Artikel
Die Architektur als Weltgebäude
Überzeitliche Massstäbe für Ästhetik und Metropolenbild
26. Juli 1999 - Robert Kaltenbrunner
Kaum je dürfte ein Jahrhundert mit einer derartigen Aufbruchstimmung begonnen haben wie das zwanzigste. Die Revolution in Kunst und Alltagskultur, die Atmosphäre und Bildmacht der boomenden Grossstädte beschäftigten die Geister. Und man versuchte, die theoretischen Fundamente für die sich abzeichnenden Phänomene in Architektur und Städtebau neu zu legen - gerade «weil die moderne Grossstadt schnell und künstlich, also bewusst gebaut werden muss. Es ist nicht möglich, zu hoffen und zu erwarten, die Grossstadt werde sich aus innerer Notwendigkeit selbst rein und klar aufbauen, sie werde wachsen wie ein natürlicher Organismus; der Städtebauer hat in diesem Fall vielmehr tendenzvoll zu wollen und weit vorausschauend zu disponieren. Und er hat in wesentlichen Punkten das Gegenteil zu dem zu wollen, was in früheren Jahrhunderten erstrebt wurde.»
Die Grossstadt im Visier
Einer der wichtigsten Protagonisten auf diesem Feld war Karl Scheffler. Von ihm stammt das Verdikt, Berlin «sei dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein». Obgleich ihn dieser Satz zum vielbeschworenen Zeugen der heutigen Umbauprozesse der deutschen Hauptstadt gemacht hat, wäre es leichtfertig, sein Werk darauf zu verkürzen. Von 1907 bis zur ihrer Einstellung im Jahre 1933 war Scheffler alleinverantwortlicher Redaktor der bei Bruno Cassirer verlegten Zeitschrift «Kunst und Künstler», einer der damals führenden Kunstpublikationen Europas. Seine «Architektur der Grossstadt», 1913 erstmals veröffentlicht und nun als Reprint neu aufgelegt, fasst viele seiner Gedanken zusammen. Der Dreh- und Angelpunkt der Schefflerschen Kritik ist vom Baulichen ins Gesellschaftliche verlagert. Darin besteht ihr eigentlicher Wert. Architektur ist ihm eine öffentliche Kunst; und im Zeitalter der Moderne ist sie nur vor dem Hintergrund des städtischen Lebens erklärbar.
Scheffler definiert den Begriff Stil als «etwas Ungeheures», als eine «nach aussen projizierte innere Einheitlichkeit des Lebensgefühls umfangreicher Menschengruppen». Wenngleich er sich nicht ganz hat lösen können vom Kulturempfinden seiner Zeit, sondern eher von (gross)bürgerlichen Idealvorstellungen geprägt war, so ist ihm doch eine konservative Klarsicht zu eigen. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg umriss er die weitere Entwicklung: «An Kunstgewalt wird sich dieser grosszügige, aber ziemlich indifferente moderne Weltbaustil mit der tief klingenden Macht der alten Baustile nicht messen können; aber er wird dafür von Kapstadt bis London, von Chicago bis Berlin, von Sydney bis Paris, von Rio de Janeiro bis St. Petersburg reichen, ein Stil der Weltwirtschaft.» Daraus spricht ein Optimismus, der an seiner Vision nicht froh wird. Denn hier wird die globale Uniformierung der Städte durch die Internationalisierung der Ökonomie prophezeit.
Es ist die Vision der künftigen Grossstadt, die Scheffler vorschwebt. Er ist angetreten, um die Ziellinie einer «bewussten Grossstadtidee» zu markieren und die Zwischenergebnisse daran zu messen. «Der Stilwille der Zeit wird nur in dem Masse erkennbar, wie sich die einzelnen Bauwerke auf jenes Grossstadtideal beziehen.» Dabei scheint ein fundamentaler Zwiespalt auf. Einerseits begrüsst Scheffler die Aufbruchbereitschaft und das sich abzeichnende Neue (wie «die Blockfront als Raumelement»), andererseits sieht er die Gefahr eines «Kolonialstils» heraufziehen, der mitnichten eine «innere Einheitlichkeit», sondern lediglich die mehr oder minder kunstvolle äussere Anwendung einer Schablone spiegelt. Wo zuvor eine Korrespondenz zwischen gesellschaftlichem Charakter und baulichem Ausdruck, zwischen bürgerlichem Lebensgefühl und architektonischer Gestalt existierte, erwartete er die strikte Rationalität kühl reproduzierter Formen.
Was jene Architekten anbelangt, denen Scheffler ein Denkmal setzt, so haben sie zwar grosse Bauwerke geschaffen. Dennoch waren Alfred Messel, Ludwig Hoffmann, Peter Behrens, Heinrich Tessenow, Herman Muthesius, Herman Obrist und August Endell ihrer Zeit verhaftet. Gerade darin scheint die Wertschätzung Schefflers zu gründen - als gleichsam personifizierter Beleg für seine Forderung nach einem geordneten Übergang: «Denn es lehrt die Erfahrung jedes Tages, dass die erweiterte Form nur entstehen kann, wenn sie die alte in sich aufnimmt, wenn im grösseren Organismus die Zwischenzustände gewissermassen symbolisch erhalten bleiben.»
Megalomanie am Mittelmeer
Geordneten Übergängen, oder genauer: einer systematischen Ordnung, fühlt sich auch Herman Sörgel verpflichtet. Mit seiner 1921 veröffentlichten «Architektur-Ästhetik», die ebenfalls jüngst als Reprint neu herausgegeben wurde, bereitet er die allgemeinen Gestaltungsprinzipien und Wesensmerkmale der Architektur auf und untersetzt sie mit erkenntnistheoretischen Begründungen. «Die Unterscheidung zwischen ‹künstlerischer Wahrheit› und ‹Stil› zeigt, dass jede Architektur wohl wahr gegenüber ihrem Zeitgeist sein kann, jedoch nicht jede Zeit geeignet und stark genug ist, einen eigenen Stil auszubilden.» Indem es das «Seelische im Wahrnehmungsgehalt der Architektur» herauspräparieren will, darf Sörgels Buch als «verstandesmässiges Gegengift» zum vorherrschenden technisch-ingenieurwissenschaftlichen und damit zu einem letztlich unkünstlerischen Architekturverständnis gelesen werden. Und da sich heutzutage die Profession in einer Art Sinnkrise befindet, kann diese Lektüre nur befruchten.
Denn die künstlerische Gestaltung beruht nach Sörgel nicht in der mechanischen Erfüllung eines Zweckes, sondern in der Entwicklung einer dem Gebäude entsprechenden «Zweckidee». Er pocht auf ein so undogmatisches wie ganzheitliches Verständnis der Architektur und grenzte sie als Gestaltungskunst bewusst ab von den Darstellungskünsten. «Die architektonische Schönheit hat ein breiteres Fundament als die übrigen bildenden Künste. Wie jeder Bau in seinem Programm und seiner Entstehung von unzähligen Faktoren sozialer Art abhängt, so muss sich auch die künstlerische Seite jedes Bauwerks im widerspruchslosen Einvernehmen mit allen kulturellen Bedingtheiten eigenartig entwickeln.»
So abstrakt diese Gedanken klingen, sowenig hatte ihr Autor die Absicht, es dabei zu belassen. Sörgel war Architekt und Theoretiker, ist aber dann zum besessenen Megalomanen geworden, indem er sich von 1927 bis zu seinem Tod vornehmlich dem von ihm initiierten «Atlantropa»- Projekt widmete: Mittels eines gigantischen Staudamms vor Gibraltar wollte er Teile des Mittelmeers trockenlegen, dadurch 600 000 Quadratkilometer Land- und sagenhafte Energiegewinne erzielen und - in Gestalt einer Brücke zwischen Sizilien und Tunesien - eine durchgehende Auto- und Eisenbahnverbindung zwischen Europa und Afrika erschaffen. Diese Pläne blieben Makulatur. Seine «Theorie der Baukunst» aber hat seinerzeit zu Recht viel Aufmerksamkeit erfahren, bot sie doch eine kohärente Zusammenschau der kunstphilosophischen und -psychologischen Diskussionen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und zugleich einen der letzten systematischen Versuche, das Wesen der Architektur zu erklären.
Zwischen Kitsch, Kunst und Konvention in der Architektur zu unterscheiden dürfte ein elementares Anliegen gerade unserer zunehmend globalisierten und medialisierten Umwelt sein. Eine diesbezügliche Unkenntnis lässt sich jedenfalls durch Kapital und Tatkraft (allein) nicht ersetzen; vielmehr bedarf es gezielter gesellschaftlicher Interpretation und kultureller Distinktion. Darum geht es Scheffler und Sörgel, so unvergleichlich beider Ansätze, Aussagen und Argumentationen letztlich sein mögen. Darin besteht auch ihre Aktualität. Herausgekommen waren damals zwei Bücher, die das Zeug zum Klassiker hatten, es jedoch nie wurden. Aber nachdem sie nun als Reprints vorliegen, könnte sich das ja noch ändern.
[ Herman Sörgel: Architektur-Ästhetik. Neuausgabe mit einem Nachwort von Jochen Meyer. Verlag Gebr. Mann, Berlin 1999. 364 S., Fr 131.-. - Karl Scheffler: Die Architektur der Grossstadt. Neuausgabe mit einem Nachwort von Helmut Geisert. Verlag Gebr. Mann, Berlin 1999. 294 S., Fr. 154.-. ]
Die Grossstadt im Visier
Einer der wichtigsten Protagonisten auf diesem Feld war Karl Scheffler. Von ihm stammt das Verdikt, Berlin «sei dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein». Obgleich ihn dieser Satz zum vielbeschworenen Zeugen der heutigen Umbauprozesse der deutschen Hauptstadt gemacht hat, wäre es leichtfertig, sein Werk darauf zu verkürzen. Von 1907 bis zur ihrer Einstellung im Jahre 1933 war Scheffler alleinverantwortlicher Redaktor der bei Bruno Cassirer verlegten Zeitschrift «Kunst und Künstler», einer der damals führenden Kunstpublikationen Europas. Seine «Architektur der Grossstadt», 1913 erstmals veröffentlicht und nun als Reprint neu aufgelegt, fasst viele seiner Gedanken zusammen. Der Dreh- und Angelpunkt der Schefflerschen Kritik ist vom Baulichen ins Gesellschaftliche verlagert. Darin besteht ihr eigentlicher Wert. Architektur ist ihm eine öffentliche Kunst; und im Zeitalter der Moderne ist sie nur vor dem Hintergrund des städtischen Lebens erklärbar.
Scheffler definiert den Begriff Stil als «etwas Ungeheures», als eine «nach aussen projizierte innere Einheitlichkeit des Lebensgefühls umfangreicher Menschengruppen». Wenngleich er sich nicht ganz hat lösen können vom Kulturempfinden seiner Zeit, sondern eher von (gross)bürgerlichen Idealvorstellungen geprägt war, so ist ihm doch eine konservative Klarsicht zu eigen. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg umriss er die weitere Entwicklung: «An Kunstgewalt wird sich dieser grosszügige, aber ziemlich indifferente moderne Weltbaustil mit der tief klingenden Macht der alten Baustile nicht messen können; aber er wird dafür von Kapstadt bis London, von Chicago bis Berlin, von Sydney bis Paris, von Rio de Janeiro bis St. Petersburg reichen, ein Stil der Weltwirtschaft.» Daraus spricht ein Optimismus, der an seiner Vision nicht froh wird. Denn hier wird die globale Uniformierung der Städte durch die Internationalisierung der Ökonomie prophezeit.
Es ist die Vision der künftigen Grossstadt, die Scheffler vorschwebt. Er ist angetreten, um die Ziellinie einer «bewussten Grossstadtidee» zu markieren und die Zwischenergebnisse daran zu messen. «Der Stilwille der Zeit wird nur in dem Masse erkennbar, wie sich die einzelnen Bauwerke auf jenes Grossstadtideal beziehen.» Dabei scheint ein fundamentaler Zwiespalt auf. Einerseits begrüsst Scheffler die Aufbruchbereitschaft und das sich abzeichnende Neue (wie «die Blockfront als Raumelement»), andererseits sieht er die Gefahr eines «Kolonialstils» heraufziehen, der mitnichten eine «innere Einheitlichkeit», sondern lediglich die mehr oder minder kunstvolle äussere Anwendung einer Schablone spiegelt. Wo zuvor eine Korrespondenz zwischen gesellschaftlichem Charakter und baulichem Ausdruck, zwischen bürgerlichem Lebensgefühl und architektonischer Gestalt existierte, erwartete er die strikte Rationalität kühl reproduzierter Formen.
Was jene Architekten anbelangt, denen Scheffler ein Denkmal setzt, so haben sie zwar grosse Bauwerke geschaffen. Dennoch waren Alfred Messel, Ludwig Hoffmann, Peter Behrens, Heinrich Tessenow, Herman Muthesius, Herman Obrist und August Endell ihrer Zeit verhaftet. Gerade darin scheint die Wertschätzung Schefflers zu gründen - als gleichsam personifizierter Beleg für seine Forderung nach einem geordneten Übergang: «Denn es lehrt die Erfahrung jedes Tages, dass die erweiterte Form nur entstehen kann, wenn sie die alte in sich aufnimmt, wenn im grösseren Organismus die Zwischenzustände gewissermassen symbolisch erhalten bleiben.»
Megalomanie am Mittelmeer
Geordneten Übergängen, oder genauer: einer systematischen Ordnung, fühlt sich auch Herman Sörgel verpflichtet. Mit seiner 1921 veröffentlichten «Architektur-Ästhetik», die ebenfalls jüngst als Reprint neu herausgegeben wurde, bereitet er die allgemeinen Gestaltungsprinzipien und Wesensmerkmale der Architektur auf und untersetzt sie mit erkenntnistheoretischen Begründungen. «Die Unterscheidung zwischen ‹künstlerischer Wahrheit› und ‹Stil› zeigt, dass jede Architektur wohl wahr gegenüber ihrem Zeitgeist sein kann, jedoch nicht jede Zeit geeignet und stark genug ist, einen eigenen Stil auszubilden.» Indem es das «Seelische im Wahrnehmungsgehalt der Architektur» herauspräparieren will, darf Sörgels Buch als «verstandesmässiges Gegengift» zum vorherrschenden technisch-ingenieurwissenschaftlichen und damit zu einem letztlich unkünstlerischen Architekturverständnis gelesen werden. Und da sich heutzutage die Profession in einer Art Sinnkrise befindet, kann diese Lektüre nur befruchten.
Denn die künstlerische Gestaltung beruht nach Sörgel nicht in der mechanischen Erfüllung eines Zweckes, sondern in der Entwicklung einer dem Gebäude entsprechenden «Zweckidee». Er pocht auf ein so undogmatisches wie ganzheitliches Verständnis der Architektur und grenzte sie als Gestaltungskunst bewusst ab von den Darstellungskünsten. «Die architektonische Schönheit hat ein breiteres Fundament als die übrigen bildenden Künste. Wie jeder Bau in seinem Programm und seiner Entstehung von unzähligen Faktoren sozialer Art abhängt, so muss sich auch die künstlerische Seite jedes Bauwerks im widerspruchslosen Einvernehmen mit allen kulturellen Bedingtheiten eigenartig entwickeln.»
So abstrakt diese Gedanken klingen, sowenig hatte ihr Autor die Absicht, es dabei zu belassen. Sörgel war Architekt und Theoretiker, ist aber dann zum besessenen Megalomanen geworden, indem er sich von 1927 bis zu seinem Tod vornehmlich dem von ihm initiierten «Atlantropa»- Projekt widmete: Mittels eines gigantischen Staudamms vor Gibraltar wollte er Teile des Mittelmeers trockenlegen, dadurch 600 000 Quadratkilometer Land- und sagenhafte Energiegewinne erzielen und - in Gestalt einer Brücke zwischen Sizilien und Tunesien - eine durchgehende Auto- und Eisenbahnverbindung zwischen Europa und Afrika erschaffen. Diese Pläne blieben Makulatur. Seine «Theorie der Baukunst» aber hat seinerzeit zu Recht viel Aufmerksamkeit erfahren, bot sie doch eine kohärente Zusammenschau der kunstphilosophischen und -psychologischen Diskussionen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und zugleich einen der letzten systematischen Versuche, das Wesen der Architektur zu erklären.
Zwischen Kitsch, Kunst und Konvention in der Architektur zu unterscheiden dürfte ein elementares Anliegen gerade unserer zunehmend globalisierten und medialisierten Umwelt sein. Eine diesbezügliche Unkenntnis lässt sich jedenfalls durch Kapital und Tatkraft (allein) nicht ersetzen; vielmehr bedarf es gezielter gesellschaftlicher Interpretation und kultureller Distinktion. Darum geht es Scheffler und Sörgel, so unvergleichlich beider Ansätze, Aussagen und Argumentationen letztlich sein mögen. Darin besteht auch ihre Aktualität. Herausgekommen waren damals zwei Bücher, die das Zeug zum Klassiker hatten, es jedoch nie wurden. Aber nachdem sie nun als Reprints vorliegen, könnte sich das ja noch ändern.
[ Herman Sörgel: Architektur-Ästhetik. Neuausgabe mit einem Nachwort von Jochen Meyer. Verlag Gebr. Mann, Berlin 1999. 364 S., Fr 131.-. - Karl Scheffler: Die Architektur der Grossstadt. Neuausgabe mit einem Nachwort von Helmut Geisert. Verlag Gebr. Mann, Berlin 1999. 294 S., Fr. 154.-. ]
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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