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Aurelio Galfetti stellte sich dem Durcheinander der 1960er Jahre mit klaren Formen entgegen
Der Tessiner Architekt legte Linien durch die Landschaft und machte die Mauern des Castelgrande in Bellinzona neu erlebbar. Nun ist er 85-jährig gestorben.
6. Dezember 2021 - Ulf Meyer
Schon das Erstlingswerk von Aurelio Galfetti wurde als Beginn einer neuen, radikalen Tessiner Architektur bezeichnet: Seine Casa Rotalinti in Bellinzona von 1961 stellte sich mit ihrem Bezug zum italienischen Rationalismus dem Durcheinander von Formen und Ideen der sechziger Jahre entgegen. Der kubische Bau aus Sichtbeton lebt ganz vom Spiel von Volumen und Aushöhlungen.
Architekten wie Galfetti standen in Opposition zur Pop- und High-Tech-Architektur ihrer Zeit und wollten der kommerzialisierten Moderne etwas entgegensetzen. Der Architekturhistoriker Kenneth Frampton ordnete das schlichte Wohnhaus sogar als wichtigsten Einfluss der Tessiner Architektur, die er als exemplarisch für den von ihm als «kritischen Regionalismus» bezeichneten Stil empfand, ein.
Galfetti, geboren 1936 in Biasca, gilt neben Mario Botta, Flora Ruchat-Roncati, Luigi Snozzi, Rino Tami und Livio Vacchini als Hauptvertreter der Tessiner Schule. Nach einem Praktikum im Architekturbüro von Tita Carloni studierte er an der ETH Zürich Architektur, bevor er 1960 in seiner Heimatstadt Lugano sein eigenes Büro eröffnete. Galfetti konnte später im Leben seine architektonischen Positionen im Rahmen von Gastprofessuren in Lausanne und Paris weitergeben und als erster Direktor der Accademia di Architettura di Mendrisio festigen.
Mittelalterliche Mauern erlebbar gemacht
Sein Opus magnum, das Castelgrande in Bellinzona, vereint Galfettis schlichte Gesten mit seinem grossen Respekt für die Traditionen der Architektur. Die Transformation des Kastells (1983–1991) wird auch Bellinzonas Akropolis genannt. Das im 13. Jahrhundert erbaute Castelgrande ist die älteste und grösste Festung der Stadt. Es thront auf einem ausgehöhlten Felssockel aus Gneis, in den Galfetti aus Beton geschickt eine neue Erschliessung modellierte.
Seine Überzeugung war es, «durch Transformation die Geschichte zu vergegenwärtigen»: Er führte den Felsen auf seinen Urzustand zurück und befreite ihn von jeglichem Bewuchs. Die «Kontinuität von steinernen Mauern und Fels», so Galfetti, kam damit zum Vorschein und zeigt den ästhetischen Dialog der Natur und der von Menschenhand geschaffenen Altstadt, die ebenfalls aus Stein besteht.
Um Touristen den beschwerlichen Aufstieg zum Kastell zu ersparen, werden sie über einen Vorhof an der Piazza del Sole in die enger werdende Felsschlucht mit Aufzügen geführt. Ein mit feinstem Sichtbeton ausgekleideter Felsspalt wirkt wie eine Pforte des Hades – Formen und Massstab von Galfettis Eingängen sind an antike Gräber angelehnt. Den Hügel umgibt heute ein Stadtpark, der Fels unter dem Kastell fungiert als Sockel.
Galfetti war es untersagt, die Fassaden der historischen Bauten umzugestalten, also nutzte er die Mittel der Subtraktion: Spätestens beim Betreten des Haupteingangs offenbart sich Besuchern eine der wichtigsten modernen Raumschöpfungen im Tessin: Durch das Dach der kuppelartigen Eingangshalle bleibt die fragile Aussenmauer lesbar. Belichtet werden die Räume durch Fensterschlitze mit schrägen Laibungen. Beim Stadtmuseum im Ostflügel des Kastells gelang es ihm, einen eindrücklichen Parcours zu formen, der den Bezug zur Stadt und zur Landschaft verstärkt. Galfetti hat mit seiner Transformation des Castelgrande Qualitätsmassstäbe gesetzt, an denen sich die Tessiner Architektur bis heute messen lassen muss.
Ein 500 Meter-Gebäude verbindet Stadt und Landschaft
In seinen eigenen Worten kann «der Verlust der historischen Städte nur kompensiert werden durch den Bau von Gebäuden als Städten en miniature». Die von ihm propagierte Einflussnahme der Architektur auf die Stadtentwicklung, eine der grossen Errungenschaften der Postmoderne, hat hier ihre Wurzeln. Aus dieser Entwurfshaltung ergibt sich auch die Vielgestaltigkeit von Galfettis Bauten, die auf ganz unterschiedliche Kontexte reagieren.
Ein wichtiger Teil von Galfettis Laufbahn war die Bekanntschaft mit Flora Ruchat-Roncati, der prominentesten Vertreterin der sogenannten Tessiner Schule. Ruchat-Roncati, Galfetti und Ivo Trümpy realisierten zusammen Bauten im Tessin, die ausgehend vom Werk Le Corbusiers zum Ziel hatten, den jeweiligen Ort in die Region einzubinden. Das bekannteste Beispiel dieser Arbeiten ist das Bagno Publicco von Bellinzona, welches das Trio Ende der sechziger Jahre entwarf und das zu einem Schlüsselwerk der neuen Tessiner Architektur wurde: Die Bauten des Freibads durchziehen ihr Gelände axial und verbinden die peripheren, stadtseitigen Wohnquartiere mit dem Flussufer.
Das sechs Meter über dem Boden aufgeständerte, 500 Meter lange «Weg-Gebäude» verbindet die Stadt mit ihrem Fluss über eine Kantonsstrasse hinweg. Der Steg schafft zugleich eine neue Beziehung zwischen den Bergen und der Landschaft und organisiert das ganze Gelände neu. Die Stahlbeton-Fussgängerbrücke wirkt dabei städtisch, während der Liegebereich der Landschaft zugeordnet wurde. Einläufige Treppen verbinden die Promenade mit dem tiefer liegenden Freibad. Die «promenade architecturale» verankert die mal geometrisch, mal organisch geformten Bassins und die expressiven Betonplastiken des Sprungturms und der Rutschbahn in der flachen, durch Bäume und Berge gerahmten Flusslandschaft. Die lange Passerelle, das zentrale Element des Bads, bietet Aussichten und verschmilzt Gebäude und Landschaft.
Bellinzonas Bagno Publicco stellte die Zeichen der Zeit auf eine zeitgemässe, menschenfreundliche Architektur, entgegen der High-Tech-Euphorie der 1960er Jahre. Dass die Landschaft, zusammen mit der Geschichte und Erinnerung des Ortes, selbst bei kleinen Bauten die Hauptrolle behält, demonstrierte Galfetti am Castelgrande. Sein Werk steht sowohl für die Rückbesinnung auf baumeisterliche Tätigkeit und Handwerk im Kleinen als auch für Sensibilität gegenüber dem Städtebau im grossen Massstab und wirkt bis heute nach. Sein Sohn Michele Galfetti machte beim Tessiner Sender RSI, wo er angestellt ist, den Tod in der Nacht auf heute Montag bekannt.
Architekten wie Galfetti standen in Opposition zur Pop- und High-Tech-Architektur ihrer Zeit und wollten der kommerzialisierten Moderne etwas entgegensetzen. Der Architekturhistoriker Kenneth Frampton ordnete das schlichte Wohnhaus sogar als wichtigsten Einfluss der Tessiner Architektur, die er als exemplarisch für den von ihm als «kritischen Regionalismus» bezeichneten Stil empfand, ein.
Galfetti, geboren 1936 in Biasca, gilt neben Mario Botta, Flora Ruchat-Roncati, Luigi Snozzi, Rino Tami und Livio Vacchini als Hauptvertreter der Tessiner Schule. Nach einem Praktikum im Architekturbüro von Tita Carloni studierte er an der ETH Zürich Architektur, bevor er 1960 in seiner Heimatstadt Lugano sein eigenes Büro eröffnete. Galfetti konnte später im Leben seine architektonischen Positionen im Rahmen von Gastprofessuren in Lausanne und Paris weitergeben und als erster Direktor der Accademia di Architettura di Mendrisio festigen.
Mittelalterliche Mauern erlebbar gemacht
Sein Opus magnum, das Castelgrande in Bellinzona, vereint Galfettis schlichte Gesten mit seinem grossen Respekt für die Traditionen der Architektur. Die Transformation des Kastells (1983–1991) wird auch Bellinzonas Akropolis genannt. Das im 13. Jahrhundert erbaute Castelgrande ist die älteste und grösste Festung der Stadt. Es thront auf einem ausgehöhlten Felssockel aus Gneis, in den Galfetti aus Beton geschickt eine neue Erschliessung modellierte.
Seine Überzeugung war es, «durch Transformation die Geschichte zu vergegenwärtigen»: Er führte den Felsen auf seinen Urzustand zurück und befreite ihn von jeglichem Bewuchs. Die «Kontinuität von steinernen Mauern und Fels», so Galfetti, kam damit zum Vorschein und zeigt den ästhetischen Dialog der Natur und der von Menschenhand geschaffenen Altstadt, die ebenfalls aus Stein besteht.
Um Touristen den beschwerlichen Aufstieg zum Kastell zu ersparen, werden sie über einen Vorhof an der Piazza del Sole in die enger werdende Felsschlucht mit Aufzügen geführt. Ein mit feinstem Sichtbeton ausgekleideter Felsspalt wirkt wie eine Pforte des Hades – Formen und Massstab von Galfettis Eingängen sind an antike Gräber angelehnt. Den Hügel umgibt heute ein Stadtpark, der Fels unter dem Kastell fungiert als Sockel.
Galfetti war es untersagt, die Fassaden der historischen Bauten umzugestalten, also nutzte er die Mittel der Subtraktion: Spätestens beim Betreten des Haupteingangs offenbart sich Besuchern eine der wichtigsten modernen Raumschöpfungen im Tessin: Durch das Dach der kuppelartigen Eingangshalle bleibt die fragile Aussenmauer lesbar. Belichtet werden die Räume durch Fensterschlitze mit schrägen Laibungen. Beim Stadtmuseum im Ostflügel des Kastells gelang es ihm, einen eindrücklichen Parcours zu formen, der den Bezug zur Stadt und zur Landschaft verstärkt. Galfetti hat mit seiner Transformation des Castelgrande Qualitätsmassstäbe gesetzt, an denen sich die Tessiner Architektur bis heute messen lassen muss.
Ein 500 Meter-Gebäude verbindet Stadt und Landschaft
In seinen eigenen Worten kann «der Verlust der historischen Städte nur kompensiert werden durch den Bau von Gebäuden als Städten en miniature». Die von ihm propagierte Einflussnahme der Architektur auf die Stadtentwicklung, eine der grossen Errungenschaften der Postmoderne, hat hier ihre Wurzeln. Aus dieser Entwurfshaltung ergibt sich auch die Vielgestaltigkeit von Galfettis Bauten, die auf ganz unterschiedliche Kontexte reagieren.
Ein wichtiger Teil von Galfettis Laufbahn war die Bekanntschaft mit Flora Ruchat-Roncati, der prominentesten Vertreterin der sogenannten Tessiner Schule. Ruchat-Roncati, Galfetti und Ivo Trümpy realisierten zusammen Bauten im Tessin, die ausgehend vom Werk Le Corbusiers zum Ziel hatten, den jeweiligen Ort in die Region einzubinden. Das bekannteste Beispiel dieser Arbeiten ist das Bagno Publicco von Bellinzona, welches das Trio Ende der sechziger Jahre entwarf und das zu einem Schlüsselwerk der neuen Tessiner Architektur wurde: Die Bauten des Freibads durchziehen ihr Gelände axial und verbinden die peripheren, stadtseitigen Wohnquartiere mit dem Flussufer.
Das sechs Meter über dem Boden aufgeständerte, 500 Meter lange «Weg-Gebäude» verbindet die Stadt mit ihrem Fluss über eine Kantonsstrasse hinweg. Der Steg schafft zugleich eine neue Beziehung zwischen den Bergen und der Landschaft und organisiert das ganze Gelände neu. Die Stahlbeton-Fussgängerbrücke wirkt dabei städtisch, während der Liegebereich der Landschaft zugeordnet wurde. Einläufige Treppen verbinden die Promenade mit dem tiefer liegenden Freibad. Die «promenade architecturale» verankert die mal geometrisch, mal organisch geformten Bassins und die expressiven Betonplastiken des Sprungturms und der Rutschbahn in der flachen, durch Bäume und Berge gerahmten Flusslandschaft. Die lange Passerelle, das zentrale Element des Bads, bietet Aussichten und verschmilzt Gebäude und Landschaft.
Bellinzonas Bagno Publicco stellte die Zeichen der Zeit auf eine zeitgemässe, menschenfreundliche Architektur, entgegen der High-Tech-Euphorie der 1960er Jahre. Dass die Landschaft, zusammen mit der Geschichte und Erinnerung des Ortes, selbst bei kleinen Bauten die Hauptrolle behält, demonstrierte Galfetti am Castelgrande. Sein Werk steht sowohl für die Rückbesinnung auf baumeisterliche Tätigkeit und Handwerk im Kleinen als auch für Sensibilität gegenüber dem Städtebau im grossen Massstab und wirkt bis heute nach. Sein Sohn Michele Galfetti machte beim Tessiner Sender RSI, wo er angestellt ist, den Tod in der Nacht auf heute Montag bekannt.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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