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Brüssel hat aus seinen Fehlern gelernt
Erneuerung ohne Rücksicht auf Verluste – sorgfältiger Urbanismus war ein Fremdwort in einer Stadt, die erst ihren Fluss per Überwölbung verschwinden ließ, um kurz danach die halbe Altstadt abzureißen. Nun gibt es neue Hoffnung für das gequälte Brüssel.
22. August 2022 - Harald A. Jahn
„Brüsselisierung“: So brutal geht Brüssel mit seinem Bauerbe um, dass ein eigenes Wort geschaffen wurde. Erneuerung ohne Rücksicht auf Verluste; sorgfältiger Urbanismus war ein Fremdwort in einer Stadt, die erst ihren Fluss per Überwölbung verschwinden ließ, um kurz danach die halbe Altstadt abzureißen – für eine Eisenbahn-Tunnelstrecke, deren Trasse heute von großvolumiger Stahlbeton-Standardware gesäumt wird. Inzwischen ist diese Eisenbahnstrecke Kernstück eines dicht vertakteten Bahnnetzes und ein Hauptgrund, nach der Arbeit auszupendeln, nach Mechelen oder Gent, nur eine halbe Stunde entfernt: Schnelle Verbindungen sind aber nicht gewonnene Zeit, sondern verlorener Raum, und auch Steuereinnahmen gehen verloren, wenn die Mitarbeiter Brüsseler Unternehmen außerhalb wohnen.
Seit den 1990er-Jahren versucht Brüssel gegenzusteuern, den Mittelstand zurückzuholen, und setzt dafür bewusst auf Gentrifizerung – ein Werkzeug, das in anderen Städten differenziert und auch kritisch betrachtet wird. Besonders in Molenbeek, einem durchaus berüchtigten Zuwandererviertel am Kanal Brüssel-Charleroi, wird die Veränderung immer deutlicher. Ein wichtiger Brückenkopf bei der Infiltration mit zeitgemäßer Kultur war das Millennium Iconoclast Museum of Art: Es besiedelte das Backsteingebäude einer alten Brauerei und hat den Anspruch, die Kunst der jungen Generation zu vermitteln, viele der Künstler kommen aus der Street-Art-Szene. In den umliegenden Trakten dann die typischen Nutzungen in solchen Clustern: Designerhotel, Coachingzentrum für Jungunternehmer, Gastronomie – während dahinter ein neues Wohnhochhaus in den Himmel wächst, mit Traumblick auf Brüssel.
Einen Kilometer weiter nördlich begrenzt der breite Boulevard Leopold II. den kleinteiligen Stadtteil; hier haben sich schon vor einigen Jahrzehnten riesige postmoderne Bürohäuser in das zarte Stadtgefüge Molenbeeks gefressen. Am anderen Ufer des Kanals entsteht gerade ein Projekt, das die Museumslandschaft Brüssels künftig dominieren wird: das Centre Pompidou Kanal. Der ehemalige Verkaufstrakt von Citroën dominiert die Place de l'Yser: ursprünglich eine luftige Halle in Stromlinienform, fast 25 Meter hoch, ohne Zwischenebenen, nachts dramatisch beleuchtet; erst später wurden sechs Stockwerke eingezogen.
Hinter dem „Showblock“ besetzt die Garage fast das ganze 100 mal 200 Meter große Grundstück, es war das größte Gebäude des Konzerns (zwei Hauseigentümer weigerten sich seinerzeit zu verkaufen, ihre Altbauten stecken seither als Fremdkörper im Objekt und der eleganten Glasfassade). Vom Vordertrakt mit den Verkaufsbereichen und Büros führt eine „Straße“ in die Tiefe, flankiert von Garagenflächen, Werkstätten und Ersatzteillagern. 2015 kaufte die Stadtentwicklungsgesellschaft der Region Brüssel-Hauptstadt den Komplex, um ein internationales kulturelles Zentrum zu errichten. 2019 konnte die Bevölkerung die Fabrik erstmals erforschen, das Centre Pompidou als künftiger Betreiber bespielte sie temporär mit raumgreifenden Exponaten – die sich in den 35.000 Quadratmetern trotzdem verloren. Inzwischen arbeitet eine Architektengruppe (noAarchitecten, Brüssel; EM2N, Zürich; Sergison Bates architects, London) am Projekt „Eine Bühne für Brüssel“. Ab 2024 soll sich der Komplex zur Umgebung öffnen, den Bürgern eine gastfreundliche Erweiterung ihrer Stadt anbieten, überdacht, mit Restaurants und Geschäften. Trotz seiner Dimensionen ist dieses „Museumsquartier“ aber nur der Eckpunkt einer noch größeren Entwicklungszone, die sich entlang des Kanals dahinter weiterzieht.
Güterbahnhöfe und Hafenanlagen: Das sind die Potenzialflächen heutiger Städte. Das Tour-&-Taxis-Gelände liegt nördlich des Kanals in Sichtweite der Citroën-Garage; der Name stammt von der deutschen Adelsfamilie Thurn und Taxis, die hier im 16. Jahrhundert den ersten internationalen Postdienst organisierte. Ab 1900 entstand ein multimodaler Verkehrsknoten mit Umladeanlagen, Zollspeichern, Depots. Die Aufhebung der europäischen Zollschranken und das Aufkommen des Lkw-Verkehrs verringerten die Bedeutung des Umschlagplatzes, 1987 zog der letzte Nutzer aus. Kernstück war der gigantische Güterbahnhof Gare Maritime, eine vier Hektar große Hallenkonstruktion mit drei Hauptschiffen und vier verbindenden/flankierenden Zwischentrakten. Nach langer Diskussion über mögliche Nachnutzungen entschied man sich für ein multifunktionales Stadtteilzentrum; der grandios gelungene Umbau nimmt das Konzept der „überdachten Landschaft“ vorweg, dem auch das Centre Pompidou Kanal folgt: eine Allee in der zentralen Halle, gesäumt von Pavillons, mit Geschäften, Büros, einem Hotel. Neutelings Riedijk Architects Rotterdam gelang ein sensibel umgesetztes Projekt: In die renovierte Stahlstruktur setzten sie ihre Holzbaukörper, deren Anmutung perfekt mit der Stahlstruktur harmoniert. Die zentrale Straße ist eine urbane Achse, mit ihrem Pflaster, dem Randstein, Sitzmöbeln und den Kiosken an den Seitengassen; kleine Parks schaffen Abstand zur Geschäftsfront. Typisches wiederkehrendes Element ist die X-Form der gegenläufigen Treppen ins Obergeschoß; mit den Zugangs-„Pawlatschen“ bilden sie eine intime Raumstruktur mit warmem Ambiente und angenehmer Akustik.
Noch sind viele der teils riesigen Geschäftsflächen leer, noch ist der „Food-Court“ nur zur Mittagspause der umliegenden Büros belebt; es stellt sich die Frage, ob sich die passenden Mieter finden werden, ob der Mix gelingt. Wie demnächst im Pompidou sucht auch diese Bühne das passende Ensemble für den großen Auftritt – ob die Bewohner Molenbeeks wohl in dem Stück mitspielen werden? Trotzdem, die gelungenen Proportionen, die menschlichen Dimensionen und die angenehme Ausstrahlung der Materialien bieten deutlich bessere Voraussetzungen als die seelenlose Stahl-Glas-Architektur der vergangenen „Brüsselisierungen“, die der Stadt zugesetzt haben: Hier wurde endlich wieder neue Schönheit in der gequälten Stadt verankert.
Seit den 1990er-Jahren versucht Brüssel gegenzusteuern, den Mittelstand zurückzuholen, und setzt dafür bewusst auf Gentrifizerung – ein Werkzeug, das in anderen Städten differenziert und auch kritisch betrachtet wird. Besonders in Molenbeek, einem durchaus berüchtigten Zuwandererviertel am Kanal Brüssel-Charleroi, wird die Veränderung immer deutlicher. Ein wichtiger Brückenkopf bei der Infiltration mit zeitgemäßer Kultur war das Millennium Iconoclast Museum of Art: Es besiedelte das Backsteingebäude einer alten Brauerei und hat den Anspruch, die Kunst der jungen Generation zu vermitteln, viele der Künstler kommen aus der Street-Art-Szene. In den umliegenden Trakten dann die typischen Nutzungen in solchen Clustern: Designerhotel, Coachingzentrum für Jungunternehmer, Gastronomie – während dahinter ein neues Wohnhochhaus in den Himmel wächst, mit Traumblick auf Brüssel.
Einen Kilometer weiter nördlich begrenzt der breite Boulevard Leopold II. den kleinteiligen Stadtteil; hier haben sich schon vor einigen Jahrzehnten riesige postmoderne Bürohäuser in das zarte Stadtgefüge Molenbeeks gefressen. Am anderen Ufer des Kanals entsteht gerade ein Projekt, das die Museumslandschaft Brüssels künftig dominieren wird: das Centre Pompidou Kanal. Der ehemalige Verkaufstrakt von Citroën dominiert die Place de l'Yser: ursprünglich eine luftige Halle in Stromlinienform, fast 25 Meter hoch, ohne Zwischenebenen, nachts dramatisch beleuchtet; erst später wurden sechs Stockwerke eingezogen.
Hinter dem „Showblock“ besetzt die Garage fast das ganze 100 mal 200 Meter große Grundstück, es war das größte Gebäude des Konzerns (zwei Hauseigentümer weigerten sich seinerzeit zu verkaufen, ihre Altbauten stecken seither als Fremdkörper im Objekt und der eleganten Glasfassade). Vom Vordertrakt mit den Verkaufsbereichen und Büros führt eine „Straße“ in die Tiefe, flankiert von Garagenflächen, Werkstätten und Ersatzteillagern. 2015 kaufte die Stadtentwicklungsgesellschaft der Region Brüssel-Hauptstadt den Komplex, um ein internationales kulturelles Zentrum zu errichten. 2019 konnte die Bevölkerung die Fabrik erstmals erforschen, das Centre Pompidou als künftiger Betreiber bespielte sie temporär mit raumgreifenden Exponaten – die sich in den 35.000 Quadratmetern trotzdem verloren. Inzwischen arbeitet eine Architektengruppe (noAarchitecten, Brüssel; EM2N, Zürich; Sergison Bates architects, London) am Projekt „Eine Bühne für Brüssel“. Ab 2024 soll sich der Komplex zur Umgebung öffnen, den Bürgern eine gastfreundliche Erweiterung ihrer Stadt anbieten, überdacht, mit Restaurants und Geschäften. Trotz seiner Dimensionen ist dieses „Museumsquartier“ aber nur der Eckpunkt einer noch größeren Entwicklungszone, die sich entlang des Kanals dahinter weiterzieht.
Güterbahnhöfe und Hafenanlagen: Das sind die Potenzialflächen heutiger Städte. Das Tour-&-Taxis-Gelände liegt nördlich des Kanals in Sichtweite der Citroën-Garage; der Name stammt von der deutschen Adelsfamilie Thurn und Taxis, die hier im 16. Jahrhundert den ersten internationalen Postdienst organisierte. Ab 1900 entstand ein multimodaler Verkehrsknoten mit Umladeanlagen, Zollspeichern, Depots. Die Aufhebung der europäischen Zollschranken und das Aufkommen des Lkw-Verkehrs verringerten die Bedeutung des Umschlagplatzes, 1987 zog der letzte Nutzer aus. Kernstück war der gigantische Güterbahnhof Gare Maritime, eine vier Hektar große Hallenkonstruktion mit drei Hauptschiffen und vier verbindenden/flankierenden Zwischentrakten. Nach langer Diskussion über mögliche Nachnutzungen entschied man sich für ein multifunktionales Stadtteilzentrum; der grandios gelungene Umbau nimmt das Konzept der „überdachten Landschaft“ vorweg, dem auch das Centre Pompidou Kanal folgt: eine Allee in der zentralen Halle, gesäumt von Pavillons, mit Geschäften, Büros, einem Hotel. Neutelings Riedijk Architects Rotterdam gelang ein sensibel umgesetztes Projekt: In die renovierte Stahlstruktur setzten sie ihre Holzbaukörper, deren Anmutung perfekt mit der Stahlstruktur harmoniert. Die zentrale Straße ist eine urbane Achse, mit ihrem Pflaster, dem Randstein, Sitzmöbeln und den Kiosken an den Seitengassen; kleine Parks schaffen Abstand zur Geschäftsfront. Typisches wiederkehrendes Element ist die X-Form der gegenläufigen Treppen ins Obergeschoß; mit den Zugangs-„Pawlatschen“ bilden sie eine intime Raumstruktur mit warmem Ambiente und angenehmer Akustik.
Noch sind viele der teils riesigen Geschäftsflächen leer, noch ist der „Food-Court“ nur zur Mittagspause der umliegenden Büros belebt; es stellt sich die Frage, ob sich die passenden Mieter finden werden, ob der Mix gelingt. Wie demnächst im Pompidou sucht auch diese Bühne das passende Ensemble für den großen Auftritt – ob die Bewohner Molenbeeks wohl in dem Stück mitspielen werden? Trotzdem, die gelungenen Proportionen, die menschlichen Dimensionen und die angenehme Ausstrahlung der Materialien bieten deutlich bessere Voraussetzungen als die seelenlose Stahl-Glas-Architektur der vergangenen „Brüsselisierungen“, die der Stadt zugesetzt haben: Hier wurde endlich wieder neue Schönheit in der gequälten Stadt verankert.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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