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Raus ins Grüne oder rein in die Stadt
Zwischen Autowaschanlagen, Kfz-Werkstätten, Casino-Cafés und Lärmschutzwänden erheben sich im Süden von Graz achtgeschoßige Baukörper. Die Anbindung an den Straßenverkehr ist das wichtigste Verkaufsargument. Denn dort, wo man gerade ist, will man sicher nicht sein.
25. November 2022 - Sigrid Verhovsek
Vorigen Herbst waren die in Graz wuchernden Baukräne mitbestimmend für den Wahlausgang: Die urbane Verdichtung war nicht nur in neuen Quartieren wie Smart City oder Reininghaus auf der rechten Murseite spürbar, tatsächlich wurde auch in den verschlafenen Villenvierteln linksseitig gebaut. Dennoch wurde das Angebot von leistbarem, qualitativ zumindest erträglichem Wohnbau nicht besser, die Diskrepanz zwischen Wohnungssuchenden und erschwinglichem Angebot nicht kleiner. Bereits vor der Energiekrise waren Mieten samt Betriebskosten im Vergleich zu Löhnen stärker angestiegen: Beim einkommensschwächsten Viertel der Österreicher steht einem über die Jahre 2010 bis 2020 berechneten Einkommenszuwachs von 26 Prozent eine Wohnkostenerhöhung von über 36 Prozent gegenüber.
Eine angemessene innerstädtische Wohnraumverdichtung bei gleichzeitiger Schonung des umliegenden Grünlandes scheint daher durchaus legitim. Das Unbehagen, das angesichts der Bautätigkeiten in Graz herrscht, beruht eher auf dem Verdacht, dass es eigentlich nicht der benötigte Wohn- oder gar Lebensraum ist, der hier produziert werden soll, sondern Betongold. Bis neue Regelungen greifen, wird es dauern, heißt es seitens der Stadtregierung angesichts der ererbten Altlasten: Die durchschnittliche Baudauer eines Geschoßwohnbaus ohne Planung und Behördenverfahren beträgt etwa 1,7 Jahre.
Tatsächlich muss man sich aber fragen, mit welchen Maßnahmen man dem eigentlichen strukturellen Problem, dass Wohnraum mittlerweile vorwiegend als Sparbuch konzipiert wird, entgegentreten will. 1908 stellte Georg Simmel fest, dass moderne Beziehungen „mit den Menschen wie mit Zahlen rechnen“: Während „in primitiveren Verhältnissen für den Kunden produziert wird, der die Ware bestellt“, produziert die moderne Großstadt für den Markt, „für völlig unbekannte, nie in den Gesichtskreis des eigentlichen Produzenten tretende Abnehmer“.
Bedürfnisse antizipieren
Bereits in der Gründerzeit boomte das kommerziell motivierte Vorhaben, Zinshäuser als „Witwenversorgung“ zu errichten. Diese zählen heute zu den begehrtesten Wohngebäuden: Ausrichtung, Form und Raumfolge waren typologisch festgelegt, lassen sich aber flexibel gestalten und nutzen. Die Qualität ist nicht nur dem Innenraum geschuldet: Mitsamt ihren Vorgärten wurden diese Häuser im Laufe eines Jahrhunderts von der Innenstadt überwachsen und infrastrukturell „zentralisiert“. Der Blockrand schafft Grüninseln im Inneren; Häuser und damit die Nachbarschaft sind überschaubar, und in großzügigen Stiegenhäusern kann man sich treffen oder sich aus dem Weg gehen. In diesem Erfolgsmodell waren neben dem Blick aufs Kapital die Bedürfnisse einer sozialen Gruppe antizipiert worden, ohne sie überzubestimmen: Möglichkeiten zur flexiblen Aneignung wurden offengelassen – eine Herausforderung, die im aktuellen Geschoßwohnbau anscheinend schwerfällt. Die Kalkulation eines kongruenten „wohnlichen“ Bedarfs des Menschen und dessen ökonomische und ästhetische Einbindung werden angesichts diverser globaler Krisen, des raschen gesellschaftlichen Wandels und der steten sozialen Ausdifferenzierung schwieriger. Gesetzlich festgelegte höhere Ansprüche im geförderten Wohnbau sollten garantieren, dass neben der angesprochenen Bedarfsgerechtigkeit ein gewisser Standard gehalten wird, sie bilden aber auch starre und teilweise kostenintensive Vorgaben. Immer öfter wird frei finanziert gebaut – dank niedriger Marktzinsen mit wesentlich höherer Rendite. 2018 kommentierte Karin Tschavgova: „Man sieht es einem Wohnbau eindeutig an, wozu er entsteht, wofür er steht, ob er einem sozialen und gesellschaftspolitischen Anspruch folgt oder aus nicht anderem (An-)Trieb als Profitmaximierung heraus entstanden ist.“
Im Grazer Süden manifestiert sich diese hellsichtige Diagnose: Zwischen Skylla und Charybdis, der stark befahrenen Triester Straße und der Südbahn, werden derzeit 510 Wohneinheiten errichtet. Umgeben von flächigen eingeschoßigen Gewerbebauten und unbewohnt aussehenden Einfamilienhäusern liegt das etwa 20.000 Quadratmeter große Grundstück direkt an der Grazer Stadtgrenze, ausgewiesen als „Kerngebiet“ mit einer Dichte von 0,6 bis 1,5. Eine alte Widmung lautete Einkaufszentrum, der entwaffnend ehrliche Zusatz: kein Siedlungsschwerpunkt.
Im Zuge der üblichen anlassbezogenen Bebauungsplanung wurde die maximal zulässige Dichte erstaunlicherweise nochmals auf 1,6 erhöht – eine aktuelle Berechnung dürfte wesentlich höher ausfallen. Ein geladener Wettbewerb für diesen Bebauungsplan mit einigen der renommiertesten Grazer Architekturbüros minimierte Kritik von dieser Seite bereits im Vorfeld. „Legen Sie sich ruhig mit uns an“, verlautbart die Immobilien-AG auf Transparenten, die die Baustelle noch umhüllen. Dahinter erhebt sich zwischen Autowaschanlagen, Kfz-Werkstätten, Casino-Cafés und Lärmschutzwänden stufenförmig der bis zu achtgeschoßige Baukörper, eine Art Blockrand, der sich spiralförmig nach innen und oben schraubt. Die Wohneinheiten sind zueinander schräg versetzt, die Fassade springt rhythmisch vor und zurück. Flachdächer und netzartige Außenhülle sollen begrünt werden.
Zimmer kleiner als Garagenplatz
Der Bebauungsgrad wurde mit maximal 75 Prozent festgelegt, öffentliche Verkehrsanbindung, Grünflächen oder Parks in der näheren Umgebung gibt es nicht, über die baugesetzlich verordneten 2550 Quadratmeter für Kinderspielplätze kann vielleicht spekuliert werden. Diese städtebauliche Lage ist im Werbeblatt der Immobilien-AG bestens charakterisiert: „Raus ins Grüne, rein in die Stadt“. Dort, wo man gerade ist, will man sicher nicht sein, die MIV-Anbindung bildet das wichtigste Verkaufsargument. Der Wohnungsschlüssel umfasst 13 Prozent Vierzimmerwohnungen (68 bis 103 Quadratmeter) und 16 Prozent Dreizimmerwohnungen (48 bis 63 Quadratmeter) – einige Zimmer sind mit acht Quadratmetern kleiner als Tiefgaragenplätze. Den Hauptanteil bilden 362 Zweizimmerwohnungen mit 32 bis 38 Quadratmeter.
Im Mittel ergibt das über das gesamte Bauvorhaben etwa 45 Quadratmeter pro Wohnung: ein Fortschritt, denn die Wettbewerbsvorgabe der Immobilien-AG lag noch bei durchschnittlich 35 Quadratmeter. Derart kleine Wohnungen lassen sich praktischerweise mit dem zunehmenden Single-Status argumentieren, entsprechen aber in dieser Lage und Form vor allem den Bedürfnissen eines Kleinanlegers, der für 200.000 Euro kaum Zinsen bekommt. Finanzkräftigere Kunden erwerben ganze Etagen und verkaufen sie stückchenweise.
Als „Ausgleich“ und zur Nachbarschaftspflege sind zwei 45 bis 55 Quadratmeter große Gemeinschaftsräume vorgesehen. Da ab 2023 zumindest 510 Personen hier wohnen sollen, darf man auf die erste Hausversammlung gespannt sein. Zu guter Letzt kümmert sich die Immobilien-AG in einem Servicepaket dann auch um die wirklich unangenehmen Dinge des Lebens: die Mieter:innen. Verträge und Mahnungen, Beschwerden oder Feedback – Anleger:innen müssen so weder „ihre“ Wohnungen noch die Menschen, die in ihnen leben, jemals kennenlernen.
Eine angemessene innerstädtische Wohnraumverdichtung bei gleichzeitiger Schonung des umliegenden Grünlandes scheint daher durchaus legitim. Das Unbehagen, das angesichts der Bautätigkeiten in Graz herrscht, beruht eher auf dem Verdacht, dass es eigentlich nicht der benötigte Wohn- oder gar Lebensraum ist, der hier produziert werden soll, sondern Betongold. Bis neue Regelungen greifen, wird es dauern, heißt es seitens der Stadtregierung angesichts der ererbten Altlasten: Die durchschnittliche Baudauer eines Geschoßwohnbaus ohne Planung und Behördenverfahren beträgt etwa 1,7 Jahre.
Tatsächlich muss man sich aber fragen, mit welchen Maßnahmen man dem eigentlichen strukturellen Problem, dass Wohnraum mittlerweile vorwiegend als Sparbuch konzipiert wird, entgegentreten will. 1908 stellte Georg Simmel fest, dass moderne Beziehungen „mit den Menschen wie mit Zahlen rechnen“: Während „in primitiveren Verhältnissen für den Kunden produziert wird, der die Ware bestellt“, produziert die moderne Großstadt für den Markt, „für völlig unbekannte, nie in den Gesichtskreis des eigentlichen Produzenten tretende Abnehmer“.
Bedürfnisse antizipieren
Bereits in der Gründerzeit boomte das kommerziell motivierte Vorhaben, Zinshäuser als „Witwenversorgung“ zu errichten. Diese zählen heute zu den begehrtesten Wohngebäuden: Ausrichtung, Form und Raumfolge waren typologisch festgelegt, lassen sich aber flexibel gestalten und nutzen. Die Qualität ist nicht nur dem Innenraum geschuldet: Mitsamt ihren Vorgärten wurden diese Häuser im Laufe eines Jahrhunderts von der Innenstadt überwachsen und infrastrukturell „zentralisiert“. Der Blockrand schafft Grüninseln im Inneren; Häuser und damit die Nachbarschaft sind überschaubar, und in großzügigen Stiegenhäusern kann man sich treffen oder sich aus dem Weg gehen. In diesem Erfolgsmodell waren neben dem Blick aufs Kapital die Bedürfnisse einer sozialen Gruppe antizipiert worden, ohne sie überzubestimmen: Möglichkeiten zur flexiblen Aneignung wurden offengelassen – eine Herausforderung, die im aktuellen Geschoßwohnbau anscheinend schwerfällt. Die Kalkulation eines kongruenten „wohnlichen“ Bedarfs des Menschen und dessen ökonomische und ästhetische Einbindung werden angesichts diverser globaler Krisen, des raschen gesellschaftlichen Wandels und der steten sozialen Ausdifferenzierung schwieriger. Gesetzlich festgelegte höhere Ansprüche im geförderten Wohnbau sollten garantieren, dass neben der angesprochenen Bedarfsgerechtigkeit ein gewisser Standard gehalten wird, sie bilden aber auch starre und teilweise kostenintensive Vorgaben. Immer öfter wird frei finanziert gebaut – dank niedriger Marktzinsen mit wesentlich höherer Rendite. 2018 kommentierte Karin Tschavgova: „Man sieht es einem Wohnbau eindeutig an, wozu er entsteht, wofür er steht, ob er einem sozialen und gesellschaftspolitischen Anspruch folgt oder aus nicht anderem (An-)Trieb als Profitmaximierung heraus entstanden ist.“
Im Grazer Süden manifestiert sich diese hellsichtige Diagnose: Zwischen Skylla und Charybdis, der stark befahrenen Triester Straße und der Südbahn, werden derzeit 510 Wohneinheiten errichtet. Umgeben von flächigen eingeschoßigen Gewerbebauten und unbewohnt aussehenden Einfamilienhäusern liegt das etwa 20.000 Quadratmeter große Grundstück direkt an der Grazer Stadtgrenze, ausgewiesen als „Kerngebiet“ mit einer Dichte von 0,6 bis 1,5. Eine alte Widmung lautete Einkaufszentrum, der entwaffnend ehrliche Zusatz: kein Siedlungsschwerpunkt.
Im Zuge der üblichen anlassbezogenen Bebauungsplanung wurde die maximal zulässige Dichte erstaunlicherweise nochmals auf 1,6 erhöht – eine aktuelle Berechnung dürfte wesentlich höher ausfallen. Ein geladener Wettbewerb für diesen Bebauungsplan mit einigen der renommiertesten Grazer Architekturbüros minimierte Kritik von dieser Seite bereits im Vorfeld. „Legen Sie sich ruhig mit uns an“, verlautbart die Immobilien-AG auf Transparenten, die die Baustelle noch umhüllen. Dahinter erhebt sich zwischen Autowaschanlagen, Kfz-Werkstätten, Casino-Cafés und Lärmschutzwänden stufenförmig der bis zu achtgeschoßige Baukörper, eine Art Blockrand, der sich spiralförmig nach innen und oben schraubt. Die Wohneinheiten sind zueinander schräg versetzt, die Fassade springt rhythmisch vor und zurück. Flachdächer und netzartige Außenhülle sollen begrünt werden.
Zimmer kleiner als Garagenplatz
Der Bebauungsgrad wurde mit maximal 75 Prozent festgelegt, öffentliche Verkehrsanbindung, Grünflächen oder Parks in der näheren Umgebung gibt es nicht, über die baugesetzlich verordneten 2550 Quadratmeter für Kinderspielplätze kann vielleicht spekuliert werden. Diese städtebauliche Lage ist im Werbeblatt der Immobilien-AG bestens charakterisiert: „Raus ins Grüne, rein in die Stadt“. Dort, wo man gerade ist, will man sicher nicht sein, die MIV-Anbindung bildet das wichtigste Verkaufsargument. Der Wohnungsschlüssel umfasst 13 Prozent Vierzimmerwohnungen (68 bis 103 Quadratmeter) und 16 Prozent Dreizimmerwohnungen (48 bis 63 Quadratmeter) – einige Zimmer sind mit acht Quadratmetern kleiner als Tiefgaragenplätze. Den Hauptanteil bilden 362 Zweizimmerwohnungen mit 32 bis 38 Quadratmeter.
Im Mittel ergibt das über das gesamte Bauvorhaben etwa 45 Quadratmeter pro Wohnung: ein Fortschritt, denn die Wettbewerbsvorgabe der Immobilien-AG lag noch bei durchschnittlich 35 Quadratmeter. Derart kleine Wohnungen lassen sich praktischerweise mit dem zunehmenden Single-Status argumentieren, entsprechen aber in dieser Lage und Form vor allem den Bedürfnissen eines Kleinanlegers, der für 200.000 Euro kaum Zinsen bekommt. Finanzkräftigere Kunden erwerben ganze Etagen und verkaufen sie stückchenweise.
Als „Ausgleich“ und zur Nachbarschaftspflege sind zwei 45 bis 55 Quadratmeter große Gemeinschaftsräume vorgesehen. Da ab 2023 zumindest 510 Personen hier wohnen sollen, darf man auf die erste Hausversammlung gespannt sein. Zu guter Letzt kümmert sich die Immobilien-AG in einem Servicepaket dann auch um die wirklich unangenehmen Dinge des Lebens: die Mieter:innen. Verträge und Mahnungen, Beschwerden oder Feedback – Anleger:innen müssen so weder „ihre“ Wohnungen noch die Menschen, die in ihnen leben, jemals kennenlernen.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroom