Artikel

Wien-Wieden: Graue Zone Innenhof
Spectrum

In einem Innenhof im vierten Wiener Gemeindebezirk soll eine alte Kfz-Werkstatt einem Projekt mit unterkellertem Hotel weichen. So bleibt das Gewerbe in der Stadt – und macht trotzdem nicht froh.

13. Mai 2022 - Isabella Marboe
Ein Innenhof in Wien-Wieden: Sein repräsentatives Entrée liegt an der Wiedner Hauptstraße 52, das Haus wurde 1846/47 als Heinrich Mayer's Hotel und Restauration „Zur grünen Weintraube“ errichtet. Im Hof saßen bis zu 400 Menschen unter den Bäumen, zehn Kellner bildeten die „Gartenbrigade“, auf Gastlichkeit folgte das Automobil. 1957 planten die Architekten Löschner & Helmer eine Kfz-Werkstätte, die Friedrich Achleitner in seinen Architekturführer aufnahm. „Die Kfz-Reparaturwerkstätte besteht aus einem Schnellservicedienst und einer großen Reparaturhalle, die 30 Meter frei gespannt als Stahlbeton-Bogen-Shedhalle ausgebildet ist. Die leichte und kühne Konstruktion, aber auch das hauchdünne Schalendach im Hof vermitteln etwas vom zukunftsweisenden Zeitgeist der späten 1950er-Jahre.“ Heute ist hier das Autohaus Wiesenthal, es gibt eine Durchfahrt in den Hof und „Service in the City“. Sehr praktisch, doch Kfz-Werkstätten sterben aus, längst verglühte zukunftweisender Zeitgeist im Klimawandel. Nähme man Letzteren ernst, wären Innenhöfe radikal zu entsiegeln, zu begrünen und die kluge Nutzung von Bestand jedem Neubau vorzuziehen. Stichwort graue Energie, vom (bau)kulturellen Wertverlust ganz zu schweigen.

Im Jahr 2018 erwarb die JP Immobiliengruppe das Haus mitsamt Hof. Dessen südliche Grundgrenze verläuft in zweiter Reihe der Blockrandschicht entlang der Großen Neugasse, nach etwa 60 Metern mündet die Mostgasse ein, dahinter liegt die Shedhalle. Im März 2021 zeichneten Architekt Martin Mittermair und HOT Architektur den ersten Einreichplan, im Dezember 2021 wurde der Anrainerschaft eine „Verständigung gemäß § 70 Abs. 2 der Bauordnung für Wien“ per RSb-Brief zugestellt. Für „Sanierung bzw. Umbau des Straßengebäudes sowie die Errichtung eines unterkellerten Hotels im Hofbereich“ lag ein Ansuchen um Baubewilligung vor, drei Wochen waren Akteneinsicht und schriftliche Einwendungen möglich.

Petition mit 699 Unterschriften

Die Architekten Josef Reich und Iris Karminski, beide wohnen in der Großen Neugasse, nahmen Einsicht. Das Bauvorhaben bringt es auf über neun Meter Höhe, 254 Mikro-Appartements, Tiefgarage. „Gegen betreutes Wohnen hätte ich nichts“, sagt Reich. Karminski sieht von ihrem Fenster auf das Sheddach der Halle – kein berauschender Anblick, aber: nicht höher als 7,50 Meter, an den Grundgrenzen wachsen eine Pappel und ein prächtiger Maulbeerbaum. „Man hört hier morgens und abends die Singvögel. Von dieser Baumreihe werden alle fallen“, meint sie. Reich fürchtet tiefgaragen- und zulieferungsbedingten Verkehr. Beide informierten, koordinierten, verteilten Flugzettel und starteten die Petition „Keine Immobilienspekulation in Wiener Innenhöfen – Stadtplanung im Sinne der Bewohner“ mit 699 Unterschriften. Man kontaktierte Medien, beauftragte einen Rechtsanwalt. „Seine Bürgerrechte durchzusetzen ist Sisyphusarbeit“, sagt Karminski.

Der Hof hat 5970 Quadratmeter Grundfläche, 70 Prozent sind bebaubar, 7,5 Meter Bauhöhe vorgeschrieben, Flachdach. Die Widmung ist Gemischtes Baugebiet-Geschäftsviertel, auch Beherbergungsstätten und Hotels fallen darunter. „JP Immobilien ist in ganz Europa sehr erfolgreich als Hotel Developer tätig. Natürlich auch in Wien“, sagt Jürgen Wagner, Bereichsleiter Projektentwicklung der JP Immobiliengruppe. Kürzlich schloss „Das Triest“, eines der ersten Designhotels Wiens, seine Pforten – Covid 19 traf die Stadthotellerie ins Mark. Braucht es da noch mehr? „Vor Covid buchten rund 1,4 Milliarden Menschen pro Jahr ein Hotel, davon die Hälfte in Europa.“ Keine schlechte Basis, also baut die JP Immobiliengruppe nun in der Wieden die „Marktposition unseres europaweiten Hotelportfolios nachhaltig aus“. Architekt Martin Mittermair plant Sanierung, Um- und Ausbau der Wiedner Hauptstraße 52. Das leere Haus wird hofseitig bis zur Mittelmauer entkernt und bis zur Fluchtlinie verbreitert, im Erdgeschoß soll es Restaurant und Bar geben, darüber 49 Wohneinheiten. Wo das Schalendach war, dockt am Bestand ein neuer, L-förmiger Bauteil an, der bis zur Mostgasse reicht und einen Grünraum einfasst. Sein Grundriss: Mittelgang, rechts und links je ein Zimmer mit Nasszelle, dazu eine kleine Loggia. Der Zugang an der Mostgasse wird zur Tiefgaragenabfahrt mit 88 Plätzen. Viele haben hier den Hof gequert, das Autohaus Wiesenthal hat diese nachbarliche Praxis geduldet. Adieu, Schleichweg.
Bauen emotionalisiert

„Derzeit ist die Fläche zu 100 Prozent versiegelt, in unserem Projekt gibt es Wiese und Bäume“, sagt Mittermair. „Begrünung ist ein städtebaulicher Schwerpunkt, wir haben 40 bis 50 Zentimeter Humusschicht auf unseren Flachdächern.“ Dazu Fotovoltaikpaneele. Parallel zur Wiedner Hauptstraße setzen HOT Architekten statt der Shedhalle zwei weitere Riegel in den Hof: Mikro-Appartements nach dem Prinzip wie oben. Die Werkstatt verbaute 3970 Quadratmeter Grund, das neue Projekt 3690; gesamt schafft es 8400 Quadratmeter Nettonutzfläche.

„Der Architekt als Planer und wir als Bauherren kennen die Bauordnung und befolgen sie akkurat“, sagt Wagner. Die maximale Bauhöhe auf dem Grundstück sind 7,50 Meter, in drei Meter Abstand vom Nachbarn sind drei Meter mehr möglich. „Wir könnten theoretisch mit 10,5 Meter Höhe noch dichter bauen.“ Nun sind die Riegel im Wesentlichen 9,2 Meter hoch. Diese drei Geschoße sind erlaubt, denn die 7,50 Meter bezeichnen den gemittelten Wert der gesamten Fassadenabwicklung. Dazu zählen die witterungsgeschützten Durchgänge, die am Rand der 6,6 bis 7,5 Meter tiefen Rasenstreifen zwischen den Bauteilen eine Verbindung schaffen. Sie sind 2,70 Meter hoch – die Differenz auf die 7,50 Meter war an anderer Stelle gut zu brauchen.

„Was hier nie wieder passiert: offene Werkstatttore, aus denen der Spengler hinausflext“, sagt Mittermair. „Es wird mehr Qualität haben.“ Warum dann der Protest? Weil Bauen emotionalisiere. „Wir sprechen mit der Anrainerschaft“, sagt Wagner. „Aber es ist nicht nötig, um unser Baurecht zu nutzen.“ Er und die Architekten sind sich einig: Wollte die Stadt andere Ideen, müsste sie Bauordnung und Flächenwidmungsplan ändern. „Unser Ziel ist der Schutz von Gewerbe in der Stadt“, sagt Bernhard Steger, Leiter der MA 21A, zuständig für Stadtteilplanung und Flächenwidmung der inneren Bezirke. „Die großen Qualitäten der Gründerzeit sind gemischte Strukturen. Deswegen ist im Gemischten Baugebiet-Geschäftsviertel die Errichtung von Wohnungen nicht zulässig. Durch die Beherbergungsbetriebe ist ein Graubereich entstanden.“ Dieser Graubereich ist Investoren nicht entgangen. „Das stört uns massiv“, merkt Kollege Hermann Eckart an. „Diese Entwicklung ist bereits ein Thema in der Stadtplanung.“

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: