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Planerische Naivität in Saudi-Arabien
Die vielfach beworbene ökologische Planstadt Masdar in Abu Dhabi hält nicht, was sie versprach. Nun folgt ein weiterer Versuch mit „The Line“, einer 170 Kilometer langen Bandstadt in Saudi-Arabien. Kann das gelingen?
6. Oktober 2022 - Harald A. Jahn
Vor etwa 15 Jahren ließ eine Meldung aus Abu Dhabi aufhorchen: Eine neue Stadt sei geplant, nach ökologischen Grundsätzen, versorgt durch erneuerbare Energien, mit solarbetriebenen Wasserentsalzungsanlagen, autofrei, ohne CO2-Emissionen, mit einem automatisierten öffentlichen Verkehrssystem im Tiefgeschoß und einer Hochbahn als Verbindung zu anderen Stadtteilen. Sechs Quadratkilometer groß, knapp 50.000 Einwohner, Fertigstellung um 2016, das Grundkonzept von Stararchitekt Norman Foster: Die Renderings waren beeindruckend – die Realität umso weniger. Die Arbeiten kamen bald ins Stocken; inzwischen wurde die Fertigstellung immer weiter nach hinten verschoben.
Bis heute besteht Masdar nur aus einigen Häuserblocks; Etihad Airways haben einen Teil gekauft und als „Gated Community“ für ihr Personal der Allgemeinheit unzugänglich gemacht, Siemens hat hier das Hauptquartier aufgeschlagen, die technische Universität Abu Dhabi hat eine Niederlassung, ein Studentenheim ergänzt die Forschungseinrichtung. Aus dem Verkehrssystem wurde nichts, statt der Hochbahn umgeben riesige Parkplätze das Areal, das automatische Verkehrssystem wurde zum Touristenspielzeug, geöffnet Sonntag bis Donnerstag von neun bis fünf. Viele Ziele wie die Emissionsfreiheit wurden aufgegeben, allerdings soll die Planstadt Zentrum eines Technologie-Clusters werden, riesige Fotovoltaikanlagen unterstreichen den Anspruch. Ob das Gesamtprojekt jemals fertiggestellt wird, ob es sich jemals von der im arabischen Raum vorherrschenden Denkweise emanzipieren kann, ist fraglich. Sucht man nach Attraktionen im Umfeld, schlägt eine Tourismusplattform derzeit ausgerechnet eine „Ferrari World“ vor.
Wie eine Science-Fiction-Serie
Die Situation in Masdar beeindruckt den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman wenig. Seine Träume haben ganz andere Dimensionen: Am Roten Meer gegenüber dem ägyptischen Sharm-el-Sheikh soll eine Sonderwirtschaftszone entstehen, von der Größe Belgiens, mit einer Megacity für neun Millionen Einwohner. Auch hier muss es ein Technologiezentrum sein, eine Zukunftsstadt, ein Labor für die Welt von morgen. „Neom“ ist Teil des Projekts, Saudi-Arabien von der Ölwirtschaft unabhängiger zu machen, finanziert von genau dieser Branche: Die Ölgesellschaft Saudi Aramco ist mit zwei Billionen US-Dollar das wohl wertvollste Unternehmen der Welt, mit weit über 100 Milliarden US-Dollar Nettogewinn jährlich. 500 Milliarden will der daraus gespeiste Staatsfonds finanzieren, zudem hofft man auf Auslandsinvestitionen. In „Neom“ sollen unterschiedliche Schwerpunktregionen entstehen: „Oxagon“ als Industriezentrum, „Trojena“ als Wohn- und Freizeitgebiet im Gebirge des Hinterlands und eine absurde Wohnstadt in Linienform. Öffnet man die Website www.neom.com, wähnt man sich in einer bunten Netflix-Science-Fiction-Serie: Ein Mädchen fliegt durch eine utopische Stadtstruktur aufgetürmter Baukörper, schwebender Brücken, Gärten, Parks; all das Teil einer 170 Kilometer langen verspiegelten Struktur, die sich völlig geradlinig durch die Wüste von Saudi-Arabien zieht. Es ist „The Line“, eine Bandstadt, die in zwei gigantischen parallelen Baukörpern neun Millionen Einwohner aufnehmen soll.
Die Bewohner sollen sich in einer voll digitalisierten „Smart City“-Umgebung wiederfinden, aber: Ob es die Menschen trotz der versprochenen „westlichen Gesetze“ in der Sonderwirtschaftszone ideal finden, dass in einem Land mit Schariah-Grundlage der Computer über jedes Bier aus der Shopping Mall Bescheid weiß?
Trotz der immensen Geldsummen wirkt das Projekt unausgegoren. Die Website ist bemerkenswert unverbindlich, illustriert das Sci-Fi-Paradies mit farbenfrohen Agenturfilmchen und ebensolchen Werbetexten; diese versprechen eine Stadt, in der alles in 15 Minuten Gehdistanz liegen soll, die ausschließlich mit nachhaltiger Energie versorgt und die umliegende Natur schonen soll. Unterirdische Transportmittel sollen es erlauben, die ganze „Line“ in 20 Minuten von einem Ende zum anderen zu befahren. Zwei 500 Meter hohe verspiegelte Wandscheiben bilden die Außenwände der 200 Meter breiten Struktur, in der „Schlucht“ dazwischen soll sich das Leben entfalten. Die Bodenebene soll dem Fußverkehr und Parks vorbehalten bleiben, in den Stockwerken darunter dann Anlieferung, Versorgung und Schnellverkehr. Die Dimension des Grundrisses ist mit den Wohnbauten von Alt-Erlaa vergleichbar, diese Terrassenhäuser sind allerdings „nur“ 85 Meter hoch: Die Baukörper von „The Line“ wären sechsmal höher!
Erschütternd ist vor allem die urbanistische Naivität. Technische Lösungen werden für Probleme versprochen, die erst durch das Konzept entstehen. Mit einer Bahn soll die ganze Länge der Line in 20 Minuten von einem Ende zum anderen befahren werden – aber wozu? Die propagierte Fußgängerstadt benötigt erschließenden Nahverkehr. Verkehrsplaner rechnen mit 400 Metern Einzugsgebiet, eine Station alle 800 Meter ist also notwendig.
Nur auf den ersten Blick gut
Eine Linie ist aber nicht resilient und leistungsfähig genug, funktionierende Städte haben daher Verkehrsnetze. Ähnliches gilt für die Ver- und Entsorgung: Die Warenströme einer potenziellen Millionenstadt sind über einen so schmalen Korridor kaum zu bewältigen. Und die Probleme beginnen schon beim Bau: Wüstensand ist für Beton ungeeignet, der Transport aller Materialien von der Küste zur Baustelle wird mit fortschreitender Länge der „Line“ immer aufwendiger; die in sklavenähnlichen Bedingungen gehaltenen Arbeitskräfte benötigen trotzdem Wohnquartiere und Versorgung.
Die Idee einer Bandstadt kam erstmals mit der Verbreitung schneller Schienenverkehrsmittel auf. Der Spanier Arturo Soria y Mata entwickelte sie, um die Stadtplanung an die damals neue Madrider Straßenbahn anzupassen. Später hat Paolo Soleri in den USA die Idee weitergesponnen, Ausgangspunkt waren die dortigen unendlich zersiedelten Vorstädte. Dabei ist die Verdichtung entlang einer Verkehrsachse eine nur auf den ersten Blick gute Idee. Bewährt und durchgesetzt hat sich all das nicht, schlicht weil die Struktur der idealen Stadt nicht verstanden wurde. Es hat Gründe, dass gewachsene Städte ein Zentrum mit einzigartigen Bauten (Spital, Kultur, Verwaltung, Regierung etc.) haben, um das herum idealerweise durchmischte Viertel liegen: Die Stadt der kurzen Wege muss polyzentrisch sein, auf einer Fläche hat jeder Ort mehr umgebende mögliche Ziele (Schule, Arzt, Einkauf, Arbeitsplatz?) als entlang einer Linie. Keine noch so smarte Technik kann schlecht geplante Städte retten. Die zukunftssichere Stadt gibt es aber sowieso schon: Es ist die klassische europäische Stadt, mit menschlichen Dimensionen, sinnvoller Flexibilität – und all ihrer Schönheit.
Bis heute besteht Masdar nur aus einigen Häuserblocks; Etihad Airways haben einen Teil gekauft und als „Gated Community“ für ihr Personal der Allgemeinheit unzugänglich gemacht, Siemens hat hier das Hauptquartier aufgeschlagen, die technische Universität Abu Dhabi hat eine Niederlassung, ein Studentenheim ergänzt die Forschungseinrichtung. Aus dem Verkehrssystem wurde nichts, statt der Hochbahn umgeben riesige Parkplätze das Areal, das automatische Verkehrssystem wurde zum Touristenspielzeug, geöffnet Sonntag bis Donnerstag von neun bis fünf. Viele Ziele wie die Emissionsfreiheit wurden aufgegeben, allerdings soll die Planstadt Zentrum eines Technologie-Clusters werden, riesige Fotovoltaikanlagen unterstreichen den Anspruch. Ob das Gesamtprojekt jemals fertiggestellt wird, ob es sich jemals von der im arabischen Raum vorherrschenden Denkweise emanzipieren kann, ist fraglich. Sucht man nach Attraktionen im Umfeld, schlägt eine Tourismusplattform derzeit ausgerechnet eine „Ferrari World“ vor.
Wie eine Science-Fiction-Serie
Die Situation in Masdar beeindruckt den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman wenig. Seine Träume haben ganz andere Dimensionen: Am Roten Meer gegenüber dem ägyptischen Sharm-el-Sheikh soll eine Sonderwirtschaftszone entstehen, von der Größe Belgiens, mit einer Megacity für neun Millionen Einwohner. Auch hier muss es ein Technologiezentrum sein, eine Zukunftsstadt, ein Labor für die Welt von morgen. „Neom“ ist Teil des Projekts, Saudi-Arabien von der Ölwirtschaft unabhängiger zu machen, finanziert von genau dieser Branche: Die Ölgesellschaft Saudi Aramco ist mit zwei Billionen US-Dollar das wohl wertvollste Unternehmen der Welt, mit weit über 100 Milliarden US-Dollar Nettogewinn jährlich. 500 Milliarden will der daraus gespeiste Staatsfonds finanzieren, zudem hofft man auf Auslandsinvestitionen. In „Neom“ sollen unterschiedliche Schwerpunktregionen entstehen: „Oxagon“ als Industriezentrum, „Trojena“ als Wohn- und Freizeitgebiet im Gebirge des Hinterlands und eine absurde Wohnstadt in Linienform. Öffnet man die Website www.neom.com, wähnt man sich in einer bunten Netflix-Science-Fiction-Serie: Ein Mädchen fliegt durch eine utopische Stadtstruktur aufgetürmter Baukörper, schwebender Brücken, Gärten, Parks; all das Teil einer 170 Kilometer langen verspiegelten Struktur, die sich völlig geradlinig durch die Wüste von Saudi-Arabien zieht. Es ist „The Line“, eine Bandstadt, die in zwei gigantischen parallelen Baukörpern neun Millionen Einwohner aufnehmen soll.
Die Bewohner sollen sich in einer voll digitalisierten „Smart City“-Umgebung wiederfinden, aber: Ob es die Menschen trotz der versprochenen „westlichen Gesetze“ in der Sonderwirtschaftszone ideal finden, dass in einem Land mit Schariah-Grundlage der Computer über jedes Bier aus der Shopping Mall Bescheid weiß?
Trotz der immensen Geldsummen wirkt das Projekt unausgegoren. Die Website ist bemerkenswert unverbindlich, illustriert das Sci-Fi-Paradies mit farbenfrohen Agenturfilmchen und ebensolchen Werbetexten; diese versprechen eine Stadt, in der alles in 15 Minuten Gehdistanz liegen soll, die ausschließlich mit nachhaltiger Energie versorgt und die umliegende Natur schonen soll. Unterirdische Transportmittel sollen es erlauben, die ganze „Line“ in 20 Minuten von einem Ende zum anderen zu befahren. Zwei 500 Meter hohe verspiegelte Wandscheiben bilden die Außenwände der 200 Meter breiten Struktur, in der „Schlucht“ dazwischen soll sich das Leben entfalten. Die Bodenebene soll dem Fußverkehr und Parks vorbehalten bleiben, in den Stockwerken darunter dann Anlieferung, Versorgung und Schnellverkehr. Die Dimension des Grundrisses ist mit den Wohnbauten von Alt-Erlaa vergleichbar, diese Terrassenhäuser sind allerdings „nur“ 85 Meter hoch: Die Baukörper von „The Line“ wären sechsmal höher!
Erschütternd ist vor allem die urbanistische Naivität. Technische Lösungen werden für Probleme versprochen, die erst durch das Konzept entstehen. Mit einer Bahn soll die ganze Länge der Line in 20 Minuten von einem Ende zum anderen befahren werden – aber wozu? Die propagierte Fußgängerstadt benötigt erschließenden Nahverkehr. Verkehrsplaner rechnen mit 400 Metern Einzugsgebiet, eine Station alle 800 Meter ist also notwendig.
Nur auf den ersten Blick gut
Eine Linie ist aber nicht resilient und leistungsfähig genug, funktionierende Städte haben daher Verkehrsnetze. Ähnliches gilt für die Ver- und Entsorgung: Die Warenströme einer potenziellen Millionenstadt sind über einen so schmalen Korridor kaum zu bewältigen. Und die Probleme beginnen schon beim Bau: Wüstensand ist für Beton ungeeignet, der Transport aller Materialien von der Küste zur Baustelle wird mit fortschreitender Länge der „Line“ immer aufwendiger; die in sklavenähnlichen Bedingungen gehaltenen Arbeitskräfte benötigen trotzdem Wohnquartiere und Versorgung.
Die Idee einer Bandstadt kam erstmals mit der Verbreitung schneller Schienenverkehrsmittel auf. Der Spanier Arturo Soria y Mata entwickelte sie, um die Stadtplanung an die damals neue Madrider Straßenbahn anzupassen. Später hat Paolo Soleri in den USA die Idee weitergesponnen, Ausgangspunkt waren die dortigen unendlich zersiedelten Vorstädte. Dabei ist die Verdichtung entlang einer Verkehrsachse eine nur auf den ersten Blick gute Idee. Bewährt und durchgesetzt hat sich all das nicht, schlicht weil die Struktur der idealen Stadt nicht verstanden wurde. Es hat Gründe, dass gewachsene Städte ein Zentrum mit einzigartigen Bauten (Spital, Kultur, Verwaltung, Regierung etc.) haben, um das herum idealerweise durchmischte Viertel liegen: Die Stadt der kurzen Wege muss polyzentrisch sein, auf einer Fläche hat jeder Ort mehr umgebende mögliche Ziele (Schule, Arzt, Einkauf, Arbeitsplatz?) als entlang einer Linie. Keine noch so smarte Technik kann schlecht geplante Städte retten. Die zukunftssichere Stadt gibt es aber sowieso schon: Es ist die klassische europäische Stadt, mit menschlichen Dimensionen, sinnvoller Flexibilität – und all ihrer Schönheit.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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