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Architektur auf dem Laufsteg
Neue Zürcher Zeitung

Triumph des Barock im Jagdschloss Stupinigi bei Turin

Die Ausstellung «I Trionfi del Barocco» versucht die Architektur des Barock anhand von Architekturmodellen und Zeichnungen in ihrer gesamten europäischen Dimension vorzuführen. Die vom Palazzo Grassi organisierte Ausstellung wurde in das barocke Jagdschloss von Stupinigi bei Turin verlegt. Damit wird der Ort der Ausstellung zu einem wichtigen Bestandteil der Schau.

10. Juli 1999 - Andres Lepik
Eigentlich müsste die grosse Ausstellung im Jagdschloss bei Turin «Architekturmodelle des Barock» heissen. Denn wie schon in der erfolgreichen Palazzo-Grassi-Ausstellung von 1994, «Rinascimento. Da Brunelleschi a Michelangelo», stehen wieder Architekturmodelle im Mittelpunkt. Das Thema der barocken Modelle ist zwar im Unterschied zu denjenigen der Renaissance unter spezifischen Fragestellungen mehrfach behandelt und in Ausstellungen vorgestellt worden: etwa 1991 in Rom oder 1998 in Wien. Eine breiter angelegte Darstellung ist dennoch in vieler Hinsicht mehr als berechtigt - nicht zuletzt, um das Architekturmodell in den grösseren Rahmen der neusten Forschungen zur Barockarchitektur zu bringen. Doch gerade hieran wagt sich die Turiner Ausstellung nicht.


Feuerwerk der Themen

Aus dem strahlenden Vorhof des Jagdschlosses Stupinigi tritt der Besucher in eine dunkle Höhle, in der ihm nahezu raumhohe, blendendweisse Modelle berühmter Barockbauten gegenüberstehen: San Carlo alle Quattro Fontane und Sant'Ivo von Borromini sowie die leicht verkleinerte Kopie des Portals von Sant'Andrea al Quirinale von Bernini. Nachgebaute Modelle sind es, pompöse und doch leichenhafte Stimmungskulissen, die nichts erklären und durch nichts erklärt werden. Auch die meterhohe Graphik an den dunklen Wänden, die weitere Barockgebäude zeigt, erläutert nichts, ist nur der Versuch, mit bildhaften Zitaten wenigstens auf das anzuspielen, was das Thema sein könnte. Cui bono? Ein unvorbereitetes Publikum läuft hier durch ein kaltes Kabinett von Gipsfiguren, deren Vorlagen es kaum kennt und somit keine Beziehung zu den realen Grössenverhältnissen herstellen kann. Mit dieser Ouverture sind aber die konzeptionellen Motive der Ausstellung angeschlagen, die den gesamten Parcours bestimmen: dramatische Inszenierung, effektvolle Objekte, mangelhafte Didaktik und eine weitgehend beliebige Auswahl.

Auf diese Einstimmung folgt ein Feuerwerk von Bauten. Angefangen mit Berninis Vierströmebrunnen, reichen die Beispiele über Borrominis Oratorio dei Filippini, Baldassare Longhenas Santa Maria della Salute in Venedig und Pietro da Cortonas Villa Sacchetti bis hin zu Guarino Guarinis Cappella del Sindone und dem Palazzo Carignano in Turin selbst. Viele der schönsten Architekturzeichnungen der Zeit sind hier versammelt, dazu wertvolle Bozzetti sowie Stiche und Medaillen. Doch die dichtgedrängte Hängung, die all die angeschlagenen Themen mit allenfalls ein bis zwei Beispielen kommentar- und zugleich distanzlos nebeneinanderreiht, bringt keine klaren Thesen und Themen zur Anschauung, sondern prahlt nur mit der Vielzahl von Leihgaben. Der Zusammenhang der Projekte untereinander wird dabei ebensowenig deutlich wie die Frage nach der Realisation der Pläne. Nicht einmal bei den Turiner Beispielen wird der Bezug zur Wirklichkeit vor Ort gewagt. Und nur in einem Seitenraum wird unter dem Stichwort «Piranesi» das komplexe Thema der Bezüge der Barockarchitektur zur Antike angeschlagen, wobei allein schon dieses Kapitel einer breiteren Darstellung bedürfte, um den Wandel des Antikenbildes von der Renaissance zum Barock verständlich werden zu lassen.

Ihren ersten wirklichen Überraschungseffekt entwickelt die Ausstellung dann mit den riesigen Originalmodellen, etwa dem mehrere Meter langen Kreml-Modell von Wassily Ivanovic Bazenov (um 1769) und dem Modell für das Schloss von Rivoli nach den Entwürfen von Filippo Juvarra (1718). Sie sind, wie schon das Sangallo-Modell für St. Peter (1538), begehbare Kleinarchitekturen, die eine einzigartige Vorstellung von den Wirkungen der Fassaden, der Baukörper und sogar der Innenräume geben können. Aber welche Chance wurde auch hier vertan! Nahezu völlig im Dunkel stehend, werden die Modelle von einer rhythmisch wechselnden Beleuchtung erhellt, die mal die eine und mal die andere Seite bestrahlt. So bleibt immer gerade das, was man genauer betrachten möchte, im Dunklen.

Im weiteren Verlauf wird ein Projekt an das andere gereiht. Als Struktur dienen Titel wie «Palazzi Reali», «Il disegno del giardino» oder «Residenze private». Alle wichtigen Themen der barocken Architektur sollen damit eingefangen werden, wobei auch Festapparate und Feuerwerke, Militärarchitektur, Theaterbau und Architekturphantasien nicht fehlen dürfen. Dutzende von grossen und kleinen Modellen - vom Palastbau von Caserta bis zur holländischen Windmühle - stehen hier auf einem Tisch nach dem anderen. In der ehemaligen Bibliothek des Jagdschlosses simulieren Buchattrappen in den Wandschränken eine Bibliothek, vor der dann in Vitrinen reale Quellenschriften aufgeschlagen sind. Doch auch hier sucht man zwischen den Druckwerken von Blondel, Villalpando und Inigo Jones vergeblich nach einem Leitfaden durch das Labyrinth der zur Schau gestellten Gelehrsamkeit.

Nur in wenigen Fällen verdichtet sich das präsentierte Material zu einer Sequenz, in der Zusammenhänge von Entwurf, Modell und Ausführung mit hinreichenden Belegen zu einem Projekt von sich aus evident werden. Überwiegend sind die Modelle jedoch offenbar nur nach ästhetischen Kriterien verteilt, die entsprechenden Zeichnungen dann in der Nähe an die Wand montiert. So wird auch auf das spannende Thema der Gesamtplanung, bei der oft mehrere unterschiedliche Künstler- und Handwerkergruppen wie Stukkateure, Bildhauer, Schreiner und Maler am Modell zusammenarbeiteten, nicht eingegangen. Ebensowenig erfährt man über die Funktion mehrgeschossiger Modelle wie etwa demjenigen für die Villa Pisani in Stra, bei dem man zur Betrachtung des Inneren die einzelnen Ebenen voneinander abheben konnte. In einem der letzten Räume stehen auf einem endlos langen Tisch Modelle aus St. Petersburg, Rom, Brixen, London und St. Gallen ohne Rücksicht auf ihre Entstehungszusammenhänge völlig wahllos nebeneinander Spalier.


Ärgerlicher Katalog

Böte nicht die Ausstellung die einzigartige Chance, viele der grössten und schönsten Architekturmodelle der Barockzeit aus verschiedenen Ländern einmal zusammen zu sehen, müsste der Besuch als enttäuschend bezeichnet werden. Indem die Modelle überwiegend als Akteure einer Show des für die Präsentation zuständigen Architekten Mario Bellini auf den Laufsteg geschickt werden, sind sie zu Kunstwerken überhöht, die sie nie sein sollten. Mit dieser Überinszenierung und der gleichzeitigen Informationsverweigerung unterschätzt die Ausstellung das Interesse der Besucher an Inhalten und Zusammenhängen.

Wie schon bei der Renaissance-Ausstellung von 1994 besteht auch diesmal der mehrere Kilo schwere Katalog in seinem ersten Teil aus gelehrten Essays zu Themen der Ausstellung. Dort, wo allgemeine Fragen der Barockarchitektur angesprochen werden, bleiben die Beiträge (Henry Millon, Paolo Portoghesi, Christian Norberg- Schulz) an der Oberfläche; und die spannenden Fragen, die die Ausstellung aufwirft, werden - abgesehen von wenigen Beiträgen (Elisabeth Kieven und Michael Krapf) - kaum berührt. Der eigentliche Katalog der ausgestellten Objekte bietet einen völlig überladenen Satzspiegel und winzige Abbildungen. Die Qualität der Einträge ist schwankend und in der Regel ohne übergreifende Fragestellung, während es in den Bibliographien und Apparaten von Fehlern wimmelt. Es ist mehr als ärgerlich, dass der Katalog zu einer derart aufwendig inszenierten Ausstellung in jeder Hinsicht versagt.


[ Die Ausstellung im Jagdschloss Stupinigi bei Turin dauert bis zum 7. November. Der Katalog kostet 90 000 Lire. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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