. Ob das Neue Bauhaus ein konkreter Ort, ein Netzwerk von Orten oder eine abstrakte Idee sein wird, muss erst geklärt werden; die Kommission stellt dafür über einen laufenden Call rund 30 Millionen Euro zur Verfügung. Dass die EU das Bauen endlich als kulturelles und nicht mehr nur als technisches, ökologisches und ökonomisches Thema anerkennt, ist trotzdem ein wichtiger Schritt. Eine hohe Baukultur bedeutet, Häuser so schön und zugleich so anpassungsfähig zu entwerfen, dass sie von ihren Bewohnern, Nutzern und Nachbarn über viele Jahrzehnte geliebt und gepflegt werden.

Ein Ort in Wien, an dem sich viele neue Häuser finden, die dieses Potenzial haben, ist das Sonnwendviertel Ost hinter dem Wiener Hauptbahnhof. An der zentralen Straße des Quartiers, der Bloch-Bauer-Promenade, haben die Architekten Anna Popelka und Georg Poduschka (PPAG) für den Bauträger 6b47 ein bemerkenswertes Haus entworfen. Auf seine Lage zwischen Hauptstraße und Park reagiert es mit zwei unterschiedlichen Gesichtern, einem städtisch-kompakten auf der einen und einem zur Sonne hin aufgelösten auf der anderen Seite. Die Wohnungen sind im Grundriss so angelegt, dass Wohn- und Schlafzimmer einen großen Balkon L-förmig umfassen, der sich bei Bedarf durch Vorhänge in ein „Außenzimmer“ verwandelt. Die Staffelung der Wohnungen sorgt dafür, dass alle einen freien Blick zum Park haben, und gibt der Fassade eine Leichtigkeit, die durch zarte Rundsäulen verstärkt wird, die nicht tragend sind, sondern für die Balkonentwässerung sorgen. Auf dieses banale Problem, an dem in Wien nicht wenige Planer scheitern, eine so poetische Antwort zu finden ist eine Leistung.

Die konsequente Ausrichtung der gestaffelten Wohnungen zum Park führt im Grundriss zu einer Innengang-Erschließung mit einem Treppenhaus, das über zwei Lichthöfe belichtet wird. Ursprünglich waren entlang des Innengangs weitere Schächte geplant, von denen aber nur einer realisiert wurde. Die Gänge hätten weniger lang ausfallen können, hätte man an ihren Enden größere Wohnungen angelegt. Dem stand das Anliegen des Bauträgers und des Investors entgegen, das Vermietungsrisiko zu minimieren. Zweizimmerwohnungen mit 30 bis 60 Quadratmeter finden meist Abnehmer, und so liegt die Durchschnittsgröße der Wohnungen in diesem Haus bei rund 50 Quadratmetern. Die Grenzen der Ökonomie zeigten sich auch bei der Konstruktion. Ursprünglich als Kombination aus Stahl und Holz geplant, kam schließlich eine konventionelle Konstruktion aus Stahlbeton zum Zug.

Trotzdem lebt in diesem Projekt noch einiges von der Poesie weiter, die Bruno Taut vor 100 Jahren für das „zweite Jahrtausend“ imaginiert hat. In den nächsten Jahren werden wir sehen, ob sich die Architektur weiter an die Grenzen von Ökonomie und Technik anpassen muss, oder ob sich neue ökonomische Modelle und Technologien finden, die so etwas wie Baukunst im 21. Jahrhundert erlauben. Das „Neue Bauhaus für Europa“ wird ein ganz anderes sein müssen als sein historischer Vorgänger: Das funktionalistische Denken, dem sich das Bauhaus unter Gropius verschrieb, hat viel zu dem Schlamassel beigetragen, in dem wir uns heute befinden.

17. April 2021 Spectrum

Wo geht’s zur Zukunft des Bauens?

So wie das Recht und die Gesundheit darf auch der Raum nicht der völligen Kommerzialisierung überlassen werden. Eine Novelle des Ziviltechnikergesetzes und ihre Folgen.

Eine der schönsten Beschreibungen städtischen Lebens stammt von Robert Musil: Alle großen Städte bestünden aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander und glichen im Ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht. Häuser und Gesetze sind tatsächlich träge, aber auch sie ändern sich, und wenn man ihre Entwicklung im Zeitraffer betrachtet, sind diese Änderungen nicht weniger sprunghaft und von Verschiebungen und Verstimmungen geprägt als das Leben selbst. Ihre Wirkung ist nicht sofort spürbar. Gesetze werden beschlossen, Häuser gebaut, und oft dauert es Jahrzehnte, bis Fehlkonstruktionen Wirkung zeigen und als Bauschäden oder gesellschaftliche Verwerfungen zum Vorschein kommen.Vergangene Woche beschloss der Nationalrat eine Novellierung des österreichischen Ziviltechnikergesetzes, die nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs nötig geworden war. Im Kern geht es um die Frage, wie sich Ziviltechniker, zu denen als Untergruppen Architekten und Ingenieurkonsulenten zählen, mit anderen wirtschaftlichen Akteuren zusammenschließen dürfen. Die EU fährt in dieser Frage eine liberale Linie: Was spricht dagegen, dass Architekten mit ausführenden Unternehmen eine GmbH gründen, um ihre Dienste aus einer Hand anbieten zu können?

Ziviltechnikerinnen und Ziviltechniker sind allerdings keine gewerblichen Unternehmer, sondern zählen zu den in Österreich sogenannten „Freien Berufen“, zu denen auch Ärzte, Notare und Rechtsanwälte gehören. Sie erbringen ihre Leistungen persönlich, eigenverantwortlich und fachlich unabhängig im Interesse ihrer Auftraggeber und der Allgemeinheit. „Frei“ sind sie insofern, als sie nicht der Gewerbeordnung unterstehen; abgesehen davon sind sie gerade nicht frei, sondern gebunden an hohe Ausbildungsstandards und an die Mitgliedschaft in einer berufsständischen Vertretung, die diese Standards durch zusätzliche Prüfungen absichert. Ziviltechniker sind berechtigt, öffentliche Urkunden auszustellen, womit sie gewissermaßen als „technische Notare“ agieren, die ausgelagerte Behördentätigkeiten übernehmen. Schon bisher konnten sich Ziviltechniker zu GmbHs zusammenschließen. Das neue Gesetz erlaubt nun eine neue Kategorie von sogenannten „Interdisziplinären Gesellschaften“, an denen Ziviltechniker nur noch mindestens 50 Prozent der Anteile halten müssen. Die anderen 50 Prozent können von einem ausführenden Unternehmen,beispielsweise einem Baukonzern, gehalten werden. Die Ziviltechniker in solchen Gesellschaften werden sich kaum verweigern können, Beurkundungen für Projekte durchzuführen, die von ihren Gesellschaftern errichtet wurden, ein klassischer Fall eines Interessenkonflikts. Zum Selbstbild von Ziviltechnikern gehört außerdem, die Interessen von Bauherren, Nutzern und Öffentlichkeit an erste Stelle zu setzen, während Unternehmen grundsätzlich profitorientiert agieren. Als Bollwerk gegen die Kommerzialisierung des Bauens sind Interdisziplinäre Gesellschaften wohl kaum geeignet. Im Vorfeld der Beschlussfassung der Gesetzesnovelle versuchte die Berufsvertretung, „Gold-Plating“, also die Übererfüllung der EU-Vorgaben, zu korrigieren. Eine Beteiligungsmöglichkeit von Interdisziplinären Gesellschaften an „normalen“ ZT-Gesellschaften, die durch Verschachtelung eine völlige Verwässerung des „ZT-Anteils“ ermöglicht hätte, konnte abgewendet werden; die Beurkundungsfähigkeit blieb den Interdisziplinären allerdings erhalten. Bedeutet diese Entwicklung den Anfang vom Ende der Architektur? Natürlich nicht. Der Witz, dass das Architekturbüro der Zukunft eine Rechtsanwaltskanzlei mit angeschlossenem Zeichenraum sei, kursiert schon seit einem Vierteljahrhundert. Aber es geht hier um für sich genommen kleine Verschiebungen, die in Summe und auf lange Sicht betrachtet die Machtverhältnisse zugunsten eines rein wirtschaftlichen Denkens verändern.

In diese Richtung geht auch der Versuch, Bauprojekte durch sogenannte Totalunternehmer abwickeln zu lassen, die Planung und Ausführung zu einem Fixpreis übernehmen und für die Planung Architekten als Subunternehmer heranziehen. In dieser Konstellation ist die Idee eines „Freien Berufs“, der nicht nur die Interessen des unmittelbaren Auftraggebers, sondern auch jene der Öffentlichkeit beachtet, obsolet. Ein Experiment in diese Richtung läuft derzeit in Tirol beim Projekt eines neuen Universitätsgebäudes für das Management Center Innsbruck. Nachdem ein in einem Architekturwettbewerb ausgewähltes Projekt aus zweifelhaft argumentierten Kostengründen verworfen worden war, kam nun als Totalunternehmer ein Baukonzern zum Zug, der vorerst nicht mehr garantiert als ein Stück Universität mit 16.000 Quadratmeter Nutzfläche zum Preis von 103 Millionen Euro. Das Projekt wird im Rahmen eines „wettbewerblichen Dialogs“ gesucht, einem Typ von Verfahren, der im Vergaberecht eigentlich nur für technisch hoch komplexe Infrastrukturprojekte vorgesehen ist. Im konkreten Fall sollen nach einer offenen Ausschreibung 30 Teilnehmer geladen werden, aus denen eine Jury acht auswählt, die nach Aufhebung der Anonymität mit der Jury in einen Dialog treten, an dem der Totalunternehmer als Berater mitwirkt. In diesem Dialog werden die Projekte so lange weiterentwickelt, bis – idealerweise – ein Gleichgewicht von Qualität und Kosten hergestellt ist. Praktisch sieht das anders aus: Wer die Kosten garantiert, bestimmt die Qualität – und den eigenen Profit. Verstärkt werden diese Trends durch die Digitalisierung des Bauwesens, die mit immer anspruchsvolleren Datenmodellen versucht, die Planung, das Bauen und den Betrieb von Gebäuden in einen kontinuierlichen Prozess zu integrieren. In den falschen Händen führt das zu einem seriellen Bauen auf dem Niveau des alten Plattenbaus. Das Potenzial, Bauteile und bald ganze Häuser im 3-D-Druck herzustellen, ist aber nicht zu unterschätzen. In diesem Bereich mag es sinnvoll sein, Planung und Ausführung zu verschmelzen. „Interdisziplinäre Gesellschaften“ könnten hier einen Beitrag dazu leisten, das Bauen zu revolutionieren.
Selbst mittelfristig wird das aber nur für ein paar Prozent des Bauvolumens relevant sein. Der große Rest ist weiterhin besser in den Händen eines „Freien Berufs“ aufgehoben. So wie Recht und Gesundheit ist auch der Raum zu wichtig, um ihn der völligen Kommerzialisierung zu überlassen.

Publikationen

2025

Neue Lernwelten
Impulsgebende Schulen und Kindergärten in Österreich

In den letzten 15 Jahren sind in Österreich zahlreiche Bildungsbauten entstanden, die Impulse für neue Lernwelten jenseits der traditionellen Gangschule geben. Hinter dieser Entwicklung stehen gemeinsame Bemühungen von Akteur*innen aus Pädagogik, Architektur und öffentlicher Verwaltung, Bildungsräume
Hrsg: Christian Kühn, ÖISS — Österreichisches Institut für Schul- und Sportstättenbau
Verlag: JOVIS

2018

Operation Goldesel
Texte über Architektur und Stadt 2008–2018

Christian Kühns Texte sprechen auch Leser an, die mit Architektur nicht beruflich befasst sind. Sie schätzen daran, dass er Architektur nicht als zweckmäßigen Hintergrund oder als Bühne sieht, sondern als Idee, als Traum oder als verschlungenen Weg einer Projektgeschichte: vom ersten Entwurf über den
Autor: Christian Kühn
Verlag: Birkhäuser Verlag

2008

Ringstraße ist überall
Texte über Architektur und Stadt 1992-2007

Warum vergolden die Österreicher ihre Baudenkmäler selbst dann, wenn sie zu Staub zerfallen? Wieso bauen die Deutschen ihren Automobilen Tempel? Und was passiert, wenn Ernst Neufert in Graz auf Buster Keaton trifft? Seit 1992 bereichern die Texte Christian Kühns im Feuilleton der Tageszeitung „Die Presse“,
Autor: Christian Kühn
Verlag: SpringerWienNewYork

2007

Türme & Kristalle
Wettbewerb ehemalige Sternbrauerei Salzburg

Die Diskussion über die Möglichkeiten, an einer Stadt kreativ weiterzubauen, wird, wenn überhaupt, nur punktuell geführt. Als die Stadt noch von Planungsbehörden verordnet wurde, gab es dafür auch keinen Bedarf. Das ändert sich im Zeitalter, in dem private Investoren ganze Stadtteile entwickeln. Auf
Hrsg: Christian Kühn
Verlag: Verlag Anton Pustet