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Das Popcorn-Problem: warum die Schweiz verdichten muss – und weshalb das noch nicht funktioniert
Neue Zürcher Zeitung

Der Wohnraum wächst. Doch der Platzbedarf der Bevölkerung wächst stärker.

5. September 2022 - Giorgio Scherrer
Wäre die Schweiz ein Maissilo, dann hätte sie ein Popcorn-Problem. Wie in einem Silo, das immer voller wird, wohnen in der Schweiz immer mehr Menschen auf demselben Raum. Wie die Maiskörner im Silo werden die Menschen immer mehr aufeinandergestapelt – in höheren Gebäuden mit mehr Stockwerken und mehr Wohnungen. Und wie beim Silo, das immer höher werden muss, ist das eine Herausforderung für Raumplanung und Bauwirtschaft.

Doch das eigentliche Problem ist ein anderes: Die Bevölkerung der Schweiz wächst nicht nur, ihre Einwohner brauchen auch immer mehr Platz. Die Maiskörner ploppen zu Popcorns auf – und das Silo droht zu platzen.

Das ist – in Kürzestform – der Grund, warum Verdichtung in der Schweiz ein ungelöstes Problem ist.
Verdichten bedeutet verzichten

Zum Beispiel in Zürich, der grössten Stadt des Landes: Hier wurde im vergangenen Frühling ein Bevölkerungsrekord aus den 1960ern egalisiert. Heute leben wieder so viele Leute in Zürich wie damals, zum Höhepunkt des Nachkriegsbooms. Und doch ist die Stadt eine andere. Ganze Quartiere wurden aus dem Boden gestampft, riesige Überbauungen haben alte Häuschen ersetzt, über 80 000 zusätzliche Wohnungen sind entstanden.

Gleich viele Menschen wie 1962 – aber ein Vielfaches an Wohnraum. Das kann nur sein, wenn die einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner markant mehr Platz in Anspruch nehmen. Wenn aus kleinen Maiskörnchen voluminöses Popcorn wird.

Der Architekturprofessor Stefan Kurath von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften sagt es so: «Wir bauen zwar mehr und immer höher – aber wenn am Ende nicht mehr Leute auf demselben Raum wohnen, bringt das wenig.»

Verdichtung ist in der Schweiz auch deshalb so schwierig, weil sie uns zu etwas zwingt, was wir ungern tun, wenn das Land immer reicher und die Lebensqualität immer höher wird: Viele von uns müssten verzichten – auf zu grosse Wohnungen und immer mehr Quadratmeter Wohnraum.

«Das ist schwierig zu vermitteln», sagt Kurath. «Selber will man frei sein, gerade wenn es ums Wohnen geht. Verzichten sollen die anderen.»

Und doch hat das Schweizer Stimmvolk diesem Verzicht im Prinzip mit grosser Mehrheit zugestimmt. 2013 nahm es das geänderte Raumplanungsgesetz an. Dessen Devise: Verdichten statt zersiedeln. Um die Landschaft zu bewahren, sollen mehr Menschen auf gleich viel Raum leben, besonders in den Städten.
Die Angst, etwas zu verlieren

Die Logik ist eigentlich ganz einfach: Die Schweizer Bevölkerung wächst. Bisher wuchs auch die Fläche, auf der gewohnt wird. Aber diese Fläche kann nicht ewig weiterwachsen. Deshalb braucht es mehr Wohnungen auf weniger Platz. Und weniger Platz pro Person. Kurz: Verdichtung.

Diese soll, so die Idee der Raumplaner, vor allem mittels grosser Neubauten und Ersatzneubauten erfolgen – idealerweise entlang bestehender Verkehrsachsen in den Städten und Agglomerationen, wo die Erschliessung der Gebäude schon gegeben ist.

Der Architekturkritiker Benedikt Loderer hat dafür einen schönen Begriff: «Engros-Verdichtung» – also Verdichtung mittels Grossprojekten, die auf einen Schlag viele neue Wohnungen schaffen. «Bei dieser Art von Verdichtung profitieren in erster Linie die Grundeigentümer des stärker überbauten Landes», sagt Loderer. «Die Nachbarn dagegen verlieren etwas: Sonnenstunden, die schöne Aussicht oder gar Geld, weil ihr Grundstück weniger wert ist.»

Die Angst, etwas zu verlieren, und der Widerstand dagegen sind für Loderer das grösste Hindernis auf dem Weg zur verdichteten Schweiz. Er findet: Statt riesige Neubauten neben Häuschen zu stellen, könnte man kleine Gebäude vergrössern und aufstocken. «Dann würde man den Einfamilienhausbesitzern auch etwas geben: die Möglichkeit zu Ausbau und Wertsteigerung ihres Eigentums. Verdichtung wäre kein Engros-Geschäft mehr, sondern ein Detailhandel.»
Es wird verdichtet – aber nicht genug

Der Trend geht zurzeit allerdings in Richtung Verdichtung durch grosse Neubauten. Neu gebaute Gebäude haben immer mehr Stockwerke und mehr Wohnungen. Die neu gebauten Wohnungen werden im Schnitt immer kleiner – in den fünf grössten Städten seit 2005 um einen Drittel. Pro Fläche, auf der gebaut wird, entsteht also immer mehr Fläche, auf der gewohnt werden kann.

Besonders in Städten wird mehr gebaut und gewohnt. Im Vergleich zu den frühen 1980ern hat die Siedlungsfläche um über einen Drittel zugenommen. Wohnungen statt Industrieareale: Das ist die zentrale städtebauliche Entwicklung der letzten 50 Jahre.

Und doch reicht das nicht, damit Verdichtung funktionieren kann. Entscheidend ist nämlich, wie viel Wohnraum jeder und jede Einzelne von uns braucht. Womit wir wieder beim Popcorn-Problem wären.

1980 brauchten die Schweizerinnen und Schweizer im Durchschnitt 34 Quadratmeter Wohnfläche pro Kopf. 2020 waren es 12,3 Quadratmeter mehr. Das entspricht etwa einem kleinen Zimmer mehr pro Person. Trotz kleineren Wohnungen und grösseren Gebäuden brauchen Herr und Frau Schweizer also immer mehr Platz für sich.

Selbst wenn man nur die Neubauten betrachtet, die eigentlich Treiber der Verdichtung sein sollten, zeigt sich: Die Wohnfläche pro Person sinkt kaum, während die Wohnungen deutlich kleiner werden.

Einfamilienhäuser werden immer grösser

Die Gründe dafür sind vielfältig: Es wohnen immer weniger Leute in derselben Wohnung. Mehr Menschen wohnen allein. Gleichzeitig hält sich die platzmässig ineffizienteste Wohnform hartnäckig: Über die Hälfte der bewohnten Gebäude in der Schweiz sind Einfamilienhäuser. Darin finden jedoch weniger als ein Viertel der Haushalte Platz. Und: Die neu gebauten Einfamilienhäuser werden tendenziell immer grösser.

Das Resultat von all dem: Es wird immer mehr gebaut – und doch reicht der zusätzliche Wohnraum nicht, um mit den wachsenden Bedürfnissen einer wachsenden Bevölkerung Schritt zu halten. Oder um es in den Worten eines kürzlich erschienen Immobilienberichts der Raiffeisenbank auszudrücken: «Die Schweizer Wohngebäude nutzen den Boden zwar immer effizienter, die Schweizerinnen und Schweizer nutzen den Wohnraum aber immer ineffizienter.»

Gleichzeitig nehmen die Konflikte um die Verdichtung zu. Nachbarn haben bis zu dreimal die Möglichkeit, Rekurs gegen dasselbe Neubauprojekt einzureichen. Unter anderem wegen solcher Einsprachen ist die Dauer zwischen Baugesuch und Baubewilligung in den letzten zehn Jahren stark gestiegen – besonders bei grossen Gebäuden, besonders in den Städten.

Da also, wo Verdichtung am sinnvollsten wäre.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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