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Wenn das Gerüst zum Raum wird
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Der Mies van der Rohe Award ist die höchste europäische Auszeichnung für zeitgenössische Architektur. Nominiert wurden 532 Projekte. Die 40 besten werden derzeit in einer Ausstellung im Architekturzentrum Wien präsentiert.

19. Oktober 2022 - Christian Kühn
Seit 2001 ist der Mies van der Rohe Award endlich der offizielle „Preis der EU für zeitgenössische Architektur“. Die Mies van der Rohe Stiftung in Barcelona, die den Preis seit 1988 alle zwei Jahre vergibt, hat sich bei der EU für diese Rolle beworben und den Zuschlag erhalten. Mit einem Preisgeld von 80.000 Euro gehört er neben dem Kiesler- und dem Pritzker-Preis zu den höchstdotierten Architekturpreisen der Welt. Die Nominierungen stammen aus zwei Quellen: auf der einen Seite von den Berufsvertretungen der einzelnen Länder, auf der anderen von unabhängigen Experten. Letztere werden von einem Beirat vorgeschlagen, dem Vertreter von 15 europäischen Architekturmuseen angehören, darunter das Architekturzentrum Wien (AzW). Die Berufsvertretungen nominieren je nach Größe des Landes fünf bis sieben Projekte, die Experten je fünf; und auch der Beirat hat das Recht, bis zu 20 Projekte zusätzlich vorzuschlagen. Die Auswahl der Preise aus diesen Projekten obliegt einer siebenköpfigen Jury, die diesmal aus 532 Projekten zuerst eine Shortlist von 40 Projekten zu wählen hatte. Reduziert auf sieben Finalisten, wurden diese von der Jury vor Ort besucht. Am Ende stehen ein Sieger und eine Auszeichnung für das beste Projekt eines Nachwuchsbüros fest.

Die Europakarte, die dem Award zugrunde liegt, ist etwas eigenwillig: Albanien, die Ukraine und Montenegro gehören dazu, die Schweiz nicht. Großbritannien ist 2022 zum letzten Mal dabei, allerdings mit fulminantem Abschied: Das Siegerprojekt der irischen Architektinnen Shelley McNamara und Yvonne Farrell, die als Grafton Architects firmieren, ist Teil des Campus der Kingston Universität in London. Der Name des Gebäudes, „Town House“, deutet schon an, dass man es hier nicht mit einem normalen Universitätsgebäude zu tun hat. Obwohl sich eine Bibliothek im Kern des Hauses befindet, ist es kein klassisches „Learning Center“, sondern ein offener Ort, an dem auch getanzt, gegessen und Theater gespielt wird. Das wichtigste Element des Hauses ist eine Loggia, die dem Baukörper an der Südseite vorgesetzt ist. Diese Loggia besteht aus einem raffinierten System von Platten und Stützen aus Stahlbeton mit zahlreichen Vor- und Rücksprüngen und Verkröpfungen, die nicht willkürlich sind, sondern nach einem System komponiert, das McNamara und Farrell virtuos beherrschen.

Augenmerk auf die Gebäudehülle

Das ist keine Architektur der leisen Töne: Wäre sie ein Musikinstrument, dann eine Orgel, an der alle Register gezogen sind. Ihren praktischen Zweck findet diese Loggia als Begegnungszone und als Traggerüst für vertikales Grün, das einige der Rahmen schattenspendend füllen wird. Das besondere Augenmerk auf die Gebäudehülle ist charakteristisch für die zeitgenössische Architektur, zumindest wenn man die Nominierungen zum Mies Award als repräsentativ betrachtet. Diese Hülle wird nicht mehr zweidimensional als „Fassade“ gedacht, sondern als Raumschichte mit Tiefe, die zwischen innen und außen vermittelt.

In einer extremen Form findet sich das Thema bei einem multifunktionalen Schulbau in Ghent von Xaveer De Guyter, das auf die Shortlist des Awards kam. Hier mutiert die Hülle zu einem offenen Raumgerüst, dessen Volumen den eigentlichen Nutzbau übersteigt. Auch der „Emerging“-Preis für das beste Nachwuchsbüro ging an ein Projekt, in dem die Idee von Gerüst und Hülle besonders betont wird. La Borda ist ein Baugruppenprojekt in Barcelona, das vom Architekturkollektiv Lacol gemeinsam mit den späteren Nutzern entwickelt wurde. Niedrige Mieten bei hoher räumlicher Qualität zu schaffen gelingt dem Projekt durch kompakte Grundrisse für das private Wohnen, einen günstig gepachteten Baugrund und eine preiswerte Holzkonstruktion. (Zur Zeit seiner Errichtung war das Projekt das höchste Holzhaus in Spanien.) Das Innere des Hauses wird belebt durch einen überdachten Hof, über den nicht nur alle Wohnungen, sondern auch ein zwei Geschoße hoher und damit räumlich im besten Sinn verschwenderischer Gemeinschaftsraum erschlossen werden kann.

Eine ähnliche Hof-Typologie zeichnet ein weiteres Projekt auf der Shortlist aus: einen sozialen Wohnbau in Cornellà de Llobregat in Spanien von Peris + Toral Arquitectes. Auch dieses Haus ist aus Holz, in einem Quadratraster von 3,6 Metern konstruiert, der für das Material optimal, für die üblichen Grundrisse im Wohnbau aber eher eng ist. Peris + Toral erfinden dafür einen neuen, hocheffizienten Typus von Wohnbau, ein System von scheinbar identischen Zellen, die ohne Innengänge aneinandergekoppelt werden. Verbunden ist dieser Ansatz mit einem raffinierten Erschließungssystem, das sich in den Raster integriert, und einer umlaufenden Loggia als privatem Freiraum.

Europa der Städte und Regionen

Aus österreichischer Sicht erfreulich ist, dass fünf Projekte aus Österreich auf die Shortlist der besten 40 gekommen sind, unter anderem die Schule in Neustift im Stubaital von Fasch und Fuchs, das Baugruppenprojekt Gleis 21 von 1:1 Architekten und das Atelierhaus C.21 von Werner Neuwirth, beides in Wien. Alle Projekte auf der Shortlist werden in einer Ausstellung präsentiert, die derzeit im AzW in Wien zu sehen ist. Besonders hervorzuheben ist der von David Lorente/Spread gestaltete Katalog zur Ausstellung, in dem die 532 eingereichten Projekte präsentiert werden. Er ist ein Geniestreich der Architekturpublizistik – nicht zuletzt, weil er die nationalistische Betrachtung, wie ich sie oben angestellt habe, bewusst ignoriert. Die Einträge im Katalog sind streng alphabetisch geordnet und listen mit Querverweisen sowohl die Projektnamen als auch die Namen der Architekten und jene der Städte auf, in denen sich die Projekte befinden. Je nach Auszeichnung wird den Projekten innerhalb dieser Ordnung mehr oder weniger Platz gegeben; zu den Nominierungen gibt es über mehrere Seiten lange Essays mit ausführlicher Foto- und Plandokumentation. Die Nationalstaaten kommen in diesem Katalog nicht mehr vor: Er erzählt von einem vereinten Europa der Städte und Regionen.

Neben der Ausstellung im AzW gibt es derzeit im Ringturm eine weitere sehenswerte Ausstellung, in der die Ergebnisse des wichtigsten österreichischen Architekturpreises gezeigt werden, des Bauherrenpreises der Zentralvereinigung der Architekten. Zu den sechs Preisträgern gehören die Bauherren für das Sigmund Freud Museum von Hermann Czech, das Schulzentrum in Gloggnitz von Dietmar Feichtinger und das VinziDorf Wien von Alexander Hagner und Ulrike Schartner (Gaupenraub). Auffällig ist, dass es – anders als beim Mies Award – kein mehrgeschoßiger Wohnbau auf die vordersten Plätze geschafft hat. Vielleicht wollte die Jury daran erinnern, dass die österreichische Baukultur in dieser Hinsicht doch nicht so hoch entwickelt ist, wie sie gern glaubt.

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