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Sitzungssaal im Grazer Rathaus: Bitte nicht modisch!
Wie schon bisher stellt sich der eben runderneuerte Sitzungssaal im Grazer Rathaus keiner Schönheitsdiskussion. Muss er auch nicht: Er beeindruckt als Abbild seiner Zeit und als moderner Arbeitsplatz gleichermaßen.
18. Februar 2022 - Sigrid Verhovsek
Nicht nur die Zusammensetzung des Grazer Gemeinderates hat sich 2021 geändert, auch der Sitzungssaal im Rathaus wurde runderneuert. Dieser Eingriff war bereits in die Wege geleitet worden, als Corona höchstens als Schutzheilige der Metzger und Schatzgräber bekannt war. Aufgrund der komplexen Gemengelage an Vorgaben und Interessen, die mit diesem repräsentativen Artefakt der „Vor-Ort-Demokratie“ verknüpft sind, handelte es sich um eine räumlich eng begrenzte, aber facettenreiche Bauaufgabe, die entsprechende Vorlaufzeit benötigte.
Auf den ersten Blick täuschen historistische Bauweise und scheinbare Selbstverständlichkeit inmitten des alteingesessenen Hauptplatzensembles darüber hinweg, dass es sich beim Grazer Rathaus um einen Neubau aus dem 19. Jahrhundert handelt. Infolge der um 1850 wiedererlangten Gemeindefreiheit und Teilautonomie der österreichischen Städte grassierte in der Gründerzeit ein wahrer Bauboom an Rathäusern. Auch die in Wien bis 1960 als „Neues Rathaus“ bezeichneten „Sprechenden Steine“ wurden 1872 bis 1883 nach Plänen von Architekt Friedrich Schmidt errichtet. Ab 1880 versuchte die Stadt Graz mithilfe der Gemeindesparkasse, den gesamten Häuserblock um das erst 1805 bis 1807 erbaute klassizistische Rathaus am Hauptplatz zu erwerben, um ein bis zum Landhaus reichendes Geviert für Rathaus und Bank zu errichten. Allerdings hatte man nicht mit der Widerborstigkeit einiger Hausbesitzer:innen gerechnet, die sich weder dem ökonomischen Lockruf noch dem moralischen Druck beugen wollten: Noch heute ragen drei Giebelfronten von schmalen Bürgerhäusern an der Herrengasse aus dem sonst recht einheitlichen Rathaus-Block hervor.
Die Grundstruktur des ab 1887 von den Architekten Alexander Wielemann und Theodor Reuter ausgeführten Bauwerks entspricht dem industriellen Standard jener Zeit. Doch musste auch der Kern des alten Rathauses in den Neubau integriert werden, und somit waren Geschoßhöhen und Fensterachsen vorgegeben. Auf Oberflächen und Fassaden tummeln sich diverse Stilelemente aus der Entstehungs- und Blütezeit der Bürgerstädte: Dieser lange verachtete historistische Eklektizismus wird erst seit der Postmoderne wieder milder beurteilt.
Der Umbau dauerte über vier Jahre
Inmitten der dominanten Verwaltungsfunktionen ist der im ersten Obergeschoß über einem Mezzanin sitzende Gemeinderatssaal symbolisches Kernstück des Grazer Rathauses. Der annähernd quadratische Raum ist eher beeindruckend als „schön“. Die Fenster an der Seite zum Hauptplatz sitzen über den Türen, die zum Balkon führen, und auch ein indirekter Blick in den Himmel wird durch sakral anmutende Buntglasscheiben verwehrt. Die dunkle, beinahe schwarz verfärbte Holzkassettendecke und die Zuschauergalerie auf einer mit geschnitzten Konsolen verkleideten Industrieeisen-Unterkonstruktion beschweren den Raum zusätzlich. Die an Kirchengestühl erinnernden Gemeinderatssitze komplettieren die dem bürgerlichen Geschmack des 19. Jahrhunderts angemessene „würdige“ Atmosphäre. Aber ästhetische Fragen standen nicht im Vordergrund des nun beendeten Umbaus, der samt Vorbereitung und Planung über vier Jahre dauerte und 2,2 Millionen Euro kostete. Auslöser waren funktionale Anforderungen des 21. Jahrhunderts: zeitgemäße Heizung bzw. Lüftung, Steckdosen, WLAN, blendfreies Licht, ausgewogene Akustik, adäquate Präsentationstechniken sowie praktikable Barrierefreiheit. In Kombination mit historischen und symbolischen Agenden gestalten sich diese „Alltäglichkeiten“ dennoch aufwendig.
Mangels standardisierter Lösungen mussten der ehemalige Bürgermeister Siegfried Nagl als „Bauherr“, die Präsidialabteilung der Stadt, Architekt Alfred Bramberger, das Bundesdenkmalamt (BDA) und die beteiligten Spezialfirmen viele Details gemeinsam erarbeiten. Sensibel gelöst wurden so etwa die Anforderungen an die Barrierefreiheit: Ein höhenverstellbares Rednerpult ist keine Hexerei, aber die ausklappbare Rampe auf das Podest ist in Handhabung und Passgenauigkeit eine sehr feine Konstruktion. Zuschauerplätze am Galeriegeländer, wo Sichtachsen aufgrund von Vorgaben des Denkmalschutzes nicht „freigeräumt“ werden konnten, erhalten Monitore für eine Live-Übertragung. Eine Befundung durch das BDA ergab, dass die Wandflächen ursprünglich in einem Grünton mit Girlanden bemalt gewesen waren, bevor sie durch eine Tapete „überspannt“ wurden – leider war diese Malerei bereits großflächig zerstört. Die verbliebenen Reste wurden konserviert, mit Papier überspannt, und nun hellt neutrales Weiß die „Schicksalsträchtigkeit“ des Raumes ein wenig auf.
Man wünscht sich Abnutzung
Alle Holzverkleidungen wurden vom Restauratorenteam um Friedrich Nussbaumer von stumpfer Dunkelheit befreit und wieder in einen nuancenreich schimmernden Zustand versetzt; die in die Kassetten eingelassenen Schachtabdeckungen des Luftabzugs wirken wie Rosetten. Der Tafelparkettboden ist handwerklich beeindruckend, aber eben neu: Unwillkürlich wünscht man sich eine deutliche Abnutzung, ein wenig Geschichte sozusagen. Diese Abnutzung scheint im Teppichboden, der die Sitzränge begleitet, bereits im Muster vorgesehen. Die schweren Vorhänge sind gefallen – zugunsten einer Sonnenschutzrollo und großflächiger Akkustikpaneele, deren Farbton je nach Beleuchtung zwischen Beige und Grau changiert. Die neue Möblierung ist Geschmacksfrage und bewegt sich irgendwo zwischen „klassisch“ und „Wohnzimmer der 1970er-Jahre“. Der fein austarierte Kontrast, der Architekt Bramberger im Sitzungssaal des benachbarten Landhauses gelungen ist, wo extrem reduzierte Möbel wie eine heitere Blase in den Renaissance-Saal implementiert wurden, ist hier zu beiläufig geraten: Sollte die Möblierung vielleicht nicht zu teuer oder nicht zu modisch wirken? Zudem sorgt der nachmittägliche Lichteinfall für einen seltsamen Effekt: Das an der Fensterfront sanft geschwungene Pult der Stadträte wirkt buchstäblich wie aus einem anderen (Furnier-)Holz geschnitzt als die Sitzreihen der Gemeinderäte.
Die verlangte Funktionalität ist jedenfalls gegeben: Ergonomisch bequeme Sessel, ausklappbare Pulte mit Stauraum und Anschlüsse für Laptop und Handy stehen nun der Stadtregierung um Bürgermeisterin Elke Kahr und 48 Gemeinderäten für ihre Arbeit zur Verfügung. Als Kompromiss aus vielen Interessen und Normen entzieht sich der Ratssaal noch heute einer Schönheitsdiskussion. Der Verhandlungsort jener Agenden, die im „freien oder übertragenen Wirkungsbereich“ der Stadt Graz liegen, fasziniert eher als Zeitzeuge – und gleichzeitig als aktuelles Abbild unserer Gesellschaft mitsamt ihren Zwiespältigkeiten.
Auf den ersten Blick täuschen historistische Bauweise und scheinbare Selbstverständlichkeit inmitten des alteingesessenen Hauptplatzensembles darüber hinweg, dass es sich beim Grazer Rathaus um einen Neubau aus dem 19. Jahrhundert handelt. Infolge der um 1850 wiedererlangten Gemeindefreiheit und Teilautonomie der österreichischen Städte grassierte in der Gründerzeit ein wahrer Bauboom an Rathäusern. Auch die in Wien bis 1960 als „Neues Rathaus“ bezeichneten „Sprechenden Steine“ wurden 1872 bis 1883 nach Plänen von Architekt Friedrich Schmidt errichtet. Ab 1880 versuchte die Stadt Graz mithilfe der Gemeindesparkasse, den gesamten Häuserblock um das erst 1805 bis 1807 erbaute klassizistische Rathaus am Hauptplatz zu erwerben, um ein bis zum Landhaus reichendes Geviert für Rathaus und Bank zu errichten. Allerdings hatte man nicht mit der Widerborstigkeit einiger Hausbesitzer:innen gerechnet, die sich weder dem ökonomischen Lockruf noch dem moralischen Druck beugen wollten: Noch heute ragen drei Giebelfronten von schmalen Bürgerhäusern an der Herrengasse aus dem sonst recht einheitlichen Rathaus-Block hervor.
Die Grundstruktur des ab 1887 von den Architekten Alexander Wielemann und Theodor Reuter ausgeführten Bauwerks entspricht dem industriellen Standard jener Zeit. Doch musste auch der Kern des alten Rathauses in den Neubau integriert werden, und somit waren Geschoßhöhen und Fensterachsen vorgegeben. Auf Oberflächen und Fassaden tummeln sich diverse Stilelemente aus der Entstehungs- und Blütezeit der Bürgerstädte: Dieser lange verachtete historistische Eklektizismus wird erst seit der Postmoderne wieder milder beurteilt.
Der Umbau dauerte über vier Jahre
Inmitten der dominanten Verwaltungsfunktionen ist der im ersten Obergeschoß über einem Mezzanin sitzende Gemeinderatssaal symbolisches Kernstück des Grazer Rathauses. Der annähernd quadratische Raum ist eher beeindruckend als „schön“. Die Fenster an der Seite zum Hauptplatz sitzen über den Türen, die zum Balkon führen, und auch ein indirekter Blick in den Himmel wird durch sakral anmutende Buntglasscheiben verwehrt. Die dunkle, beinahe schwarz verfärbte Holzkassettendecke und die Zuschauergalerie auf einer mit geschnitzten Konsolen verkleideten Industrieeisen-Unterkonstruktion beschweren den Raum zusätzlich. Die an Kirchengestühl erinnernden Gemeinderatssitze komplettieren die dem bürgerlichen Geschmack des 19. Jahrhunderts angemessene „würdige“ Atmosphäre. Aber ästhetische Fragen standen nicht im Vordergrund des nun beendeten Umbaus, der samt Vorbereitung und Planung über vier Jahre dauerte und 2,2 Millionen Euro kostete. Auslöser waren funktionale Anforderungen des 21. Jahrhunderts: zeitgemäße Heizung bzw. Lüftung, Steckdosen, WLAN, blendfreies Licht, ausgewogene Akustik, adäquate Präsentationstechniken sowie praktikable Barrierefreiheit. In Kombination mit historischen und symbolischen Agenden gestalten sich diese „Alltäglichkeiten“ dennoch aufwendig.
Mangels standardisierter Lösungen mussten der ehemalige Bürgermeister Siegfried Nagl als „Bauherr“, die Präsidialabteilung der Stadt, Architekt Alfred Bramberger, das Bundesdenkmalamt (BDA) und die beteiligten Spezialfirmen viele Details gemeinsam erarbeiten. Sensibel gelöst wurden so etwa die Anforderungen an die Barrierefreiheit: Ein höhenverstellbares Rednerpult ist keine Hexerei, aber die ausklappbare Rampe auf das Podest ist in Handhabung und Passgenauigkeit eine sehr feine Konstruktion. Zuschauerplätze am Galeriegeländer, wo Sichtachsen aufgrund von Vorgaben des Denkmalschutzes nicht „freigeräumt“ werden konnten, erhalten Monitore für eine Live-Übertragung. Eine Befundung durch das BDA ergab, dass die Wandflächen ursprünglich in einem Grünton mit Girlanden bemalt gewesen waren, bevor sie durch eine Tapete „überspannt“ wurden – leider war diese Malerei bereits großflächig zerstört. Die verbliebenen Reste wurden konserviert, mit Papier überspannt, und nun hellt neutrales Weiß die „Schicksalsträchtigkeit“ des Raumes ein wenig auf.
Man wünscht sich Abnutzung
Alle Holzverkleidungen wurden vom Restauratorenteam um Friedrich Nussbaumer von stumpfer Dunkelheit befreit und wieder in einen nuancenreich schimmernden Zustand versetzt; die in die Kassetten eingelassenen Schachtabdeckungen des Luftabzugs wirken wie Rosetten. Der Tafelparkettboden ist handwerklich beeindruckend, aber eben neu: Unwillkürlich wünscht man sich eine deutliche Abnutzung, ein wenig Geschichte sozusagen. Diese Abnutzung scheint im Teppichboden, der die Sitzränge begleitet, bereits im Muster vorgesehen. Die schweren Vorhänge sind gefallen – zugunsten einer Sonnenschutzrollo und großflächiger Akkustikpaneele, deren Farbton je nach Beleuchtung zwischen Beige und Grau changiert. Die neue Möblierung ist Geschmacksfrage und bewegt sich irgendwo zwischen „klassisch“ und „Wohnzimmer der 1970er-Jahre“. Der fein austarierte Kontrast, der Architekt Bramberger im Sitzungssaal des benachbarten Landhauses gelungen ist, wo extrem reduzierte Möbel wie eine heitere Blase in den Renaissance-Saal implementiert wurden, ist hier zu beiläufig geraten: Sollte die Möblierung vielleicht nicht zu teuer oder nicht zu modisch wirken? Zudem sorgt der nachmittägliche Lichteinfall für einen seltsamen Effekt: Das an der Fensterfront sanft geschwungene Pult der Stadträte wirkt buchstäblich wie aus einem anderen (Furnier-)Holz geschnitzt als die Sitzreihen der Gemeinderäte.
Die verlangte Funktionalität ist jedenfalls gegeben: Ergonomisch bequeme Sessel, ausklappbare Pulte mit Stauraum und Anschlüsse für Laptop und Handy stehen nun der Stadtregierung um Bürgermeisterin Elke Kahr und 48 Gemeinderäten für ihre Arbeit zur Verfügung. Als Kompromiss aus vielen Interessen und Normen entzieht sich der Ratssaal noch heute einer Schönheitsdiskussion. Der Verhandlungsort jener Agenden, die im „freien oder übertragenen Wirkungsbereich“ der Stadt Graz liegen, fasziniert eher als Zeitzeuge – und gleichzeitig als aktuelles Abbild unserer Gesellschaft mitsamt ihren Zwiespältigkeiten.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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