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Geförderter Wohnbau: Wenn alle mitreden dürfen
Was passiert, wenn zu viele Bauherren ohne architektonische Grundausbildung entscheiden dürfen? Und wie viel Beteiligung der Bewohner braucht es für eine gute Nachbarschaft?
12. Januar 2023 - Sigrid Verhovsek
In den 1960er- und 1970er-Jahren war die Lücke zwischen dem Wohntraum „Eigentumshaus am Land“ und dem staatlich gelenkten sozialen Massenwohnbau offensichtlich derart unerträglich geworden, dass sich die sonst eher konservative Steiermärkische Landesregierung auf Demonstrativbauten und Experimentierfreudigkeit der Architekten der Grazer Schule einließ und Partizipation im Geschoßwohnbau im Regierungsprogramm verankerte. Für kurze Zeit gab es im Modell Steiermark architektonische Versuche, verschiedene Formen der Mitbestimmung im Geschoßwohnbau auszuloten, doch schon bei der 1972 begonnenen Deutschlandsberger „Eschensiedlung“ von Eilfried Huth zeigten sich die Schwierigkeiten: Ein Höchstmaß an Mitbestimmung und Individualität für zig Bauherren ohne architektonische Grundausbildung in einem Projekt mündete im Ensemble zu einem ästhetischen Fragezeichen. Huth hatte gelernt: Auch der Architekt muss ein Stimmrecht haben dürfen, und der von nun an verfolgte Kompromiss lautete, dass nicht nur das Tragsystem, sondern auch die äußere Gestaltung vorgegeben wird, während bei den jeweiligen Grundrissen Anpassungen möglich sind. So blieb zwar die Mitbestimmung über den privaten Lebensraum erhalten, aber die gemeinsame Obsorge für eine geteilte Ressource – das soziale Element – war deutlich gemindert. Gerade als man im geförderten Wohnbau ein wenig Erfahrung mit diesen „Beteiligungsexperimenten“ gesammelt hatte, wurden sie politisch gestoppt.
Eines der spannendsten frühen Projekte hat sich nach nunmehr 40 Jahren eine Evaluation wie auch einen Besuch verdient: der Wohnbau Dreierschützengasse 28–40. 1981 begannen die Architekten Karla Kowalski und Michael Szyszkowitz für die Rottenmanner Siedlungsgenossenschaft die Planung für einen geförderten Wohnbau an der Ecke zur stark befahrenen Alten Poststraße. Heute ist die Gegend nordwestlich des Hauptbahnhofs längst mitten in Graz angekommen, entsprechend dicht bebaut und infrastrukturell gut erschlossen. Anfang der 1990er-Jahre jedoch war dort, wo heute Helmut-List-Halle und Science Tower stehen, die Straße zu Ende – ein großes Tor versperrte fast bis zur Jahrtausendwende den Weg ins Waagner-Biro-Werksgelände.
Vielfalt in der Einheit
Der Baukörper der 1984 fertiggestellten Siedlung umrahmt in einem nach Osten offenen U einen großen, dennoch intimen Innenhof, von dem aus alle 43 Wohneinheiten erschlossen werden. Die massive Konstruktion ist hinter derzeit nur vereinzelt sanierten Holzverkleidungen und Putz versteckt. Die zukünftigen Bewohner:innen hatten Mitsprache bei Wohnungsgröße, Lage im Gesamtkomplex und der inneren Gestaltung, der Gesamtentwurf stammt aber aus der Feder der Architekten. Um eine Art Vielfalt in der Einheit zu zeigen, eignet sich die Architektursprache von Szyskowitz-Kowalski gut: Sie ist durch Fragmentierungen, Vor- und Rücksprünge gekennzeichnet, die dennoch immer wieder überraschend harmonieren. Man kann diese skulpturale Architektursprache mögen oder nicht – hier schafft sie eine eigene heimelige Identität.
Auch im Inneren der Hausgruppen setzten sich Winkel und schräge Wände fort. Planungsintention der Wohneinheiten war die Vermeidung großer Gangflächen, aber so entstanden Durchgangszimmer, und die Räume hatten unterschiedliche Größen. Ein Bewohner erzählt: „Wir haben eine geförderte Wohnung gesucht, und wurden hier fündig. Zuerst wurden wir gefragt: Wie groß soll es sein? Als Jungfamilie mit Kindern entschieden wir uns für 90 Quadratmeter – das lag innerhalb des Förderrahmens, das war finanzierbar. Dann bekamen wir den ersten Plan und wussten: nein, so sicher nicht!“ Die folgende Anpassung bedeutete für alle Beteiligten hohen Arbeitsaufwand, das Ausmaß der Mitgestaltung war aber unterschiedlich: Etwa ein Drittel der zukünftigen Bewohner:innen arbeitete intensiv mit, einige bekundeten eher vorsichtig Interesse, andere brachten sich gar nicht ein. Neben dem zeitlichen Aufwand erfordert Partizipation die Fähigkeit, die eigenen räumlichen Bedürfnisse auszuloten und diese Position gegenüber „Raumspezialisten“ zu verhandeln. Aber für die dort aufwachsenden Kinder war selbstverständlich, dass jede Familie nur in der ihnen gemäßen Grundrisskonstellation zu Hause sein konnte.
Busweise Architekturtouristen
Bis auf den gesetzlich verordneten Trockenraum gab es keine Gemeinschaftsräume. Sozialer Treffpunkt war der Innenhof mit der „Dorflinde“, von dem aus die Treppenaufgänge einen fließenden Übergang in privatere Bereiche markieren. Hier war der Schauplatz für die zweimal im Jahr stattfindenden Hoffeste, für Tischtennismatches, Räuber-und-Gendarm-Spiele um die Fahrradkäfige unter den Treppen, für ein Gespräch abends nach der Arbeit und einen geschmückten Weihnachtsbaum. Ein Rückzug ins Dorf inmitten der anonymisierten Umgebung der Stadt: Jane Jacobs hätte es behagt. Freud und Leid blieben vor den Nachbar:innen nicht verborgen, ein „ungestörter“ Zutritt für Fremde war praktisch unmöglich: Busladungen voller Architekturtouristen wurden von den Kindern mit Wasserbomben beworfen.
Am Anfang war die Selbstbeteiligung hoch, Schneeräumung, Gartenpflege etc. wurden nach hauseigenem Plan selbst erledigt: „Den Schneeräumplan haben wir alle gekannt – wir haben immer gehofft, dass es nicht an unseren Tagen schneit und wir die Eispickel herausholen müssen.“ Wer aufgrund von Alter oder Krankheit nicht schaufeln konnte, brachte Tee. Das liebevolle Engagement nahm mit der Zeit ab, externe Servicefirmen übernahmen. Die Atmosphäre ist noch „nachbarschaftlich“, aber nach der von Aufbaugeist und Kindererziehung geprägten Anfangszeit traten auch Fragen nach Wert und Wiederverkaufswert der Eigentumswohnungen auf. Zirka 15 Jahre lang blieb die ursprüngliche Hausgemeinschaft weitgehend intakt, dann wurden die ersten Wohnungen verkauft. Dennoch lebt auch heute noch mehr als die Hälfte der ursprünglichen Bewohner:innen in der Siedlung, was auf hohe Wohnzufriedenheit schließen lässt.
Für einige Eigentümer:innen gab es ein böses Erwachen, als die 2015 erlassene Wohnrechtsnovelle das Verfügungsrecht über „Wohnungszubehör“, also Keller- oder Dachbodenräume, Hausgärten etc., neu definierte. Aus den ursprünglich „zugehörig“ gekauften, aber nie grundbürgerlich verankerten Eigengärten um die Terrassen wurde plötzlich ein Rechtsfall: Damit diese nicht im Gemeinbesitz aufgehen, müssten die Wohneinheiten neu parifiziert werden. Die einfachere Lösung, die Gärten in die behördlichen Pläne nachzutragen, funktioniert aber nur mit der Zustimmung aller Eigentümer:innen. Hoffentlich gibt es auch 2023 ein Hoffest mit der gesamten Nachbarschaft.
Eines der spannendsten frühen Projekte hat sich nach nunmehr 40 Jahren eine Evaluation wie auch einen Besuch verdient: der Wohnbau Dreierschützengasse 28–40. 1981 begannen die Architekten Karla Kowalski und Michael Szyszkowitz für die Rottenmanner Siedlungsgenossenschaft die Planung für einen geförderten Wohnbau an der Ecke zur stark befahrenen Alten Poststraße. Heute ist die Gegend nordwestlich des Hauptbahnhofs längst mitten in Graz angekommen, entsprechend dicht bebaut und infrastrukturell gut erschlossen. Anfang der 1990er-Jahre jedoch war dort, wo heute Helmut-List-Halle und Science Tower stehen, die Straße zu Ende – ein großes Tor versperrte fast bis zur Jahrtausendwende den Weg ins Waagner-Biro-Werksgelände.
Vielfalt in der Einheit
Der Baukörper der 1984 fertiggestellten Siedlung umrahmt in einem nach Osten offenen U einen großen, dennoch intimen Innenhof, von dem aus alle 43 Wohneinheiten erschlossen werden. Die massive Konstruktion ist hinter derzeit nur vereinzelt sanierten Holzverkleidungen und Putz versteckt. Die zukünftigen Bewohner:innen hatten Mitsprache bei Wohnungsgröße, Lage im Gesamtkomplex und der inneren Gestaltung, der Gesamtentwurf stammt aber aus der Feder der Architekten. Um eine Art Vielfalt in der Einheit zu zeigen, eignet sich die Architektursprache von Szyskowitz-Kowalski gut: Sie ist durch Fragmentierungen, Vor- und Rücksprünge gekennzeichnet, die dennoch immer wieder überraschend harmonieren. Man kann diese skulpturale Architektursprache mögen oder nicht – hier schafft sie eine eigene heimelige Identität.
Auch im Inneren der Hausgruppen setzten sich Winkel und schräge Wände fort. Planungsintention der Wohneinheiten war die Vermeidung großer Gangflächen, aber so entstanden Durchgangszimmer, und die Räume hatten unterschiedliche Größen. Ein Bewohner erzählt: „Wir haben eine geförderte Wohnung gesucht, und wurden hier fündig. Zuerst wurden wir gefragt: Wie groß soll es sein? Als Jungfamilie mit Kindern entschieden wir uns für 90 Quadratmeter – das lag innerhalb des Förderrahmens, das war finanzierbar. Dann bekamen wir den ersten Plan und wussten: nein, so sicher nicht!“ Die folgende Anpassung bedeutete für alle Beteiligten hohen Arbeitsaufwand, das Ausmaß der Mitgestaltung war aber unterschiedlich: Etwa ein Drittel der zukünftigen Bewohner:innen arbeitete intensiv mit, einige bekundeten eher vorsichtig Interesse, andere brachten sich gar nicht ein. Neben dem zeitlichen Aufwand erfordert Partizipation die Fähigkeit, die eigenen räumlichen Bedürfnisse auszuloten und diese Position gegenüber „Raumspezialisten“ zu verhandeln. Aber für die dort aufwachsenden Kinder war selbstverständlich, dass jede Familie nur in der ihnen gemäßen Grundrisskonstellation zu Hause sein konnte.
Busweise Architekturtouristen
Bis auf den gesetzlich verordneten Trockenraum gab es keine Gemeinschaftsräume. Sozialer Treffpunkt war der Innenhof mit der „Dorflinde“, von dem aus die Treppenaufgänge einen fließenden Übergang in privatere Bereiche markieren. Hier war der Schauplatz für die zweimal im Jahr stattfindenden Hoffeste, für Tischtennismatches, Räuber-und-Gendarm-Spiele um die Fahrradkäfige unter den Treppen, für ein Gespräch abends nach der Arbeit und einen geschmückten Weihnachtsbaum. Ein Rückzug ins Dorf inmitten der anonymisierten Umgebung der Stadt: Jane Jacobs hätte es behagt. Freud und Leid blieben vor den Nachbar:innen nicht verborgen, ein „ungestörter“ Zutritt für Fremde war praktisch unmöglich: Busladungen voller Architekturtouristen wurden von den Kindern mit Wasserbomben beworfen.
Am Anfang war die Selbstbeteiligung hoch, Schneeräumung, Gartenpflege etc. wurden nach hauseigenem Plan selbst erledigt: „Den Schneeräumplan haben wir alle gekannt – wir haben immer gehofft, dass es nicht an unseren Tagen schneit und wir die Eispickel herausholen müssen.“ Wer aufgrund von Alter oder Krankheit nicht schaufeln konnte, brachte Tee. Das liebevolle Engagement nahm mit der Zeit ab, externe Servicefirmen übernahmen. Die Atmosphäre ist noch „nachbarschaftlich“, aber nach der von Aufbaugeist und Kindererziehung geprägten Anfangszeit traten auch Fragen nach Wert und Wiederverkaufswert der Eigentumswohnungen auf. Zirka 15 Jahre lang blieb die ursprüngliche Hausgemeinschaft weitgehend intakt, dann wurden die ersten Wohnungen verkauft. Dennoch lebt auch heute noch mehr als die Hälfte der ursprünglichen Bewohner:innen in der Siedlung, was auf hohe Wohnzufriedenheit schließen lässt.
Für einige Eigentümer:innen gab es ein böses Erwachen, als die 2015 erlassene Wohnrechtsnovelle das Verfügungsrecht über „Wohnungszubehör“, also Keller- oder Dachbodenräume, Hausgärten etc., neu definierte. Aus den ursprünglich „zugehörig“ gekauften, aber nie grundbürgerlich verankerten Eigengärten um die Terrassen wurde plötzlich ein Rechtsfall: Damit diese nicht im Gemeinbesitz aufgehen, müssten die Wohneinheiten neu parifiziert werden. Die einfachere Lösung, die Gärten in die behördlichen Pläne nachzutragen, funktioniert aber nur mit der Zustimmung aller Eigentümer:innen. Hoffentlich gibt es auch 2023 ein Hoffest mit der gesamten Nachbarschaft.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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