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Dorotheum in Graz: Man ist versucht, „Potemkin“ zu rufen
Zuerst wollte man das Dorotheum-Gebäude am Grazer Jakominiplatz abreißen, dann entschied man sich für einen Umbau: Das Innere wurde ausgehöhlt, die Außenmauern blieben erhalten. Aus vier Stockwerken wurden so fünf.
20. April 2022 - Sigrid Verhovsek
Der viergeschoßige Kopfbau am Grazer Jakominiplatz zwischen den Einmündungen der Gleisdorfergasse und dem Opernring war über 50 Jahre lang mit grobkörnigen schmutzig-grauen Waschbetonplatten verkleidet, die schmalen Oberlicht-Fensterbänder der beiden oberen Geschoße zeugten von dahinter liegenden Lagerflächen, und das grün patinierte Kupferdach saß wie ein seltsames Fundstück auf dem Gebäude. Auch den Arkadengang im Erdgeschoß hätte man nicht freiwillig betreten, wenn da nicht diese Schaufenster gewesen wären: Im Haus befand sich seit den 1960er-Jahren die Grazer Dependance des 1707 gegründeten ehrwürdigen Wiener Auktionshauses Dorotheum. Die Auslagen enthielten zwar nicht genau die von Ludwig Hirsch besungenen Kuriositäten der „Tante Dorothee“, dennoch war allein die Überlegung, unter welchen Umständen die verschiedensten Artefakte hier gelandet waren, immer faszinierend.
Unwillkürlich ordnete man dieses Gebäude einer weniger gelungenen 1960er-Jahre-Architektur zu, dabei liest sich die wahre Geschichte des einstmals sogenannten Englischen Hauses ganz anders: Das repräsentative Kaufhaus nach Plänen von Leopold Thayer und Johann Baltl, das ab 1908/1909 vom Opernring aus diese Ecke schrittweise, Gebäude für Gebäude, übernahm und die bestehende dreigeschoßige Struktur überformte, war konstruktiv ein Stahlbetongebäude, formal mit einer gehörigen Dosis Gründerzeit und Jugendstil versehen: vier Vollgeschoße mit hohen Fenstern, dazu ein Mansardgeschoß mit Dachgauben und aufgesetztem Satteldach, zum Jakominiplatz hin symmetrisch ausgebildet mit einem abgerundeten Erker als Andeutung eines Mittelrisaliten und seitlich zwei Berliner Ecken, die, um die Schrägkante abzumildern, in den oberen Geschoßen mit zarten Balkonen ausgestattet und in der Dachebene nochmals mit Türmchen betont waren.
Lukrativere Funktion
Es lässt sich nur spekulieren, ob Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts dieses Gebäude als „schön“ empfanden – sicher jedoch als der Zeit, der Funktion, dem Ort angemessen. In den 1960er-Jahren, als es vom Dorotheum übernommen wurde, fehlten bereits einige der „Verzierungen“, aber erst durch den Zu- und Umbau der Wiener Architekten Anton Potyka/Franz Comsi 1969 wurden die Fassaden in ihren Proportionen verändert und die ursprüngliche Raumidee gänzlich unleserlich gemacht.
Seit etwa 2015 wurde seitens des Dorotheums zusammen mit dem Architekturbüro Hohensinn und unter Einbindung der Grazer Altstadt-Sachverständigenkommission am Konzept für eine neuerliche Transformation gearbeitet: Das Dorotheum sollte sich an diesem Standort konzentriert im Erdgeschoß präsentieren, während die Lagerflächen im zweiten und dritten Obergeschoß eine dem stark frequentierten innerstädtischen Platz entsprechende, lukrativere Funktion bekommen sollten. Eine deutsche Hotelkette wurde als Mieter gewonnen und in die Planung eingebunden.
Tatsächlich wurde zunächst an Abbruch und Neubau gedacht, aber das hätte durch die notwendige Einhaltung aktuell gültiger Grenz- und Gebäudeabstände einen erheblichen Verlust an Fläche und Volumen bedeutet. So entschied man sich für einen Zu- und Umbau. Etwa musste die „wesentliche“ Substanz des Hauses erhalten bleiben: in diesem Fall die Außenmauern mit ihren ursprünglichen Öffnungen in ihren „alten“ Proportionen. Neugierige Passanten konnten an der seit 2020 bestehenden Baustelle deshalb immer wieder aufschlussreiche Blicke in das Innere des Gebäudes werfen, das segmentweise ausgehöhlt und gleichzeitig weitergebaut wurde, um die statische Sicherheit der Außenhülle zu gewährleisten.
Das Rentabilitätskonzept des neuen Mieters „Motel One“ forderte mehr Fläche als im Bestand vorhanden, und so wurde mit den „Stockwerken“ gespielt: Das Erdgeschoß verbleibt in seiner ursprünglichen Höhe, aber aus den darüber liegenden vier Geschoßen wurden nun bei gleichbleibender Gesamthöhe fünf. Das bedeutet, dass die an der Hülle ablesbaren Teilungen nicht mehr mit den Geschoßteilungen im Inneren übereinstimmen. Und dies gilt nicht nur für die horizontalen, sondern auch für die vertikalen Teilungen: „Motel One“ setzt auf eine großzügige, mit „lokal inspiriertem Designkonzept“ (in dem Fall von Decasa) ausgestattete Lobby bei minimalen Zimmergrößen; so wird etwa zugunsten einer Kleiderstange auf einen Schrank verzichtet. Die strikte Normierung der Grundrisse bedingt bei der vorgegebenen Fassadenstruktur, dass Trennwände in die Fensterflächen laufen bzw. an der Glasebene abschließen.
Ein Haus im Haus
Diese Separation von Außenfassade und Innenleben schafft ein Haus im Haus, und durch die aktuelle Sensibilität für Fake News ist man vielleicht versucht, „Fassadenschwindel“ oder „Potemkin“ zu rufen. Der Kompromiss zwischen historischer Altstadtstruktur, bestehenden städtebaulichen Spielregeln und funktionalem Innenleben kann jedoch durchaus funktionieren. Nachts könnte dieses Liniengerüst aus Sprossen und Kämpfern einem raumgewordenen Mondrian gleichen, bei dem die Grundfarben durch die je nach Belegung der Hotelzimmer verschiedenen Beleuchtungsszenarien ersetzt werden.
Auch die Ausblicke aus den 160 Zimmern (je 32 pro Geschoß) unterscheiden sich nicht nur nach ihrer Ausrichtung: Im Dachgeschoß erhält man mittels durchlaufender Fensterbänder eine Art „Vollvisier-Zimmer“, während man im dritten Geschoß in Augenhöhe durch Teile jener Bordüre aus Lochblech hindurchsieht, die das Jugendstil-Muster der ursprünglichen Fassade paraphrasieren und gleichzeitig von außen eine Geschoßteilung andeuten, die es im Inneren eben nicht mehr gibt. Deshalb verbergen auch einige Sprossenteilungen der Fenster Absturzsicherungen unter der Verkleidung aus bronzefarbenen Alu-eloxierten U-Profilen. Die zwischen Gold und Bronze changierende Farbe findet sich in der asymmetrisch geformten offenen Streckmetallhülle wieder, die auf dem Flachdach gelagerte Technikaufbauten verdeckt. Die konstruktiven Teile der Fassade, deren Schmuck unter den Waschbetonplatten weitgehend verloren gegangen war, wurden in warmes Steingrau gehüllt: Der auf Thermoputz aufgebrachte Oberputz ist farbig lasiert und „abgewischt“ – haptisch ansprechend, nachträgliche Ausbesserungen sind aber nur bedingt möglich.
Im Erdgeschoß markieren zwei gerundete Vordächer an den schrägen Ecken den Eingang zum Dorotheum an der Gleisdorfergasse bzw. zur Hotellobby am Opernring. Öffnen werden sich diese Türen für jene, die auf das Innenleben neugierig sind – frühestens Ende Juni . . .
Unwillkürlich ordnete man dieses Gebäude einer weniger gelungenen 1960er-Jahre-Architektur zu, dabei liest sich die wahre Geschichte des einstmals sogenannten Englischen Hauses ganz anders: Das repräsentative Kaufhaus nach Plänen von Leopold Thayer und Johann Baltl, das ab 1908/1909 vom Opernring aus diese Ecke schrittweise, Gebäude für Gebäude, übernahm und die bestehende dreigeschoßige Struktur überformte, war konstruktiv ein Stahlbetongebäude, formal mit einer gehörigen Dosis Gründerzeit und Jugendstil versehen: vier Vollgeschoße mit hohen Fenstern, dazu ein Mansardgeschoß mit Dachgauben und aufgesetztem Satteldach, zum Jakominiplatz hin symmetrisch ausgebildet mit einem abgerundeten Erker als Andeutung eines Mittelrisaliten und seitlich zwei Berliner Ecken, die, um die Schrägkante abzumildern, in den oberen Geschoßen mit zarten Balkonen ausgestattet und in der Dachebene nochmals mit Türmchen betont waren.
Lukrativere Funktion
Es lässt sich nur spekulieren, ob Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts dieses Gebäude als „schön“ empfanden – sicher jedoch als der Zeit, der Funktion, dem Ort angemessen. In den 1960er-Jahren, als es vom Dorotheum übernommen wurde, fehlten bereits einige der „Verzierungen“, aber erst durch den Zu- und Umbau der Wiener Architekten Anton Potyka/Franz Comsi 1969 wurden die Fassaden in ihren Proportionen verändert und die ursprüngliche Raumidee gänzlich unleserlich gemacht.
Seit etwa 2015 wurde seitens des Dorotheums zusammen mit dem Architekturbüro Hohensinn und unter Einbindung der Grazer Altstadt-Sachverständigenkommission am Konzept für eine neuerliche Transformation gearbeitet: Das Dorotheum sollte sich an diesem Standort konzentriert im Erdgeschoß präsentieren, während die Lagerflächen im zweiten und dritten Obergeschoß eine dem stark frequentierten innerstädtischen Platz entsprechende, lukrativere Funktion bekommen sollten. Eine deutsche Hotelkette wurde als Mieter gewonnen und in die Planung eingebunden.
Tatsächlich wurde zunächst an Abbruch und Neubau gedacht, aber das hätte durch die notwendige Einhaltung aktuell gültiger Grenz- und Gebäudeabstände einen erheblichen Verlust an Fläche und Volumen bedeutet. So entschied man sich für einen Zu- und Umbau. Etwa musste die „wesentliche“ Substanz des Hauses erhalten bleiben: in diesem Fall die Außenmauern mit ihren ursprünglichen Öffnungen in ihren „alten“ Proportionen. Neugierige Passanten konnten an der seit 2020 bestehenden Baustelle deshalb immer wieder aufschlussreiche Blicke in das Innere des Gebäudes werfen, das segmentweise ausgehöhlt und gleichzeitig weitergebaut wurde, um die statische Sicherheit der Außenhülle zu gewährleisten.
Das Rentabilitätskonzept des neuen Mieters „Motel One“ forderte mehr Fläche als im Bestand vorhanden, und so wurde mit den „Stockwerken“ gespielt: Das Erdgeschoß verbleibt in seiner ursprünglichen Höhe, aber aus den darüber liegenden vier Geschoßen wurden nun bei gleichbleibender Gesamthöhe fünf. Das bedeutet, dass die an der Hülle ablesbaren Teilungen nicht mehr mit den Geschoßteilungen im Inneren übereinstimmen. Und dies gilt nicht nur für die horizontalen, sondern auch für die vertikalen Teilungen: „Motel One“ setzt auf eine großzügige, mit „lokal inspiriertem Designkonzept“ (in dem Fall von Decasa) ausgestattete Lobby bei minimalen Zimmergrößen; so wird etwa zugunsten einer Kleiderstange auf einen Schrank verzichtet. Die strikte Normierung der Grundrisse bedingt bei der vorgegebenen Fassadenstruktur, dass Trennwände in die Fensterflächen laufen bzw. an der Glasebene abschließen.
Ein Haus im Haus
Diese Separation von Außenfassade und Innenleben schafft ein Haus im Haus, und durch die aktuelle Sensibilität für Fake News ist man vielleicht versucht, „Fassadenschwindel“ oder „Potemkin“ zu rufen. Der Kompromiss zwischen historischer Altstadtstruktur, bestehenden städtebaulichen Spielregeln und funktionalem Innenleben kann jedoch durchaus funktionieren. Nachts könnte dieses Liniengerüst aus Sprossen und Kämpfern einem raumgewordenen Mondrian gleichen, bei dem die Grundfarben durch die je nach Belegung der Hotelzimmer verschiedenen Beleuchtungsszenarien ersetzt werden.
Auch die Ausblicke aus den 160 Zimmern (je 32 pro Geschoß) unterscheiden sich nicht nur nach ihrer Ausrichtung: Im Dachgeschoß erhält man mittels durchlaufender Fensterbänder eine Art „Vollvisier-Zimmer“, während man im dritten Geschoß in Augenhöhe durch Teile jener Bordüre aus Lochblech hindurchsieht, die das Jugendstil-Muster der ursprünglichen Fassade paraphrasieren und gleichzeitig von außen eine Geschoßteilung andeuten, die es im Inneren eben nicht mehr gibt. Deshalb verbergen auch einige Sprossenteilungen der Fenster Absturzsicherungen unter der Verkleidung aus bronzefarbenen Alu-eloxierten U-Profilen. Die zwischen Gold und Bronze changierende Farbe findet sich in der asymmetrisch geformten offenen Streckmetallhülle wieder, die auf dem Flachdach gelagerte Technikaufbauten verdeckt. Die konstruktiven Teile der Fassade, deren Schmuck unter den Waschbetonplatten weitgehend verloren gegangen war, wurden in warmes Steingrau gehüllt: Der auf Thermoputz aufgebrachte Oberputz ist farbig lasiert und „abgewischt“ – haptisch ansprechend, nachträgliche Ausbesserungen sind aber nur bedingt möglich.
Im Erdgeschoß markieren zwei gerundete Vordächer an den schrägen Ecken den Eingang zum Dorotheum an der Gleisdorfergasse bzw. zur Hotellobby am Opernring. Öffnen werden sich diese Türen für jene, die auf das Innenleben neugierig sind – frühestens Ende Juni . . .
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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