Artikel
Studieren auf der Piazza
Ob Österreich tatsächlich eine weitere medizinische Fakultätin Linz gebraucht hat, ist bis heute strittig. Ihren neuen Gebäuden, geplant von Lorenz Ateliers, fehlt es jedenfalls nicht an Selbstbewusstsein.
5. November 2021 - Christian Kühn
Seit 2014 gab es die neue medizinische Fakultät der Johannes-Kepler-Universität in Linz, wenn auch vorerst vor allem auf dem Papier: Die ersten Studierenden erhielten ihre Grundausbildung in Graz. Dass die neue Fakultät bald ein Bauwerk für Lehre und Forschung mit Signalwirkung erhalten würde, war anzunehmen: Die JKU hat sich unter Rektor Meinhard Lukas einen Ruf als Bauherr mit saftigem Repräsentationsanspruch erworben. Im Architekturwettbewerb für den neuen Erweiterungsbau des ehemaligen Linzer Allgemeinen Krankenhauses standen trotzdem die funktionellen Anforderungen im Vordergrund: große Hörsäle und Seminarräume, Bibliothek und Learning Center, Laboreinrichtungen für die medizinische Forschung sowie ein großer Bürotrakt. Die Ausschreibung war auf den Entwurf eines großen Hauses angelegt, in dem alle genannten Funktionen Platz finden.
Den Wettbewerb gewannen Lorenz Ateliers mit einem genau konträren Konzept, indem sie nicht vom monumentalen Einzelobjekt, sondern von der Stadt her dachten. Statt ein großes Haus zu entwerfen, schlugen sie die Schaffung eines städtischen Platzes vor, der sich an italienischen Vorbildern orientiert: eine Piazza ohne Bäume, ein städtisches Zimmer, dessen Wände von vier separaten, nur punktuell durch Brücken verbundenen Baukörpern gebildet werden. Diese Lösung wirkt in der Umsetzung so selbstverständlich, dass man sich im Nachhinein wundert, warum nicht mehrere Wettbewerbsteilnehmer auf sie gesetzt haben.
In der Geschichte des Universitätsbaus in Österreich gäbe es mit dem Campus der Wirtschaftsuniversität in Wien sogar einen Präzedenzfall, bei dem ebenfalls ein großes Haus ausgeschrieben war und am Ende ein Campus realisiert wurde, bei dem sich unabhängige Baukörper um eine gemeinsame Mitte versammeln. Angesichts der Größe des WU-Campus kamen dort in der Umsetzung verschiedene Architekten für die einzelnen Bauteile zum Zug. Beim Med Campus in Linz, der um eine Größenordnung kleiner ist als das Wiener Projekt, mussten Lorenz Ateliers diese Heterogenität selbst herstellen, was schon deshalb nicht einfach war, weil es bereits eine das Grundstück verbindende Substruktur gab: eine Tiefgarage, deren Stützen als Tragkonstruktion für eine Überbauung vorbereitet waren.
Die vier Baukörper des Neubaus setzen so weit wie möglich auf diesen Raster auf, wirken aber nach außen völlig eigenständig. Sie unterscheiden sich erstens in der Höhe: Der Bibliotheksbau ist mit Abstand der niedrigste, gefolgt vom Hörsaal- und Seminargebäude, dem Labor- und dem Bürobau. Diese Staffelung erhält eine besondere Note durch die Bäume, die auf dem Dach der Bibliothek gepflanzt sind und mit ihren Kronen ein weiteres Niveau im Höhenspiel der Piazza einziehen werden. Geplant war, auf diesem Niveau nicht nur Bäume, sondern einen Kräutergarten mit medizinischen Heilpflanzen anzusiedeln. Dieses Konzept musste aus Kostengründen aufgegeben werden, aber zumindest die Bäume werden, wenn sie in ein paar Jahren ihre geplante Höhe erreicht haben, einen surrealistischen Gegenpol zur baumlosen Piazza im Zentrum bilden.
Zweitens unterscheiden sich die Baukörper in Bezug auf ihre Fassaden, oder besser gesagt: in ihrem Dekor, einem Begriff, der ursprünglich nicht das „Dekorative“ als oberflächliche Ergänzung bezeichnete, sondern das angemessene oder schickliche Verhalten, insbesondere in der öffentlichen Rede. Die antike Rhetorik behandelte das „Decorum“ daher nicht als oberflächliche, sondern als ganzheitliche Qualität. Auch Fassaden des Linzer Med Campus sind keine glatten Oberflächen, sondern Vermittler zwischen Innen und Außen mit einer je eigenen, materialspezifischen Tiefe, die von der Holzverkleidung der Bibliothek über die bewegliche Keramikfassade des Laborbaus bis zur Loggia-artigen Beton-Elementfassade des Hörsaal- und Seminartrakts reicht. Jede dieser Fassaden harmoniert mit den Räumen dahinter, ganz im Sinne der antiken Auffassung von Dekor.
Zwischen diesen Fassaden spannt sich ein Raum auf, der auf Fotos nur ungenügend wiedergegeben werden kann, weil er sich erst aus der Bewegung in seiner ganzen Qualität erschließt. Für diese Bewegung gibt es zwei Arten von Attraktoren: einerseits die öffentlichen Zugänge an den Ecken der Piazza, die in die angrenzenden Straßen- und Grünräume führen, andererseits die Eingänge zu den einzelnen Funktionsbereichen in den Gebäuden, von denen es manchmal auch mehrere gibt. So ist etwa im Erdgeschoß des Bibliotheksbaus eine kleine Cafeteria untergebracht und im Erdgeschoß des Laborbaus ein Lebensmittelmarkt, neben dessen Eingang ein Aufzug zur Tiefgarage auch Letztere an prominenter Stelle mit der Piazza verbindet. Zwischen diesen Attraktoren bilden sich virtuelle Wege, die dann – je nach Jahreszeit – von den Licht- und Schattenmustern beeinflusst werden, wie sie die unterschiedlich hohen Gebäude auf die Piazza werfen.
Im Inneren der Baukörper herrscht eine Großzügigkeit, die unter den heutigen ökonomischen Bedingungen selten geworden ist. Mit einem Anteil an Erschließungsflächen von knapp 30 Prozent liegt das Projekt im oberen Bereich des Üblichen, aber jeder Prozentpunkt ist hier mit architektonischem Anspruch investiert. Vor allem das Hörsaal- und Seminargebäude bietet den Studierenden mehrgeschoßige Treppenhallen mit spektakulären diagonalen Durchblicken. In die Hörsäle dringt großzügig Tageslicht, das über Jalousien nach Bedarf geregelt werden kann. Allein die Option, nach einer medienunterstützten Frontalvorlesung im abgedunkelten Hörsaal für eine Diskussionsphase einen natürlich belichteten Raum zur Verfügung zu haben, ist den Aufwand wert.
Auf der Ebene der Seminarräume befindet sich ein Element, das schon von der Piazza aus irritierend auffällt: ein schmaler Balkon mit einem Boden aus Metallgittern, der in die Piazza hineinragt wie ein Trampolin in einen Swimmingpool. Ist das ein Balkon für Volks- oder Brandreden? Ein baukünstlerischer Hinweis darauf, wie dünn und zerbrechlich der Boden ist, auf dem wir alle stehen? Die Antwort wird jeder Besucher selbst finden müssen. Dieser Balkon ist „dekorativ“ im oben beschriebenen Sinn, ein rhetorisches Element, ohne das der Entwurf ein anderer, banalerer wäre.
Architektur hat dafür zu sorgen, dass die Menschen es in unseren Häusern trocken, warm und sauber haben. Sie ist aber auch die Kunst, das scheinbar Nutzlose notwendig zu machen. Angesichts der drohenden Klimakatastrophe mag diese Behauptung anstößig klingen: Sollten wir nicht den minimalen Ressourcenverbrauch zur obersten Maxime machen? Zwischen Baukunst und Banalität liegen aber oft nur wenige Prozent an Klimawirksamkeit. Späteren Generationen diese Kunst zu erhalten sollte die zusätzliche Anstrengung dafür wert sein.
Den Wettbewerb gewannen Lorenz Ateliers mit einem genau konträren Konzept, indem sie nicht vom monumentalen Einzelobjekt, sondern von der Stadt her dachten. Statt ein großes Haus zu entwerfen, schlugen sie die Schaffung eines städtischen Platzes vor, der sich an italienischen Vorbildern orientiert: eine Piazza ohne Bäume, ein städtisches Zimmer, dessen Wände von vier separaten, nur punktuell durch Brücken verbundenen Baukörpern gebildet werden. Diese Lösung wirkt in der Umsetzung so selbstverständlich, dass man sich im Nachhinein wundert, warum nicht mehrere Wettbewerbsteilnehmer auf sie gesetzt haben.
In der Geschichte des Universitätsbaus in Österreich gäbe es mit dem Campus der Wirtschaftsuniversität in Wien sogar einen Präzedenzfall, bei dem ebenfalls ein großes Haus ausgeschrieben war und am Ende ein Campus realisiert wurde, bei dem sich unabhängige Baukörper um eine gemeinsame Mitte versammeln. Angesichts der Größe des WU-Campus kamen dort in der Umsetzung verschiedene Architekten für die einzelnen Bauteile zum Zug. Beim Med Campus in Linz, der um eine Größenordnung kleiner ist als das Wiener Projekt, mussten Lorenz Ateliers diese Heterogenität selbst herstellen, was schon deshalb nicht einfach war, weil es bereits eine das Grundstück verbindende Substruktur gab: eine Tiefgarage, deren Stützen als Tragkonstruktion für eine Überbauung vorbereitet waren.
Die vier Baukörper des Neubaus setzen so weit wie möglich auf diesen Raster auf, wirken aber nach außen völlig eigenständig. Sie unterscheiden sich erstens in der Höhe: Der Bibliotheksbau ist mit Abstand der niedrigste, gefolgt vom Hörsaal- und Seminargebäude, dem Labor- und dem Bürobau. Diese Staffelung erhält eine besondere Note durch die Bäume, die auf dem Dach der Bibliothek gepflanzt sind und mit ihren Kronen ein weiteres Niveau im Höhenspiel der Piazza einziehen werden. Geplant war, auf diesem Niveau nicht nur Bäume, sondern einen Kräutergarten mit medizinischen Heilpflanzen anzusiedeln. Dieses Konzept musste aus Kostengründen aufgegeben werden, aber zumindest die Bäume werden, wenn sie in ein paar Jahren ihre geplante Höhe erreicht haben, einen surrealistischen Gegenpol zur baumlosen Piazza im Zentrum bilden.
Zweitens unterscheiden sich die Baukörper in Bezug auf ihre Fassaden, oder besser gesagt: in ihrem Dekor, einem Begriff, der ursprünglich nicht das „Dekorative“ als oberflächliche Ergänzung bezeichnete, sondern das angemessene oder schickliche Verhalten, insbesondere in der öffentlichen Rede. Die antike Rhetorik behandelte das „Decorum“ daher nicht als oberflächliche, sondern als ganzheitliche Qualität. Auch Fassaden des Linzer Med Campus sind keine glatten Oberflächen, sondern Vermittler zwischen Innen und Außen mit einer je eigenen, materialspezifischen Tiefe, die von der Holzverkleidung der Bibliothek über die bewegliche Keramikfassade des Laborbaus bis zur Loggia-artigen Beton-Elementfassade des Hörsaal- und Seminartrakts reicht. Jede dieser Fassaden harmoniert mit den Räumen dahinter, ganz im Sinne der antiken Auffassung von Dekor.
Zwischen diesen Fassaden spannt sich ein Raum auf, der auf Fotos nur ungenügend wiedergegeben werden kann, weil er sich erst aus der Bewegung in seiner ganzen Qualität erschließt. Für diese Bewegung gibt es zwei Arten von Attraktoren: einerseits die öffentlichen Zugänge an den Ecken der Piazza, die in die angrenzenden Straßen- und Grünräume führen, andererseits die Eingänge zu den einzelnen Funktionsbereichen in den Gebäuden, von denen es manchmal auch mehrere gibt. So ist etwa im Erdgeschoß des Bibliotheksbaus eine kleine Cafeteria untergebracht und im Erdgeschoß des Laborbaus ein Lebensmittelmarkt, neben dessen Eingang ein Aufzug zur Tiefgarage auch Letztere an prominenter Stelle mit der Piazza verbindet. Zwischen diesen Attraktoren bilden sich virtuelle Wege, die dann – je nach Jahreszeit – von den Licht- und Schattenmustern beeinflusst werden, wie sie die unterschiedlich hohen Gebäude auf die Piazza werfen.
Im Inneren der Baukörper herrscht eine Großzügigkeit, die unter den heutigen ökonomischen Bedingungen selten geworden ist. Mit einem Anteil an Erschließungsflächen von knapp 30 Prozent liegt das Projekt im oberen Bereich des Üblichen, aber jeder Prozentpunkt ist hier mit architektonischem Anspruch investiert. Vor allem das Hörsaal- und Seminargebäude bietet den Studierenden mehrgeschoßige Treppenhallen mit spektakulären diagonalen Durchblicken. In die Hörsäle dringt großzügig Tageslicht, das über Jalousien nach Bedarf geregelt werden kann. Allein die Option, nach einer medienunterstützten Frontalvorlesung im abgedunkelten Hörsaal für eine Diskussionsphase einen natürlich belichteten Raum zur Verfügung zu haben, ist den Aufwand wert.
Auf der Ebene der Seminarräume befindet sich ein Element, das schon von der Piazza aus irritierend auffällt: ein schmaler Balkon mit einem Boden aus Metallgittern, der in die Piazza hineinragt wie ein Trampolin in einen Swimmingpool. Ist das ein Balkon für Volks- oder Brandreden? Ein baukünstlerischer Hinweis darauf, wie dünn und zerbrechlich der Boden ist, auf dem wir alle stehen? Die Antwort wird jeder Besucher selbst finden müssen. Dieser Balkon ist „dekorativ“ im oben beschriebenen Sinn, ein rhetorisches Element, ohne das der Entwurf ein anderer, banalerer wäre.
Architektur hat dafür zu sorgen, dass die Menschen es in unseren Häusern trocken, warm und sauber haben. Sie ist aber auch die Kunst, das scheinbar Nutzlose notwendig zu machen. Angesichts der drohenden Klimakatastrophe mag diese Behauptung anstößig klingen: Sollten wir nicht den minimalen Ressourcenverbrauch zur obersten Maxime machen? Zwischen Baukunst und Banalität liegen aber oft nur wenige Prozent an Klimawirksamkeit. Späteren Generationen diese Kunst zu erhalten sollte die zusätzliche Anstrengung dafür wert sein.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroom