Artikel

Alles ganz anders, genau wie immer
Der Standard

Paris macht Schlagzeilen mit seiner radikalen Verkehrsberuhigung. Doch womit füllt man den gewonnenen Raum? Die modernen Sitzbänke führten zu Protesten, also gab es eine Stilkorrektur in Richtung Historie.

8. Oktober 2022 - Georg Renöckl
Hinter dem Postkartenmotiv lauert der Abgrund, nicht nur in Österreich. Auch in Paris erweist sich manches Idyll als trügerisch. Etwa in der Rue du Temple, die vom Rathaus zur Place de la République führt. Es handelt sich um eine der ältesten Straßen der Stadt, wie man es ihr auch anzusehen meint: Historische Laternen und Bänke säumen die Straße, den Metro-Eingang ziert eine Art-déco-Leuchte. Bäume spenden Schatten, ein kunstvoller Trinkbrunnen frisches Wasser.

Das sichtlich neu verlegte Pflaster und die großzügigen Beete am Straßenrand sind die einzigen ins Auge springenden Hinweise darauf, dass die altehrwürdige Verkehrsader im Juni dieses Jahres völlig umgekrempelt wurde. Den Métro-Eingang gab es hier zuvor genauso wenig wie Bänke oder Blumenbeete, und auch der vermeintlich historische Trinkbrunnen wurde neu gegossen – um immerhin 40.000 Euro. 1,5 Millionen Euro ließ sich die Stadt das altvertraute, funkelnagelneue Gesicht der Straße kosten, die nun zumindest in diesem Abschnitt zur Fußgängerzone wurde.

Bewegung über Nacht

Ach ja, keine Autos! Das ist neben mehr Wasser und Bepflanzung der markanteste Unterschied zu früher. Dabei wirkt das Straßenbild so stimmig, dass vielen Passanten wohl gar nicht auffällt, welche Grabenkämpfe der Neugestaltung vorausgingen. Nicht so sehr wegen der Verkehrsberuhigung, daran hat man sich unter Bürgermeisterin Anne Hidalgo inzwischen gewöhnt. Den rauen Wind, der ihr jetzt entgegenweht, verdankt Hidalgo der Pandemie:

Als die Menschen damals mehr Zeit zum Spazierengehen hatten, machte die Stadt auf viele nämlich einen ziemlich ungepflegten Eindruck. Ein anonymer, als @panamepropre auf Twitter aktiver Bürger postete Fotos von losen Pflastersteinen, kaputten Straßenlaternen und herumliegendem Müll unter dem Hashtag #SaccageParis („Verwüstung Paris“). Über Nacht entstand eine Bewegung: Vier Millionen Mal wurde der Hashtag bereits verwendet, nach wie vor verwenden ihn etwa 40.000 User monatlich.

Unter dem anhaltenden Druck sah sich das Pariser Rathaus genötigt, ein „Manifest für die urbane Schönheit“ zu veröffentlichen. Darin bekennen sich Anne Hidalgo und ihr Team einmal mehr zu einem tiefgreifenden Umbau von Paris, zu einer weiteren Zurückdrängung des Kfz-Verkehrs, zu mehr Begrünung und zu noch mehr Platz für das Radfahren – von nun an aber eben auch zum Erhalt des vertrauten Stadtbilds, insbesondere des Stadtmobiliars.

Gemeinsame Grammatik

In ihrem Vorwort spricht die Bürgermeisterin von einer „gemeinsamen Grammatik“ aus vertrauten Objekten des Straßenraums, die nunmehr für eine neue Erzählung genützt würden. Der Klimawandel schaffe neue Realitäten, doch bei der Anpassung daran werde man nicht auf die „Treue zum kulturellen Erbe“ vergessen. Dafür sorgt nunmehr eine „Kommission für die Regulierung des öffentlichen Raums“, ohne deren Zustimmung „kein Nagel mehr in Paris eingeschlagen werden“ dürfe, betont Urbanismus-Stadtrat Emmanuel Grégoire.

Setzte die wenig konfliktscheue Bürgermeisterin bei den Verkehrsberuhigungsmaßnahmen ihrer ersten Amtszeit noch auf neues Design, etwa die von Architekt Franklin Azzi entworfene Sitzbank „Mikado“ aus groben Holzbalken, oder auf Provisorien wie Betonblöcke und Plastikpoller, ist mit derlei Barbarismen nun Schluss. Die Rue du Temple ist die erste nach Verabschiedung des Schönheitsmanifests umgestaltete Straße und weist die neue Richtung: Verkehrsberuhigung und Begrünung ja, aber bitte mit Möbeln aus Gusseisen. Die ursprünglich geplanten moderneren Sitzgelegenheiten wurden gestrichen, die historischen Pariser Bänke aus dem 19. Jahrhundert wieder aufgestellt. Eine davon hat eine pikante Geschichte: Das seltene Original aus dem Jahr 1860 wurde von #SaccageParis-Proponenten ersteigert und der Stadt öffentlichkeitswirksam als Geschenk überreicht. Die Bank kam tatsächlich bei der Neugestaltung der Rue du Temple zum Einsatz, doch wieder sind nicht alle zufrieden: Man sei nicht einmal zur Einweihung eingeladen worden, ärgert sich @panamepropre.

Von Wien aus betrachtet, wo man noch im Jahr 2009 die am Naschmarkt verbliebenen Jugendstil-Kandelaber ohne viel Federlesens verschrottete, mag der Pariser Kampf um das alte Eisen skurril wirken. Doch sind es nun einmal die vom italienischen Architekturtheoretiker Vittorio Lampugnani treffend als „bedeutsame Belanglosigkeiten“ bezeichneten Dinge, an die viele ihr Herz hängen – weil sie in der Großstadt für Vertrautheit und ein Gefühl von Heimeligkeit sorgen. Es genügt, die charakteristischen Laternen, Bänke und Zeitungskioske in einem Bilderbuch zu sehen, um zu wissen, dass es in Paris spielt – ganz ohne Eiffelturm.

Die Straßenbilder aus Gründerzeit und Belle Epoque sind Gesamtkunstwerke, deren Elemente vom Fassadendetail bis zum Kanaldeckel aufeinander abgestimmt sind. Gabriel Davioud entwarf im Zweiten Kaiserreich nicht nur Theater, Museen, Brunnen und Plätze, die heute noch beliebt sind, sondern auch Baumscheibengitter und die nach wie vor gängige Pariser Sitzbank. Neben der Stimmigkeit des Gesamtbildes spricht auch die Nachhaltigkeit für den Erhalt dieses Erbes: Das im 19. Jahrhundert bevorzugt eingesetzte Gusseisen ist pflegeleicht und überdauert problemlos Jahrhunderte.

Form Follows Function

Die ersten anderthalb davon feiert diesen Herbst ein besonders beliebtes Pariser Alltagswahrzeichen: Der Wallace-Brunnen wird 150. Sein Erfinder Richard Wallace war kein Architekt, sondern Philanthrop. Er erlebte in seinem Schloss im Bois de Boulogne die Belagerung und den Beschuss von Paris durch preußische Truppen sowie die Niederschlagung der Kommune im Jahr 1871 mit, die schwere Zerstörungen im Stadtgebiet anrichteten. Um den Trinkwassermangel und den damit einhergehenden Alkoholismus zu bekämpfen, ließ Wallace auf eigene Kosten über hundert Trinkbrunnen aufstellen. Ihr Entwurf folgte seiner eigenen Interpretation des Prinzips „form follows function“: Die Brunnen sollten gut sichtbar und praktisch zu bedienen sein, zur Umgebung passen sowie aus kostengünstigem und langlebigem Material hergestellt werden.

Die vier Karyatiden, in deren Mitte der Wasserstrahl herabrinnt, stehen allegorisch für Einfachheit, Wohltätigkeit, Güte – und Nüchternheit. Angestoßen wird zum Geburtstag daher stilecht mit Wasser, gefeiert mit einem Reigen von Vorträgen, Ausstellungen und Themenspaziergängen. In diesem Sinne: Hoch die Tassen!

Georg Renöckl ist freier Autor und Journalist in Wien und lebte einige Jahre als Universitätslektor in Frankreich. Er veröffentlichte Bücher wie „Paris abseits der Pfade“, „Wiener Märkte“ oder „111 Orte in Nordfrankreich, die man gesehen haben muss“.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: