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Das Ende des Spektakels: Herzog & de Meurons Bau im Ruhrgebiet wirkt wie immer schon da gewesen
Die weltberühmten Architekten überraschen: Ihre Erweiterung für das Museum Küppersmühle für Moderne Kunst setzt auf Kontinuität. Es ist auch ein Manifest gegen die Oberflächlichkeit.
23. Oktober 2021 - Sabine von Fischer
Nein, antwortete der Taxifahrer, drinnen gewesen sei er noch nie. Das Museum steht seit mehr als zwanzig Jahren offen, einmal pro Woche ist der Eintritt für die Stadtbewohner von Duisburg frei. Dennoch überschreiten vor allem Besucherinnen und Besucher aus fernen Städten diese Schwelle, um Werke der grossen Maler und Bildhauer der Nachkriegszeit zu betrachten.
Die Anreise ist für die meisten weit: Erst fährt man durch Düsseldorf, später käme dann Essen. Irgendwo dazwischen liegt Duisburg: eine Halbmillionenstadt im Ruhrgebiet, die bisher weder für eine Kunstakademie noch für ein Museum, nicht einmal für ein Industriedenkmal bekannt war. Mit der Erweiterung wird das Museum in der ehemaligen Mühle, die seit ihrer Gründung 1860 über ein Jahrhundert lang für Brot in der gesamten Gegend sorgte, zum Kunstversorger der Region. Nur, wenn das Ruhrgebiet diese Kunst braucht, wie bringt das Museum sie zu den Leuten?
Wie schon immer da gewesen
Gute zwanzig Kilometer entfernt liegt die Zeche Zollverein, die seit 2001 einen Unesco-Welterbe-Status innehat. Dort setzten Rem Koolhaas und sein Büro OMA entsprechend dem damaligen Zeitgeist ein spektakuläres Zeichen: Die Wucht der stillgelegten Bergwerksanlagen wurde mit der supermodernen Intervention einer überlangen Rolltreppe, die hinauf in die Kohlenwäscherei führt, dramatisch überzeichnet.
Herzog & de Meurons Erweiterungsbau für die Küppersmühle macht es ganz anders: Wie schon immer da gewesen wirkt das Gebäude der ehemaligen Mühle, in dem das Museum Küppersmühle für Moderne Kunst (MKM) untergebracht ist. Riesig ruht der Backsteinbau mit seinen prägnanten Silotürmen an einem stillgelegten Arm des Duisburger Innenhafens, der einst der grösste Binnenhafen Europas, womöglich der ganzen Welt war. Auf den ersten Blick deutet nur der aus über tausend handgeschnittenen Klinkern geformte, eingemauerte Schriftzug mit dem Namen des Museums darauf hin, dass hier etwas geschah. Die hart gebrannten Backsteinziegel fügen sich diskret in die industriell geprägte Umgebung ein.
Sind die Zeiten der wilden Formen vorbei, brillieren nun auch Stars mit subtilen Eingriffen? Die Basler Architekturstars H&deM, die in fast allen Weltstädten gebaut haben, wissen, was es heisst, grosse Publikumsströme durch eine Institution zu lenken. Hier aber ist die Geste nach aussen diskret. Ist dies etwa ein Privatmuseum? Natürlich nicht. Dieser privat finanzierte Bau ist öffentlich zugänglich und will in der internationalen Museumswelt mithalten, auch mit den anderen, fast gleichzeitig fertiggestellten Museumsneubauten von H&deM wie dem SongEun Art Space in Seoul und dem Kulturzentrum M+ in Hongkong.
Die wichtigste Referenz bleibt die Tate Modern in einem ehemaligen Elektrizitätswerk, die H&deM kurz vor der Jahrtausendwende gleichzeitig als Kunstmuseum im Duisburger Getreidespeicher planten. Beide sind riesige Backsteinbauten, die Grösse der Räume kommt auch der Kunst zugute. «Heroen» nennt Architekt Jacques Herzog die in der Sammlung Ströher zusammengetragenen Künstler: Baselitz, Penck, Kiefer, Richter, Götz, Knoebel und viele mehr. Einen so umfassenden Überblick über das Schaffen in der Nachkriegszeit zeigen nur wenige Museen in einem so breiten Querschnitt wie hier. Für diese eine Generation von Künstlern wurden die Ausstellungsflächen von 3600 auf 6100 Quadratmeter erweitert.
Kunst im Industriegebiet
Der Erweiterungsbau fügt sich in die Lücke zwischen den 45 Meter hohen Silotürmen und der Autobahn 59, wo bereits früher schon ein Anbau des Getreidespeichers stand. Sind es solche Reminiszenzen an die Vergangenheit, mit denen die hiesige Bevölkerung angesprochen werden könnte? Jacques Herzog erklärt mir unter einem grossen Baum vor dem Museumsrestaurant, wie die Städte im Ruhrgebiet keine Ränder hätten, vielmehr fast übergangslos zusammengewachsen seien. Und dass in diesem Siedlungsbrei Orte der Identifikation fehlten. Duisburg ist keine kulturaffine Stadt, die wichtigsten Arbeitgeber stellt immer noch die Industrie. Übrigens ist auch nur ein einziger der hier ausgestellten Künstler, der Bildhauer Michael Schoenholtz, hier geboren. Sein Leben spielte sich dann vor allem in Berlin ab, wo die meisten Künstler hinwollten.
Der Vater des Manns am Steuer meines Taxis war auch schon Taxifahrer, nachdem er seine Stelle bei Thyssen verloren hatte. Dort hatte schon der Grossvater gearbeitet. Mein Fahrer ist Duisburger der dritten Generation, aber im Museum war er noch nie. Aufgefallen ist ihm das Gebäude schon, allein wegen seiner Grösse. Die Infrastrukturbauten im Ruhrgebiet sind alle riesig, und über den stillgelegten Anlagen schwebt eine stille Melancholie. Rostige Kranbahnen säumen die Industrielehrpfade, neue Industrien nisten sich in teils bestehenden, teils neu gebauten Fabriken ein. Duisburg lebt weiterhin von und mit der Industrie, die Bevölkerungszahlen schrumpfen in diesem Kohle-Erz-Bergwerk-Gebiet zusammen mit den Arbeitsplätzen.
Gegenüber dem Museum Küppersmühle reihen sich nach einem Masterplan der britischen Koryphäe Sir Norman Foster generisch anmutende Bürohäuser entlang der Uferpromenade. Neue Möglichkeiten tun sich auf: Man könnte hier entlang dem Industrielehrpfad spazieren gehen, auch um den Umbau eines Kornspeichers für das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen von Ortner & Ortner zu sehen. Der Taxifahrer könnte ins Museum gehen – oder einfach nur unter einem Baum vor dem Museum die Landschaft betrachten.
Der gescheiterte Wolkenbügel
So unspektakulär, wie der Erweiterungsbau nun am Boden steht, war er nicht immer geplant. Wenige Jahre nach der Eröffnung des MKM im Gebäude der ehemaligen Mühle im Jahr 1999 wurde erstmals eine Erweiterung in Angriff genommen: Eine minimalistische, riesige Box hätte über den Silos schweben und weit in die Landschaft ausstrahlen sollen. Im Hinterkopf war diese Box vielleicht, dies gibt Jacques Herzog nachdenklich zu, eine Reminiszenz an die Kunstkiste, einen «krassen Betonklotz», den das junge Büro zur Mitte der 1990er Jahre für die Sammlung Grothe in Bonn plante. Er hätte die Nachkriegskunst beherbergt, die nun in Duisburg ausgestellt ist, weil das Ehepaar Ströher vor fünfzehn Jahren die ganze Sammlung des gebürtigen Duisburger Bauunternehmers Hans Grothe kaufte.
Mit den Kunstwerken sind auch die Architekten wieder nach Duisburg gekommen und haben ihr Projekt seither mehrmals verändert. Es scheint Jacques Herzog ernst mit der Bezeichnung des krassen Betonklotzes, er wiederholt sie und erklärt: «Die Kunstkiste war Ausdruck unserer Position, die in den 1990er Jahren im Gegensatz zum postmodernen Mainstream stand: eine radikale und rohe Architektur ohne jeden Firlefanz.» Die Kiste war ein Statement gegen Gustav Peichls postmodern-verspielte Volumen der Bonner Bundeskunsthalle.
Nur stand dieser Betonklotz in Bonn noch auf dem Boden. Die Kiste über dem Duisburger Museum sollte, wie einst El Lissitzkys Vision der «Wolkenbügel» für Moskau, hoch oben über der ehemaligen Mühle schweben. Diese Kunstkiste unter den Wolken wäre wohl zum postindustriellen Architekturspektakel Nummer zwei im Ruhrgebiet geworden, nach den Interventionen von OMA auf der Zeche Zollverein. Doch dann kam alles anders, die Stahlstruktur erwies sich, noch bevor sie auf die Silos aufgesetzt wurde, als zu schlecht gebaut, der Unternehmer ging in Konkurs und nahm auch gleich das Geld mit.
Die Kehrtwendung im Entwurf der Erweiterung kam unfreiwillig. Nach dem Fiasko in der Planung des Wolkenbügels gab es einen Neustart in mehrfacher Hinsicht. Für den verantwortlichen Partner Robert Hösl sind diese Projekte, pragmatisch gesehen, drei separate Nummern: Die erste für die Umnutzung der Mühle zum Museum trägt die Nummer 151 (1997–1999, damals beschäftigte das Büro gut 200 Mitarbeiter), die Nummer 301 geht als nicht realisiert in die Geschichte ein (2006–2011), die Nummer 433 (ab 2013 in der unterdessen über 500-köpfigen Firma geplant) wurde im September 2021 feierlich eröffnet.
Schleier aus Backstein
Projekt Nummer 433 beginnt mit der nun vollendeten Sanierung der Silotürme, die denkmalgerecht mit einem taubengrauen Schutzanstrich versehen sind, und schreibt die Geschichte der ehemaligen Mühle in abstrahierter Form gegen Osten, so nahe, wie das Bauen entlang der Autobahn erlaubt ist, weiter. Erst auf den zweiten Blick entdeckt man dort das besondere, aufwendig ausgetüftelte Mauerwerk.
Dieses neu zugefügte Backsteingewebe wirkt subtil. Es nimmt die Sprache des Ortes auf und erfindet sie gleichzeitig erst, lässt sie die alte Schwere abschütteln und verleiht ihr eine neue Würde. Jeder einzelne Ziegel wurde in zwei Hälften gespalten und mit den löchrigen Innenseiten nach aussen so vermauert, dass eine hohe Wand mit textiler Wirkung entsteht: Wie ein leichter Vorhang scheinen die porösen Backsteine sich um das Haus zu legen, schleierhaft nicht nur in ihrer Anmutung, sondern auch in ihrem Schwebezustand zwischen Schwere und Leichtigkeit. Wenige hohe Fensterschlitze durchbrechen diesen Schleier und setzen den Rhythmus der Fensterreihen der alten Mühle in vereinzelten Akzenten fort.
Das grosse Haus mit der grossen Kunst zu betreten, stimmt ehrfürchtig. Nicht nur sind hier berühmte Künstler in hoher Konzentration unter einem Dach, die Aura dieser Kunst wird durch den Kontrast zur tristen Umgebung noch verstärkt. Es ist eine Aura im Sinne Walter Benjamins: Wie am ersten Tag fühlt es sich an, in diesen grossen Räumen in eine andere Zeit einzutauchen, als die Künstler mit informellen Gesten die Schrecken ihrer Generation zu verarbeiten versuchten.
Nicht nur das Haus, auch die Räume sind gross. Spektakulär der neu geschaffene Hohlraum zwischen den hohen Silotürmen, der den vor über zwanzig Jahren sachte umgebauten Altbau mit der Erweiterung verbindet. Die grossen Räume beherbergen Reihen von kleineren Bildern, aber auch ausgreifende Gemälde wie jene von Gerhard Richter, dem hier, wie so vielen anderen, ein eigener Saal gewidmet ist.
Wer im Erdgeschoss die Wechselausstellung durchschritten hat, die derzeit einer monumentalen Schau von Andreas Gurskys grossformatigen Fotografien (bis 30. Januar 2022) gewidmet ist, findet auch den Weg zum zwar viel kleineren, aber längst nicht kleinen Raum mit mehreren Skulpturen und installativen Werken von Gerhard Hoehme, der im Zweiten Weltkrieg Jagdflieger war. Sein Werk erzählt von Körpern und Körperteilen, vom Versehren und Heilen. Nicht das Fliegen, vielmehr die Bodenhaftung, die jener Generation zuweilen verloren ging, ist auch das Thema dieser deutschen Nachkriegskunst.
Die Sammlung Ströher
Seit der Eröffnung des MKM 1999 ist Walter Smerling als Direktor verantwortlich für das Haus, und seit gut fünfzehn Jahren besteht die enge Zusammenarbeit mit dem Sammlerpaar Sylvia und Ulrich Ströher, deren MKM-Stiftung eng mit der in Bonn ansässigen Betreiberin des Museums, der Stiftung für Kunst und Kultur, kooperiert.
Die Ströhers haben auch massgeblich an der Neupräsentation ihrer Sammlung mitgewirkt. Bei der zufälligen Begegnung mit dem Sammlerpaar – ein Glücksfall, schliesslich meiden sie bewusst den Kontakt zu Presse und Öffentlichkeit – berichten die beiden stolz, dass ihre Tochter Kunstgeschichte studiere und ihre Aufgabe einmal übernehmen werde. Dies allerdings ist keine dringende Angelegenheit, denn gemessen am Umfang der hier versammelten Werke deutscher Nachkriegskunst sind die Sammler selbst noch ziemlich jung. 1987 kauften sie das erste der hier ausgestellten Bilder, ein Werk des 2000 verstorbenen Malers Walter Stöhrer, dem sie dann 2010 eine grosse Ausstellung widmeten.
Auch er gehört zur als deutsches Informel zusammengefassten Kunst der Nachkriegsjahre, die im MKM in einem grossen Panorama erfahren werden kann. Über 2000 Werke umfasst die Sammlung von Sylvia und Ulrich Ströher unterdessen, über 300 davon sind nun in Duisburg ausgestellt. Eine Besonderheit ihrer Sammlung ist die Konzentration auf wenige Künstler, die dafür mit mehreren Werken vertreten sind.
Sogar von Alfred Schulze, bekannt unter dem Kürzel Wols, hängen hier nebeneinander zwei Werke, obwohl er in seinem kurzen Leben keine vierzig geschaffen hat. Die hier zu sehenden jedenfalls waren seine beiden letzten, und es gibt vielleicht kein anderes Museum, das zwei Werke dieses Künstlers miteinander zeigen kann. Die Sammler sind schon die dritte Generation einer Familie, die als Sammlerdynastie in die deutsche Kunstgeschichte eingehen wird. Sie geht auf den Darmstädter Industriellen und Wella-Erben Karl Ströher zurück, dessen Besitz von amerikanischer Minimal und Pop Art beispielsweise die Gründung des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt ermöglichte.
Malerei, Bildhauerei und Fotografie sind allerdings nicht die einzigen Leidenschaften von Sylvia und Ulrich Ströher. Als sie 2013 in der Zeitung lasen, dass der Suhrkamp-Verlag in Schwierigkeiten sei, suchten sie den Kontakt – nicht hauptsächlich, aber auch wegen der Verbindung zu den Künstlern hier im Haus. Anselm Kiefer beispielsweise hatte bei Suhrkamp Bücher herausgegeben. Maler lassen sich von der Literatur inspirieren und vice versa, bei alledem bleiben die beiden Künste separate Genres. In beiden Sparten hat sich das Ehepaar Ströher mit seinem Engagement einen Namen gemacht.
Thematische Kontinuität
Kontinuität scheint ihnen wichtig, wie innerhalb der hier versammelten Werkzyklen spürbar wird. Im MKM sind viele der 36 teilweise riesigen Räume einem einzigen Künstler gewidmet: Dies ist möglich, weil das Ehepaar sich auf die Nachkriegsgeneration konzentriert. Der Direktor Walter Smerling schwärmt für diese Sammlung, denn aus der Vielfalt liessen sich die Eigenheiten der persönlichen Handschriften dieser Maler, vereinzelt auch Bildhauer ablesen. Vor allem tauche jeder dieser Räume dank solchen Zusammenhängen in eine eigene Atmosphäre, erklärt er mit Begeisterung. Nachbarschaften von Lehrern und Schülern, wie zum Beispiel K. O. Götz und Gerhard Richter, vertiefen dieses Beziehungsnetz. «Diese Vergleichsmöglichkeiten sind ausserordentlich und in kunsthistorischer Hinsicht einzigartig in dieser Dimension.»
Im dritten Obergeschoss des Neubaus ist Anselm Kiefers eigens für die Räume des MKM erarbeitete Installation aus Ästen und Steinen zu sehen – die Arbeit «Klingsors Garten» (2018) lässt fragen: Ist es ein Werk für diesen Raum oder ein Raum für dieses Werk? Beides.
Neuentdeckte Zurückhaltung
Während die Sammlung eine beeindruckende inhaltliche Tiefe erreicht, wirkt die Architektur mit allen Mitteln in der Höhe und der Tiefe des Raums. In den Ausstellungsbereichen bleibt die Gestaltung zurückhaltend, spielt einzig mit Raumsequenzen, tiefen Durchblicken und einzelnen Ausblicken. In den Treppenhäusern aber inszeniert sie die Körperhaftigkeit der Architektur. Wände und Stufen winden sich in Rundungen in die Höhe. Der terrakottafarbene Kunststein mit feiner Körnung, eingefärbt mit Klinkerschrot und Farbpigmenten, ist weich und fast lebendig, im an den Altbau angefügten Treppenhaus ebenso wie in der zweiten Version dieser Treppe im Neubau. Kein Bild hängt hier, kein Fenster zeigt die Welt draussen, dafür gibt es hier haptische Oberflächen. Als ob sie die Innereien, Lungen und Blutbahnen eines Organismus wären, werfen die Treppenhäuser in der alten Mühle die Besucherinnen und Besucher auf sich selbst zurück.
Genauso organisch, aber nicht aus rötlichem Kunststein, sondern aus dunkelrotem Samt sind die Treppen im Stadtcasino Basel, wo das gleiche Architekturbüro vor einem Jahr ebenfalls mit einer unscheinbaren Intervention Aufsehen erregte. Gemeinsam ist den Projekten für den Basler Musiksaal und das Duisburger Kunstmuseum aber vor allem, dass das erfolgreiche Büro nicht mehr mit spektakulären Formen, sondern mit auf den ersten Blick unsichtbaren Eingriffen brilliert.
Werden die Basler Architekturstars nun zu Meistern der Zurückhaltung? Nicht nur, antwortet Jacques Herzog: «Ich habe keine Vorliebe für diese oder jene Architektursprache. Es ist mir wichtig, eine möglichst breite Palette zu bespielen, nicht nach Lust und Laune, aber in präziser Reaktion auf eine bestimmte Aufgabenstellung. Hier bei der Küppersmühle ergab es Sinn, dass der Neubau sich in einer Addition anfügt und das, was schon da ist, in verwandter Art ergänzt: eben beinahe so, als ob es schon immer hier gewesen wäre.» Die Architektur bewirke, so Herzog, mit gezielten Eingriffen entscheidende Veränderungen. Er vergleicht dies mit Akupunktur. «Architektur kann Potenziale zum Leben bringen oder unterdrücken. Da spielt es eine Rolle, wo die Türe und wo die Fenster gesetzt sind, ob ein Museum als eine hermetische Kiste gebaut ist oder eben nicht. In diesem Museum gibt es unterschiedliche Durchsichten zwischen den Räumen und Aussichten zur Stadt und zum Hafen – auf jeder Seite.»
Als vor zehn Jahren der Wolkenbügel über dem Museum Küppersmühle mit einem Baustellen-Fiasko scheiterte, war das Drama um die Kostenüberschreitungen beim Bau der Elbphilharmonie noch nicht einmal am Horizont zu sehen. In Hamburg haben die Architekten ein spektakuläres Zeichen über den Dächern der Stadt gesetzt und sich, trotz viel politischem Trubel, um das neue Wahrzeichen der Stadt verdient gemacht.
Mit der Hamburger Situation lässt sich die Küppersmühle aber kaum vergleichen – in Duisburg würde ein Wolkenbügel über einem leeren Park schweben. Rückblickend gesteht Jacques Herzog ein: «Das eine Projekt hilft dir, das andere zu verstehen und auch kritisch zu betrachten. Heute denke ich, dass der Wolkenbügel skulptural sehr überzeugend wäre, aber er hätte noch viel mehr Leben hier vor Ort eingefordert. Wenn du eine Architektur machst und es dann kein Leben gibt, ist es schwierig, die Architektur selbst am Leben zu erhalten. Dann ist es besser, ein kompakteres Projekt zu machen, wo das Erlebnis erst im Innern stattfindet.» So ist es nun: Der Backsteinkoloss wirkt auch würdig, wenn keiner da ist.
Die fehlenden Frauen
Die Duisburger Sammlung und ihre Museumsarchitektur nehmen Kontinuität ernst und erreichen so viel Tiefe: in der kunsthistorisch-inhaltlichen genauso wie in der räumlich-konstruktiven Dimension. Aktuelle Trends wie Inklusion und Diversität, die den Rest der Welt in Atem halten, haben aber darin keinen Platz. Vor der versammelten Presse kritisiert Jacques Herzog anlässlich der Eröffnung, es sei ja alles wunderbar, nur ein paar Frauen mehr solle die Sammlung bitte zeigen. Nun, man könnte einige einladen, am besten nicht weisse, nicht alte und nicht je zuvor ausgestellte, zumindest für eine Wechselausstellung, und ihre Porträts auf Plakaten vergrössern, wie es zurzeit fast alle tun. Nur, was wäre damit gewonnen?
Hier ist nichts glatt. Die Sammlung erreicht mit der Konsequenz, sich mit einer einzigen Generation von Künstlern zu beschäftigen, eine enorme Tiefe. Die Architektur baut um sie herum aufgefächerte Wände aus aufgebrochenen Backsteinen. Globale Trends und Moden, Bestrebungen, möglichst viele Kontinente, Disziplinen oder Geschlechter mit einzuschliessen, bleiben hier aussen vor, darum geht es hier nicht.
Immerhin ist jeden Donnerstag der Museumseintritt frei. Das ist weit wichtiger als eine oberflächliche Korrektur der bisherigen Geschichtsschreibung. An einem Tag pro Woche dürfen sie alle umsonst dieses Museum betreten: die lokale Bevölkerung dieser sich entvölkernden Industrieregion, von deren Angehörigen die meisten weder mit der Nachkriegskunst noch mit der Genderdebatte eine Auseinandersetzung pflegen. Diese auch im Kleinen gewaltige Präsentation aber macht das Leiden und das Hoffen einer früheren Generation ganz ohne Vorbildung, durch die Kunst selbst spürbar.
Das Museum Küppersmühle ist, im wörtlichen und im bildhaften Sinn, ein Manifest gegen die Oberflächlichkeit. Es bleibt zu wünschen, dass diese Ernsthaftigkeit den Kontakt zum Ort aufzubauen vermag und auch mein Taxifahrer das Innere der alten Mühle anschauen kommt.
Die Anreise ist für die meisten weit: Erst fährt man durch Düsseldorf, später käme dann Essen. Irgendwo dazwischen liegt Duisburg: eine Halbmillionenstadt im Ruhrgebiet, die bisher weder für eine Kunstakademie noch für ein Museum, nicht einmal für ein Industriedenkmal bekannt war. Mit der Erweiterung wird das Museum in der ehemaligen Mühle, die seit ihrer Gründung 1860 über ein Jahrhundert lang für Brot in der gesamten Gegend sorgte, zum Kunstversorger der Region. Nur, wenn das Ruhrgebiet diese Kunst braucht, wie bringt das Museum sie zu den Leuten?
Wie schon immer da gewesen
Gute zwanzig Kilometer entfernt liegt die Zeche Zollverein, die seit 2001 einen Unesco-Welterbe-Status innehat. Dort setzten Rem Koolhaas und sein Büro OMA entsprechend dem damaligen Zeitgeist ein spektakuläres Zeichen: Die Wucht der stillgelegten Bergwerksanlagen wurde mit der supermodernen Intervention einer überlangen Rolltreppe, die hinauf in die Kohlenwäscherei führt, dramatisch überzeichnet.
Herzog & de Meurons Erweiterungsbau für die Küppersmühle macht es ganz anders: Wie schon immer da gewesen wirkt das Gebäude der ehemaligen Mühle, in dem das Museum Küppersmühle für Moderne Kunst (MKM) untergebracht ist. Riesig ruht der Backsteinbau mit seinen prägnanten Silotürmen an einem stillgelegten Arm des Duisburger Innenhafens, der einst der grösste Binnenhafen Europas, womöglich der ganzen Welt war. Auf den ersten Blick deutet nur der aus über tausend handgeschnittenen Klinkern geformte, eingemauerte Schriftzug mit dem Namen des Museums darauf hin, dass hier etwas geschah. Die hart gebrannten Backsteinziegel fügen sich diskret in die industriell geprägte Umgebung ein.
Sind die Zeiten der wilden Formen vorbei, brillieren nun auch Stars mit subtilen Eingriffen? Die Basler Architekturstars H&deM, die in fast allen Weltstädten gebaut haben, wissen, was es heisst, grosse Publikumsströme durch eine Institution zu lenken. Hier aber ist die Geste nach aussen diskret. Ist dies etwa ein Privatmuseum? Natürlich nicht. Dieser privat finanzierte Bau ist öffentlich zugänglich und will in der internationalen Museumswelt mithalten, auch mit den anderen, fast gleichzeitig fertiggestellten Museumsneubauten von H&deM wie dem SongEun Art Space in Seoul und dem Kulturzentrum M+ in Hongkong.
Die wichtigste Referenz bleibt die Tate Modern in einem ehemaligen Elektrizitätswerk, die H&deM kurz vor der Jahrtausendwende gleichzeitig als Kunstmuseum im Duisburger Getreidespeicher planten. Beide sind riesige Backsteinbauten, die Grösse der Räume kommt auch der Kunst zugute. «Heroen» nennt Architekt Jacques Herzog die in der Sammlung Ströher zusammengetragenen Künstler: Baselitz, Penck, Kiefer, Richter, Götz, Knoebel und viele mehr. Einen so umfassenden Überblick über das Schaffen in der Nachkriegszeit zeigen nur wenige Museen in einem so breiten Querschnitt wie hier. Für diese eine Generation von Künstlern wurden die Ausstellungsflächen von 3600 auf 6100 Quadratmeter erweitert.
Kunst im Industriegebiet
Der Erweiterungsbau fügt sich in die Lücke zwischen den 45 Meter hohen Silotürmen und der Autobahn 59, wo bereits früher schon ein Anbau des Getreidespeichers stand. Sind es solche Reminiszenzen an die Vergangenheit, mit denen die hiesige Bevölkerung angesprochen werden könnte? Jacques Herzog erklärt mir unter einem grossen Baum vor dem Museumsrestaurant, wie die Städte im Ruhrgebiet keine Ränder hätten, vielmehr fast übergangslos zusammengewachsen seien. Und dass in diesem Siedlungsbrei Orte der Identifikation fehlten. Duisburg ist keine kulturaffine Stadt, die wichtigsten Arbeitgeber stellt immer noch die Industrie. Übrigens ist auch nur ein einziger der hier ausgestellten Künstler, der Bildhauer Michael Schoenholtz, hier geboren. Sein Leben spielte sich dann vor allem in Berlin ab, wo die meisten Künstler hinwollten.
Der Vater des Manns am Steuer meines Taxis war auch schon Taxifahrer, nachdem er seine Stelle bei Thyssen verloren hatte. Dort hatte schon der Grossvater gearbeitet. Mein Fahrer ist Duisburger der dritten Generation, aber im Museum war er noch nie. Aufgefallen ist ihm das Gebäude schon, allein wegen seiner Grösse. Die Infrastrukturbauten im Ruhrgebiet sind alle riesig, und über den stillgelegten Anlagen schwebt eine stille Melancholie. Rostige Kranbahnen säumen die Industrielehrpfade, neue Industrien nisten sich in teils bestehenden, teils neu gebauten Fabriken ein. Duisburg lebt weiterhin von und mit der Industrie, die Bevölkerungszahlen schrumpfen in diesem Kohle-Erz-Bergwerk-Gebiet zusammen mit den Arbeitsplätzen.
Gegenüber dem Museum Küppersmühle reihen sich nach einem Masterplan der britischen Koryphäe Sir Norman Foster generisch anmutende Bürohäuser entlang der Uferpromenade. Neue Möglichkeiten tun sich auf: Man könnte hier entlang dem Industrielehrpfad spazieren gehen, auch um den Umbau eines Kornspeichers für das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen von Ortner & Ortner zu sehen. Der Taxifahrer könnte ins Museum gehen – oder einfach nur unter einem Baum vor dem Museum die Landschaft betrachten.
Der gescheiterte Wolkenbügel
So unspektakulär, wie der Erweiterungsbau nun am Boden steht, war er nicht immer geplant. Wenige Jahre nach der Eröffnung des MKM im Gebäude der ehemaligen Mühle im Jahr 1999 wurde erstmals eine Erweiterung in Angriff genommen: Eine minimalistische, riesige Box hätte über den Silos schweben und weit in die Landschaft ausstrahlen sollen. Im Hinterkopf war diese Box vielleicht, dies gibt Jacques Herzog nachdenklich zu, eine Reminiszenz an die Kunstkiste, einen «krassen Betonklotz», den das junge Büro zur Mitte der 1990er Jahre für die Sammlung Grothe in Bonn plante. Er hätte die Nachkriegskunst beherbergt, die nun in Duisburg ausgestellt ist, weil das Ehepaar Ströher vor fünfzehn Jahren die ganze Sammlung des gebürtigen Duisburger Bauunternehmers Hans Grothe kaufte.
Mit den Kunstwerken sind auch die Architekten wieder nach Duisburg gekommen und haben ihr Projekt seither mehrmals verändert. Es scheint Jacques Herzog ernst mit der Bezeichnung des krassen Betonklotzes, er wiederholt sie und erklärt: «Die Kunstkiste war Ausdruck unserer Position, die in den 1990er Jahren im Gegensatz zum postmodernen Mainstream stand: eine radikale und rohe Architektur ohne jeden Firlefanz.» Die Kiste war ein Statement gegen Gustav Peichls postmodern-verspielte Volumen der Bonner Bundeskunsthalle.
Nur stand dieser Betonklotz in Bonn noch auf dem Boden. Die Kiste über dem Duisburger Museum sollte, wie einst El Lissitzkys Vision der «Wolkenbügel» für Moskau, hoch oben über der ehemaligen Mühle schweben. Diese Kunstkiste unter den Wolken wäre wohl zum postindustriellen Architekturspektakel Nummer zwei im Ruhrgebiet geworden, nach den Interventionen von OMA auf der Zeche Zollverein. Doch dann kam alles anders, die Stahlstruktur erwies sich, noch bevor sie auf die Silos aufgesetzt wurde, als zu schlecht gebaut, der Unternehmer ging in Konkurs und nahm auch gleich das Geld mit.
Die Kehrtwendung im Entwurf der Erweiterung kam unfreiwillig. Nach dem Fiasko in der Planung des Wolkenbügels gab es einen Neustart in mehrfacher Hinsicht. Für den verantwortlichen Partner Robert Hösl sind diese Projekte, pragmatisch gesehen, drei separate Nummern: Die erste für die Umnutzung der Mühle zum Museum trägt die Nummer 151 (1997–1999, damals beschäftigte das Büro gut 200 Mitarbeiter), die Nummer 301 geht als nicht realisiert in die Geschichte ein (2006–2011), die Nummer 433 (ab 2013 in der unterdessen über 500-köpfigen Firma geplant) wurde im September 2021 feierlich eröffnet.
Schleier aus Backstein
Projekt Nummer 433 beginnt mit der nun vollendeten Sanierung der Silotürme, die denkmalgerecht mit einem taubengrauen Schutzanstrich versehen sind, und schreibt die Geschichte der ehemaligen Mühle in abstrahierter Form gegen Osten, so nahe, wie das Bauen entlang der Autobahn erlaubt ist, weiter. Erst auf den zweiten Blick entdeckt man dort das besondere, aufwendig ausgetüftelte Mauerwerk.
Dieses neu zugefügte Backsteingewebe wirkt subtil. Es nimmt die Sprache des Ortes auf und erfindet sie gleichzeitig erst, lässt sie die alte Schwere abschütteln und verleiht ihr eine neue Würde. Jeder einzelne Ziegel wurde in zwei Hälften gespalten und mit den löchrigen Innenseiten nach aussen so vermauert, dass eine hohe Wand mit textiler Wirkung entsteht: Wie ein leichter Vorhang scheinen die porösen Backsteine sich um das Haus zu legen, schleierhaft nicht nur in ihrer Anmutung, sondern auch in ihrem Schwebezustand zwischen Schwere und Leichtigkeit. Wenige hohe Fensterschlitze durchbrechen diesen Schleier und setzen den Rhythmus der Fensterreihen der alten Mühle in vereinzelten Akzenten fort.
Das grosse Haus mit der grossen Kunst zu betreten, stimmt ehrfürchtig. Nicht nur sind hier berühmte Künstler in hoher Konzentration unter einem Dach, die Aura dieser Kunst wird durch den Kontrast zur tristen Umgebung noch verstärkt. Es ist eine Aura im Sinne Walter Benjamins: Wie am ersten Tag fühlt es sich an, in diesen grossen Räumen in eine andere Zeit einzutauchen, als die Künstler mit informellen Gesten die Schrecken ihrer Generation zu verarbeiten versuchten.
Nicht nur das Haus, auch die Räume sind gross. Spektakulär der neu geschaffene Hohlraum zwischen den hohen Silotürmen, der den vor über zwanzig Jahren sachte umgebauten Altbau mit der Erweiterung verbindet. Die grossen Räume beherbergen Reihen von kleineren Bildern, aber auch ausgreifende Gemälde wie jene von Gerhard Richter, dem hier, wie so vielen anderen, ein eigener Saal gewidmet ist.
Wer im Erdgeschoss die Wechselausstellung durchschritten hat, die derzeit einer monumentalen Schau von Andreas Gurskys grossformatigen Fotografien (bis 30. Januar 2022) gewidmet ist, findet auch den Weg zum zwar viel kleineren, aber längst nicht kleinen Raum mit mehreren Skulpturen und installativen Werken von Gerhard Hoehme, der im Zweiten Weltkrieg Jagdflieger war. Sein Werk erzählt von Körpern und Körperteilen, vom Versehren und Heilen. Nicht das Fliegen, vielmehr die Bodenhaftung, die jener Generation zuweilen verloren ging, ist auch das Thema dieser deutschen Nachkriegskunst.
Die Sammlung Ströher
Seit der Eröffnung des MKM 1999 ist Walter Smerling als Direktor verantwortlich für das Haus, und seit gut fünfzehn Jahren besteht die enge Zusammenarbeit mit dem Sammlerpaar Sylvia und Ulrich Ströher, deren MKM-Stiftung eng mit der in Bonn ansässigen Betreiberin des Museums, der Stiftung für Kunst und Kultur, kooperiert.
Die Ströhers haben auch massgeblich an der Neupräsentation ihrer Sammlung mitgewirkt. Bei der zufälligen Begegnung mit dem Sammlerpaar – ein Glücksfall, schliesslich meiden sie bewusst den Kontakt zu Presse und Öffentlichkeit – berichten die beiden stolz, dass ihre Tochter Kunstgeschichte studiere und ihre Aufgabe einmal übernehmen werde. Dies allerdings ist keine dringende Angelegenheit, denn gemessen am Umfang der hier versammelten Werke deutscher Nachkriegskunst sind die Sammler selbst noch ziemlich jung. 1987 kauften sie das erste der hier ausgestellten Bilder, ein Werk des 2000 verstorbenen Malers Walter Stöhrer, dem sie dann 2010 eine grosse Ausstellung widmeten.
Auch er gehört zur als deutsches Informel zusammengefassten Kunst der Nachkriegsjahre, die im MKM in einem grossen Panorama erfahren werden kann. Über 2000 Werke umfasst die Sammlung von Sylvia und Ulrich Ströher unterdessen, über 300 davon sind nun in Duisburg ausgestellt. Eine Besonderheit ihrer Sammlung ist die Konzentration auf wenige Künstler, die dafür mit mehreren Werken vertreten sind.
Sogar von Alfred Schulze, bekannt unter dem Kürzel Wols, hängen hier nebeneinander zwei Werke, obwohl er in seinem kurzen Leben keine vierzig geschaffen hat. Die hier zu sehenden jedenfalls waren seine beiden letzten, und es gibt vielleicht kein anderes Museum, das zwei Werke dieses Künstlers miteinander zeigen kann. Die Sammler sind schon die dritte Generation einer Familie, die als Sammlerdynastie in die deutsche Kunstgeschichte eingehen wird. Sie geht auf den Darmstädter Industriellen und Wella-Erben Karl Ströher zurück, dessen Besitz von amerikanischer Minimal und Pop Art beispielsweise die Gründung des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt ermöglichte.
Malerei, Bildhauerei und Fotografie sind allerdings nicht die einzigen Leidenschaften von Sylvia und Ulrich Ströher. Als sie 2013 in der Zeitung lasen, dass der Suhrkamp-Verlag in Schwierigkeiten sei, suchten sie den Kontakt – nicht hauptsächlich, aber auch wegen der Verbindung zu den Künstlern hier im Haus. Anselm Kiefer beispielsweise hatte bei Suhrkamp Bücher herausgegeben. Maler lassen sich von der Literatur inspirieren und vice versa, bei alledem bleiben die beiden Künste separate Genres. In beiden Sparten hat sich das Ehepaar Ströher mit seinem Engagement einen Namen gemacht.
Thematische Kontinuität
Kontinuität scheint ihnen wichtig, wie innerhalb der hier versammelten Werkzyklen spürbar wird. Im MKM sind viele der 36 teilweise riesigen Räume einem einzigen Künstler gewidmet: Dies ist möglich, weil das Ehepaar sich auf die Nachkriegsgeneration konzentriert. Der Direktor Walter Smerling schwärmt für diese Sammlung, denn aus der Vielfalt liessen sich die Eigenheiten der persönlichen Handschriften dieser Maler, vereinzelt auch Bildhauer ablesen. Vor allem tauche jeder dieser Räume dank solchen Zusammenhängen in eine eigene Atmosphäre, erklärt er mit Begeisterung. Nachbarschaften von Lehrern und Schülern, wie zum Beispiel K. O. Götz und Gerhard Richter, vertiefen dieses Beziehungsnetz. «Diese Vergleichsmöglichkeiten sind ausserordentlich und in kunsthistorischer Hinsicht einzigartig in dieser Dimension.»
Im dritten Obergeschoss des Neubaus ist Anselm Kiefers eigens für die Räume des MKM erarbeitete Installation aus Ästen und Steinen zu sehen – die Arbeit «Klingsors Garten» (2018) lässt fragen: Ist es ein Werk für diesen Raum oder ein Raum für dieses Werk? Beides.
Neuentdeckte Zurückhaltung
Während die Sammlung eine beeindruckende inhaltliche Tiefe erreicht, wirkt die Architektur mit allen Mitteln in der Höhe und der Tiefe des Raums. In den Ausstellungsbereichen bleibt die Gestaltung zurückhaltend, spielt einzig mit Raumsequenzen, tiefen Durchblicken und einzelnen Ausblicken. In den Treppenhäusern aber inszeniert sie die Körperhaftigkeit der Architektur. Wände und Stufen winden sich in Rundungen in die Höhe. Der terrakottafarbene Kunststein mit feiner Körnung, eingefärbt mit Klinkerschrot und Farbpigmenten, ist weich und fast lebendig, im an den Altbau angefügten Treppenhaus ebenso wie in der zweiten Version dieser Treppe im Neubau. Kein Bild hängt hier, kein Fenster zeigt die Welt draussen, dafür gibt es hier haptische Oberflächen. Als ob sie die Innereien, Lungen und Blutbahnen eines Organismus wären, werfen die Treppenhäuser in der alten Mühle die Besucherinnen und Besucher auf sich selbst zurück.
Genauso organisch, aber nicht aus rötlichem Kunststein, sondern aus dunkelrotem Samt sind die Treppen im Stadtcasino Basel, wo das gleiche Architekturbüro vor einem Jahr ebenfalls mit einer unscheinbaren Intervention Aufsehen erregte. Gemeinsam ist den Projekten für den Basler Musiksaal und das Duisburger Kunstmuseum aber vor allem, dass das erfolgreiche Büro nicht mehr mit spektakulären Formen, sondern mit auf den ersten Blick unsichtbaren Eingriffen brilliert.
Werden die Basler Architekturstars nun zu Meistern der Zurückhaltung? Nicht nur, antwortet Jacques Herzog: «Ich habe keine Vorliebe für diese oder jene Architektursprache. Es ist mir wichtig, eine möglichst breite Palette zu bespielen, nicht nach Lust und Laune, aber in präziser Reaktion auf eine bestimmte Aufgabenstellung. Hier bei der Küppersmühle ergab es Sinn, dass der Neubau sich in einer Addition anfügt und das, was schon da ist, in verwandter Art ergänzt: eben beinahe so, als ob es schon immer hier gewesen wäre.» Die Architektur bewirke, so Herzog, mit gezielten Eingriffen entscheidende Veränderungen. Er vergleicht dies mit Akupunktur. «Architektur kann Potenziale zum Leben bringen oder unterdrücken. Da spielt es eine Rolle, wo die Türe und wo die Fenster gesetzt sind, ob ein Museum als eine hermetische Kiste gebaut ist oder eben nicht. In diesem Museum gibt es unterschiedliche Durchsichten zwischen den Räumen und Aussichten zur Stadt und zum Hafen – auf jeder Seite.»
Als vor zehn Jahren der Wolkenbügel über dem Museum Küppersmühle mit einem Baustellen-Fiasko scheiterte, war das Drama um die Kostenüberschreitungen beim Bau der Elbphilharmonie noch nicht einmal am Horizont zu sehen. In Hamburg haben die Architekten ein spektakuläres Zeichen über den Dächern der Stadt gesetzt und sich, trotz viel politischem Trubel, um das neue Wahrzeichen der Stadt verdient gemacht.
Mit der Hamburger Situation lässt sich die Küppersmühle aber kaum vergleichen – in Duisburg würde ein Wolkenbügel über einem leeren Park schweben. Rückblickend gesteht Jacques Herzog ein: «Das eine Projekt hilft dir, das andere zu verstehen und auch kritisch zu betrachten. Heute denke ich, dass der Wolkenbügel skulptural sehr überzeugend wäre, aber er hätte noch viel mehr Leben hier vor Ort eingefordert. Wenn du eine Architektur machst und es dann kein Leben gibt, ist es schwierig, die Architektur selbst am Leben zu erhalten. Dann ist es besser, ein kompakteres Projekt zu machen, wo das Erlebnis erst im Innern stattfindet.» So ist es nun: Der Backsteinkoloss wirkt auch würdig, wenn keiner da ist.
Die fehlenden Frauen
Die Duisburger Sammlung und ihre Museumsarchitektur nehmen Kontinuität ernst und erreichen so viel Tiefe: in der kunsthistorisch-inhaltlichen genauso wie in der räumlich-konstruktiven Dimension. Aktuelle Trends wie Inklusion und Diversität, die den Rest der Welt in Atem halten, haben aber darin keinen Platz. Vor der versammelten Presse kritisiert Jacques Herzog anlässlich der Eröffnung, es sei ja alles wunderbar, nur ein paar Frauen mehr solle die Sammlung bitte zeigen. Nun, man könnte einige einladen, am besten nicht weisse, nicht alte und nicht je zuvor ausgestellte, zumindest für eine Wechselausstellung, und ihre Porträts auf Plakaten vergrössern, wie es zurzeit fast alle tun. Nur, was wäre damit gewonnen?
Hier ist nichts glatt. Die Sammlung erreicht mit der Konsequenz, sich mit einer einzigen Generation von Künstlern zu beschäftigen, eine enorme Tiefe. Die Architektur baut um sie herum aufgefächerte Wände aus aufgebrochenen Backsteinen. Globale Trends und Moden, Bestrebungen, möglichst viele Kontinente, Disziplinen oder Geschlechter mit einzuschliessen, bleiben hier aussen vor, darum geht es hier nicht.
Immerhin ist jeden Donnerstag der Museumseintritt frei. Das ist weit wichtiger als eine oberflächliche Korrektur der bisherigen Geschichtsschreibung. An einem Tag pro Woche dürfen sie alle umsonst dieses Museum betreten: die lokale Bevölkerung dieser sich entvölkernden Industrieregion, von deren Angehörigen die meisten weder mit der Nachkriegskunst noch mit der Genderdebatte eine Auseinandersetzung pflegen. Diese auch im Kleinen gewaltige Präsentation aber macht das Leiden und das Hoffen einer früheren Generation ganz ohne Vorbildung, durch die Kunst selbst spürbar.
Das Museum Küppersmühle ist, im wörtlichen und im bildhaften Sinn, ein Manifest gegen die Oberflächlichkeit. Es bleibt zu wünschen, dass diese Ernsthaftigkeit den Kontakt zum Ort aufzubauen vermag und auch mein Taxifahrer das Innere der alten Mühle anschauen kommt.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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