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8. April 2023 Der Standard

Der Regisseur des Raums

Vor 300 Jahren starb der Barockarchitekt Johann Bernhard Fischer von Erlach. Eine Gelegenheit, an das virtuos dreidimensionale Denken dieses weltoffenen Globalisten und raffinierten Kombinierers zu erinnern.

Bei diesem Anblick muss es schwer gewesen sein, Atheist zu werden: Mitten in der Natur des unregulierten Wienflusses stehend wie eine Fata Morgana, eine große Kuppel, davor ein Portikus, flankiert von zwei hohen Säulen, wie zum Gebet erhobene Hände. Ganz in Weiß und genau in der Sichtachse der alten Römerstraße, die heute noch als Herrengasse an der Wiener Hofburg vorbeiführt. Die Karlskirche, das späte Meisterwerk des Barockarchitekten Johann Bernhard Fischer von Erlach.

Längst ist sie von der Masse der Stadt eingeholt worden, doch die „Primadonna“, wie sie der Architekt Boris Podrecca einmal nannte, dominiert den Raum um sie herum noch heute. Ihre Fassadenfront ziert Reiseführer, lugt über die Köpfe zahlloser Selfies. Das perfekte zweidimensionale Bild lässt oft vergessen, welch euphorisierendes Erlebnis es ist, die Karlskirche aus der Bewegung her wahrzunehmen, wenn sich ihre Kanten und Kurven wie Theaterkulissen dramatisch dreidimensional vor- und hintereinanderschieben.

Fischer von Erlach, der vor 300 Jahren, am 5. April 1723, starb, war alles andere als ein Purist, er war Bühnenbildner, Bildhauer und Weltreisender der Architektur. „Er kombinierte reine geometrische Formen und brachte den menschlichen Körper in die Architektur“, sagt Andreas Nierhaus, Kurator am Wien-Museum, der gemeinsam mit Peter Husty die Ausstellung konzipierte, die diese Woche im Salzburg-Museum eröffnet wurde und 2024 im Wien-Museum zu sehen sein wird. Wien und Salzburg sind zweifellos die Schauplätze seiner großen Werke, die Urquelle seines Schaffens lag jedoch in Rom, wo er im Alter von 14 Jahren das Schauen lernte. Die Ewige Stadt war im Barock Europas Architekturmekka, ein Konzentrat aus Seh-Sucht und Spektakel, Stein und Licht, Sinnlichkeit und Geometrie. Der Hohepriester dieser magnificenza war Bernini, und Fischer von Erlach kam mit dem Siegel seines Segens zurück nach Österreich.

Weltreise ohne Scheuklappen

Doch er war noch virtuoser und verspielter in seiner Auflösung der Grenzen zwischen Architektur und Bildhauerei. Perforationen und Durchdringungen, Konkaves und Konvexes in lustvollem Dialog, aufgeladene Leere. Kanalisierte Blicke in die Ferne, verstohlenes Lugen in steinerne Faltenwürfe. Beim Hofmarstallportal in Salzburg balancierte er seine muskulösen Atlanten auf stilettohaft scharfen Pfeilern, die nach unten spitz zulaufen. Im Raum verankerte Amalgame von Religion und Körperlichkeit, wie sie auch Madonna Louise Ciccone knapp 300 Jahre später in ihrem Musikvideo zu Like a Prayer anstreben sollte.

Fischer von Erlachs Lebenswerk kulminierte in seinem 1721 herausgegebenen Prachtband Historische Architektur, eine Weltreise ohne Scheuklappen in assoziativ kombinierten Bildtafeln, von Stonehenge über chinesische Pagoden bis zu Moscheen. Ein frischer Wind der Toleranz in absolutistischen Zeiten kurz vor der Aufklärung. Seitdem wird Fischer von Erlach stets wiederentdeckt, ob von Otto Wagner als Türöffner der Moderne oder als Regisseur des fließenden Raums bei den Architekturschaffenden von heute. Einige von ihnen hat der Standard zur Würdigung anlässlich seines 300. Todestags gebeten.

Volle Breitseite

„In meinen ersten Studienjahren ging ich täglich auf dem Weg zur Angewandten an einer bemerkenswerten Situation vorbei: Über einer Baulücke thronte die Kuppel der Karlskirche. Jeder hat das Bild ihrer Kuppel vom Karlsplatz aus im Kopf, aber ich sah zu jeder Tages-, Nacht- und Jahreszeit ihre volle Breitseite! Ich entwickelte als Projekt ein Studentenheim genau a n dieser Stelle. Das Bild der halben Kuppel würde die dort Studierenden hoffentlich ebenso faszinieren wie mich. Leider wurde die Baulücke rasch mit einer Bausünde verbaut, und das ungewohnte Bild der Kuppel für immer aus dem Stadtbild verbannt.“

Christoph Pichler,
Pichler & Traupmann Architekten

Die Königin des Karlsplatzes

„Unser Ansinnen war es, einerseits das Wien-Museum auf Augenhöhe zu den anderen am Karlsplatz situierten Gebäuden zu bringen und andererseits die als Dominante den Platz prägende Karlskirche und ihre überregionale Bedeutung zu respektieren. In diesem Sinne weiß der Ausblick aus dem Fugengeschoß des neuen Museums, dass er von einer Hauptdarstellerin lebt und nicht zuletzt für sie inszeniert wurde.“

Roland Winkler,
Winkler Ruck + Certov,
Architekten des Wien-Museum neu (Eröffnung Ende 2023)

Kirche gegen Pest und Krieg

„Die Wiener Karlskirche ist nicht nur einer der wichtigsten Bauten des Grazer Architekten, sondern auch einer der komplexesten auf der Ebene seiner Symbolik. Als Votivkirche, die gegen Pest und Krieg errichtet wurde, zeugt die Karlskirche von der Allmacht Gottes, in die Geschichte lindernd einzugreifen, wenn die Menschen es nur wollen. Die Ereignisse der letzten Jahre zeigen für uns auch nach 300 Jahren die gesellschaftliche Relevanz dieses Hauses als Ort der lebendigen Tradition.“ Marek Puèalík O. Cr.,

Kreuzritterorden,
Kirchenrektor der Karlskirche

Mit Fischer in die Zukunft

„Als die ehemaligen Hofstallungen 2001 zum Museumsquartier wurden, haben wir ein fiktives Interview mit Fischer von Erlach geführt. Sinngemäß hat er sich damals über die ablehnende Haltung der Gesellschaft gegenüber neuer Architektur beschwert. Die Gegenwart hat für Zukunftsdenken noch weniger Platz. Aber wir werden die kommenden Jahre nur überstehen, wenn wir uns von umweltschädigenden Gewohnheiten lösen und grundsätzlich neu denken. Wir müssen uns nicht davor fürchten. Im Gegenteil, wir hätten schon vor Jahrzehnten handeln sollen. Wir hätten uns eventuell die Klimakatastrophe erspart, wenn wir ein bisschen auf Fischer von Erlach gehört hätten.“

Anna Popelka,
PPAG Architects

Alles im Fluss

„Wenn man von der Lust an der Raumgestalt der Bauwerke des Barocks ausgeht – was für ein Wahnsinn, tonnenschwere Kuppeln zu bauen, um sie dann mit Himmelsmalereien zum Entschwinden zu bringen! –, dann wird sichtbar, dass die Gestalt des komplexen Raumes und nicht die simplifizierte Box eine besondere Fähigkeit der österreichischen Architekten darstellt. Fischer von Erlach wusste, wie er Gebäude monumental in die (Stadt-)Landschaft setzt. Auf jeden Fall ist die barocke Architektur als Vorbild für starke Architektur zu sehen, denn sie zählt nicht die additiven Funktionen, sondern ist Ausdruck für eine fließende Raumgestaltung.“

Wolf dPrix,
Coop Himmelb(l)au

1. April 2023 Der Standard

Bitte gehen Sie weiter!

Die Diskussion um Hitlers Geburtshaus in Braunau ist seit dem Wettbewerb 2019 verebbt. Doch damals blieben viele kritische Fragen unbeantwortet. Eine junge Initiative hat sie jetzt wieder vor den Vorhang geholt und eine „alternative Kommission“ zur Debatte geladen.

Seit Jahren steht das Haus Salzburger Vorstadt 15 in Braunau leer. Zutritt streng verboten. Dabei sollten hier schon die Umbauarbeiten im Gange sein. Doch die Baukosten sind von geplanten fünf auf 20 Millionen gestiegen, jetzt soll es im Herbst so weit sein, heißt es. Es ist nicht irgendein Haus, sondern eines, das Historiker, Architekten, fünf Innenminister und die Öffentlichkeit beschäftigt hat, das Geburtshaus Adolf Hitlers. Seit dem Architekturwettbewerb 2020 ist diese Beschäftigung ebenso wie das Haus wieder aus der Öffentlichkeit verschwunden.

Haus mit Gesichts-OP

2016 hatte die vom damaligen Innenminister Wolfgang Sobotka beauftragte Expertenkommission „eine tiefgreifende architektonische Umgestaltung“ empfohlen, die den „Wiedererkennungswert und die Symbolkraft des Gebäudes dauerhaft unterbinden“ sollte, was nach Abschluss des aufwendigen Enteignungsprozesses in die Ausschreibung des Wettbewerbs übernommen wurde, in der die Wörter „Hitlers Geburtshaus“ kein einziges Mal vorkamen. „Durch die zukünftige Nutzung des Hauses durch die Polizei soll ein unmissverständliches Zeichen dafür gesetzt werden, dass dieses Gebäude für immer einer Erinnerung an den Nationalsozialismus entzogen ist“, so Sobotka-Nachfolger Wolfgang Peschorn damals. Der Siegerentwurf von Marte Marte Architekten versuchte, diesem Wunsch zu entsprechen, mit der Idee, die Zeit zurückzudrehen ins Jahr 1750. Der ursprüngliche Doppelgiebel soll rekonstruiert, die Umbauten aus der NS-Zeit entfernt und die Fassade weiß getüncht werden.

Das alles blieb damals nicht ohne Kritik, von der Initiative Denkmalschutz über das Mauthausen-Komitee bis zu den Braunauern selbst wurde argumentiert, einen solchen Ort könne man nicht einfach neutralisieren. Wie ein Teilnehmer berichtet, wussten auch die Architekten anfangs nicht, was genau unter „Neutralisierung“ zu verstehen sei. Ein Haus mit Gesichts-OP und neuem Namen, eine Architektur im Zeugenschutzprogramm? Die Architektur wurde alleingelassen mit der Anweisung, was das Gebäude nicht sein sollte. Wie geht man damit konstruktiv um, und wie sinnvoll ist die Herstellung einer vagen Art von Normalität? Würde sich ein Neonazi aus Bautzen oder Wiener Neustadt von der Pilgerreise nach Braunau wirklich durch die Tatsache abhalten lassen, dass das Haus nun zwei Giebel hat? So bauhistorisch sensibel sind die Wiederbetätiger nicht, und auch nicht so naiv.

„How to Hitlerhaus“

Sicher, es gibt hier keine einfache Lösung, die auf der Hand liegt, und ein Geburtshaus ist kein Täterort wie viele, viele andere. Aber viele Fragen blieben offen, die Diskussion auf breiter Ebene auch durch den fragwürdigen und recht österreichischen Umgang mit den Wettbewerbsergebnissen, die 2020 ohne Ankündigung für drei Tage jeweils ein paar Stunden in Braunau ausgestellt wurden: „Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen“, schien hier das unausgesprochene und zur geplanten polizeilichen Nutzung passende Motto.

Jetzt wurden diese unbeantwortet gebliebenen Fragen wieder in die Öffentlichkeit geholt von den jungen Architektinnen Laura Amann, Teresa Klestorfer, Daniela Mehlich, Linda Lackner, Anna Paul und Sophia Walk, die 2020 den Verein DA – Diskurs Architektur gegründet hatten. Unter dem dezent provokanten Titel „How to Hitlerhaus“ sollte bewusst der schöne Frieden gestört werden. Die Gruppe führte dafür Interviews mit Jurymitgliedern und Architekten, die am Wettbewerb beteiligt waren, die Wettbewerbssieger Marte Marte und das Innenministerium lehnten die Beteiligung ab. Diese Gespräche und eine exzellent aufbereitete Quellenrecherche und Chronologie wurden in einer online verfügbaren Publikation zusammengefasst, um so „Transparenz in einen intransparenten Prozess zu bringen“.

Präsentiert wurde diese Publikation im Rahmen einer Debatte im Wiener Mak am 15. März, die als „nachgeholte Öffentlichkeit“ fungierte und zu der die Architektinnen eine „alternative Kommission“ aus Historikern, Kuratorinnen und Architekturforscherinnen aufs Podium luden: Elke Krasny (Akademie der bildenden Künste Wien), Florian Kotanko (Verein für Zeitgeschichte Braunau), Laura Langeder (Haus der Geschichte Österreich), Inge Manka (TU Wien), Nora Sternfeld (HFBK Hamburg) und Florian Wenninger (Institut für Historische Sozialforschung, Universität Wien). Auch hier hatte das Innenministerium die Einladung ausgeschlagen.

Dies sollte die „offizielle“ Kommission nicht diskreditieren, sondern die Fachdiskussion in die Öffentlichkeit tragen. Das funktionierte als Aufklärungsarbeit sehr gut, gerade weil man sich nicht immer einig war. Würde eine auffällige Architektur oder Nutzung des Hauses die Überhöhung des in ihm Geborenen reproduzieren? Gibt es nicht andere Orte, an denen das Erinnern an Hitlers österreichische Jahre noch dringender nötig wäre? Oder lässt sich der Personenkult gerade in Braunau besonders gut kontern? Abgeschlossen könne Erinnerungsarbeit jedenfalls per se nicht sein, in welcher Form und mit welchem Thema sie auch immer stattfindet.

Keine einfache Lösung

Ob eine Polizeistation wirklich die ideale Nutzung ist, auch dazu gingen die Meinungen auseinander, eine Öffnung des Hauses wurde aber empfohlen, da eine Nichtzugänglichkeit die Aura des Geheimen eher noch überhöhte. In den über 30 Jahren, in denen eine soziale Einrichtung im Haus untergebracht war, sei dessen Offenheit nie ein Problem gewesen, so Kotanko. Und die Architektur? Ist die „Weißwaschung“ der Fassade in ihrer Fotogenität zu schön, um unauffällig zu sein? Ist die Architektur, wie es in einem schönen Bonmot heißt, zu wichtig, um sie den Architekten zu überlassen, bräuchte es stattdessen eine fachliche Vielstimmigkeit?

Am Ende bekundete ein etwas ratloser Architekt aus dem Publikum, er hätte sich vom Abend eine konkrete Lösung erwartet. Doch die kann auch eine alternative Kommission nicht aus dem Hut zaubern. Das Fazit der Initiatorinnen? „Es ist bei der Diskussion wieder klar geworden: So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben“, sagt Anna Paul.

„Eine breite öffentliche Debatte ist jetzt dringend notwendig, um die geplante bauliche Verdrängung abzuwenden“ – kurz: Es geht um einen Projektstopp. Vielleicht ist die Diskussion nicht zu Ende, sondern überhaupt erst am Anfang. Vielleicht darf sie auch nie enden.

11. März 2023 Der Standard

Werkzeuge zur Weltrettung

Das Architekturzentrum Wien würdigt in einer großen Ausstellung die pakistanische Architektin Yasmeen Lari, die seit Jahrzehnten traditionelle Bautechniken fürs postfossile Zeitalter weiterentwickelt.

Die Zahlen sind kaum vorstellbar: Rund 33 Millionen Menschen wurden durch die Flutkatastrophe des letzten Sommers in Pakistan obdachlos, viermal die Einwohnerzahl Österreichs. Während damals die ersten nationalen und internationalen Hilfsaktionen langsam anliefen, war eine über 80-jährige Frau sofort zur Stelle. Die Architektin Yasmeen Lari gab per täglicher Videobotschaft konkrete Anleitungen an die Bevölkerung, wie sie sich eigenständig Schutzbauten errichten konnte.

Das Video vom Sommer 2022 ist am Anfang der Ausstellung zu sehen, die diese Woche im Architekturzentrum Wien eröffnet wurde. Es ist weltweit die erste über Yasmeen Lari, kuratiert von AzW-Direktorin Angelika Fitz und Elke Krasny, die schon 2019 ihre Schau Critical Care – Architecture and Urbanism for a Broken Planet lokalen Strategien gegen globale Katastrophen gewidmet und den Blick über den Rand des westlichen Kanons hinaus gerichtet hatten. Wie der Untertitel Architektur für die Zukunft schon andeutet, wird hier in einer Parallelmontage die Biografie Laris ebenso erzählt wie die sich ändernden Vorstellungen des Bauens in ein imaginiertes Danach, vom Optimismus bis zum Krisenmodus.

1941 als Tochter einer wohlhabenden Familie geboren, studierte sie in Oxford und gründete nach der Rückkehr ihr eigenes Büro. Für sie selbst sei das, sagt sie, ganz logisch gewesen. Aber eine selbstständige Frau Architektin, das war damals nicht nur in Pakistan, sondern weltweit ungewöhnlich. Ihre ersten Jahre waren geprägt von der Aufbruchsstimmung des jungen, soeben von der britischen Kolonialherrschaft befreiten Staates, und die dazu passende Architektur war modern wie ihr 1973 entworfenes eigenes Wohnhaus in Karatschi, ein luftiges Betongebilde, in dem sie heute noch lebt und arbeitet.

Für Reich und Arm

Doch gleichzeitig entdeckte sie gemeinsam mit ihrem Mann auf vielen Exkursionen die Baugeschichte ihres Heimatlandes neu. Die Erkenntnisse wurden erstmals 1975 in ihrem sozialen Wohnbau in Karatschi realisiert, einem Labyrinth aus Ziegeln und Terrassen, das genau auf die Bedürfnisse seiner Bewohnerinnen reagierte. Bauen für die Reichen und die Armen: Diesen Spagat setzte Lari in den 1980er-Jahren fort, als sie mit prestigeträchtigen Bauten wie der Konzernzentrale von Pakistan State Oil und dem Financial Trade Center zur bekanntesten Architektin des Landes wurde – ein Berufszweig, den sie erst etablieren musste, gegen den Widerstand von Ingenieuren und Bauindustrie. Gleichzeitig engagierte sie sich für den Denkmalschutz und entwickelte erste Selbstbausysteme.

Nach diesen erfolgreichen Jahrzehnten hatte sie genug davon, Auftragnehmerin zu sein, und wandte sich der Theorie und der Forschung zu. So hätte sich eine Architektinnenbiografie mit einem akademischen zweiten Akt schön abrunden lassen, doch dann kam es 2005 in Kaschmir zu einem der verheerendsten Erdbeben in Südostasien. Es signalisierte für Yasmeen Lari eine sofortige Rückkehr zur Praxis, es war die Gelegenheit, all das, was sie über Jahrzehnte gelernt hatte, zum Vorteil vieler Menschen anzuwenden.

Ihr System aus vorgefertigten Bambusbauteilen, die von jedem mit vor Ort vorhandenen Materialien wie Lehm und Stroh selbstständig ergänzt werden konnten, verstand sie als bewusstes Gegenmodell zur schwerfälligen Nothilfearchitektur der internationalen Hilfsorganisationen, die, wie sie sagt, eng mit der Bauindustrie verbunden sind.

Demut statt Ego

„Ich glaube nicht an Geld,“ sagt Lari. „Zu viel Geld ist destruktiv und verhindert das kreative Denken. Mir geht es darum, in die Fähigkeiten der Menschen zu investieren. Baustoffe wie Lehm kann jeder verwenden, zudem sind es Baustoffe, aus denen keine korrupte Schattenwirtschaft entstehen kann.“ Dabei geht es ihr nicht darum, traditionelle Bauweisen zu kopieren, sondern sie für das 21. Jahrhundert zu adaptieren. 2016 gründete sie das Zero Carbon Cultural Centre, ein Forschungs- und Entwicklungslabor für eine klimaschonende Bauwirtschaft und ein Ausbildungszentrum für die Bevölkerung. Eine Weiterbildung, die für die Architektin keine Einbahnstraße ist, wie sie im ΔTANDARD-Gespräch betont. „Ich wurde wie alle Architekten zum Egoismus ausgebildet, aber ich konnte das Ego und die Kontrolle abgeben. Man kann so viel von anderen lernen, vor allem in der Zusammenarbeit mit Frauen.“

Es sei natürlich kein Zufall, dass die Ausstellung am Internationalen Frauentag eröffnet wurde, sagt Angelika Fitz. „Uns geht es um eine Erweiterung der männlich und westlich dominierten Architekturgeschichte, um Dekolonialisierung und Dekarbonisierung.“ Die luftige Ausstellungsarchitektur aus lokalem Holz und Leinen spiegelt mit ihrem geringen CO2 -Fußabdruck diese Haltung wider und bildet einen unaufdringlichen Hintergrund für die Fülle an Material, das hier erstmals gezeigt wird. Den beiden Kuratorinnen, die 2022 eine Recherchereise nach Pakistan unternahmen, hatte die Architektin ihr gesamtes Archiv zur Verfügung gestellt.

Es ist eine Ausstellung, die die Frage, was Architektur ist und kann, wieder von Neuem stellt: Wann ist ein Obdach nur ein Obdach, und wann ist es Architektur? Eben dann, wenn, wie hier, technisches, baukulturelles und klimatisches Wissen, soziale Kompetenz, Organisation und Infrastruktur mit bestmöglicher Wirkungsbreite angewendet werden. „Das Bauen trägt massiv zur Klimakrise bei, aber es kann auch Teil der Lösung werden“, sagt Angelika Fitz. „Auch wir müssen uns fragen, wie eine lokale Bauwende aussehen könnte.“

Der Schlusspunkt der locker chronologisch erzählten Ausstellung ist von absichtlicher Undramatik. Eine Auswahl des von Yasmeen Lari optimierten Grundzubehörs fürs Leben und Überleben. Ein Herd, eine Toilette, fließendes Wasser. Kluge Systeme, schnell und vielfach multiplizierbar. Ein Survival-Kit für das Jahrhundert der beschleunigenden Klimakatastrophen, das Handwerkszeug für eine Architektur des 21. Jahrhunderts, die die eigenen Fehler des 20. Jahrhunderts korrigieren kann und muss. „Wir haben zu viel konsumiert, zu viele Ressourcen verbraucht“, sagt Yasmeen Lari. „Jetzt ist es an uns Architekten, das zu reparieren.“ In Zeiten, da eine 180-Kilometer-Stadt in der saudi-arabischen Wüste mit einer machohaft auftrumpfenden Architektur der Verschwendung ernsthaft als Idee für die Zukunft diskutiert wird, weist Laris schwarmintelligente Zero-Carbon-Ideenfabrik den Weg zur postfossilen Hoffnung.

[ Yasmeen Lari Architektur für die Zukunft, Architekturzentrum Wien, bis 16. August 2023; der Katalog zur Ausstellung in englischer Sprache ist bei MIT Press erschienen ]

18. Februar 2023 Der Standard

Der Trost der Mosaike

Seit fünf Jahren präsentiert Dmytro Soloviov auf seinem Instagram-Account die Bauten des Sozialismus in seiner ukrainischen Heimat. Doch seit der russischen Invasion ist diese Architektur zwischen neue politische Fronten geraten.

Sein architektonisches Erweckungserlebnis, sagt Dmytro Soloviov, fand nicht in seiner ukrainischen Heimat statt, sondern in Polen. Im Jahr 2014 stand der junge Philologe vor dem stalinistischen Kulturpalast in Warschau und sagte: Wow! Es war der Start einer Entdeckungsreise, die ihn quer durch alle Baustile von Frankreich, Portugal und Lettland über Russland und zurück führte. 2017 zog er nach Kiew und legte sich fest: Die Moderne mochte er am liebsten, und er würde ihre Bauten in der Ukraine dokumentieren. Ein Jahr später startete er den Instagram-Account @ukrainianmodernism .

Heute hat er 94.000 Follower, mehr als die Hälfte davon international, und zeigt auf über 660 Postings die ganze Bandbreite des architektonischen Schaffens von den 1960er- bis in die frühen 1990er-Jahre. Ein prachtvolles Panorama tut sich auf: bunte, riesige Wandmosaike, mal abstrakt, mal mit Arbeiter-und-Bauern-Motiven. Die mondän-schwungvolle Urlaubsarchitektur der Sanatorien auf der Krim. Die Schindeldächer der regional-ländlichen Variante der Moderne in den westukrainischen Karpaten. Die rotgoldenen Kurvenschwünge der Metrostationen von Charkiw. Das popbunte Interieur des in den 1980er-Jahren renovierten Kinos der Jugend in Kiew. Die erstaunlich vielen spielerischen Details der als monotone Plattenbauten geschmähten Großsiedlungen. Die vielen Bildungsbauten wie die ikonische und inzwischen denkmalgeschützte Ufo-Schüssel des Technischen Instituts in Kiew, die Architekt Florian Juriew 1971 keck auf einem Flachdach balancierte.

Geometrische Schönheit

Soloviov ist nicht der Einzige, der die sozialistische Architektur der Nachkriegszeit zelebriert. Mehrere lokale Varianten dessen existieren in den sozialen Medien, das New Yorker MoMA widmete 2018 eine ganze Ausstellung den Beton-Utopien Jugoslawiens, das Deutsche Architekturmuseum Frankfurt rief 2017 „SOS Brutalismus“, und das Architekturzentrum Wien feierte bereits 2012 in einer seiner meistbesuchten Ausstellungen die Sowjetmoderne. Die AzW-Online-Datenbank wurde für Soloviov eine wichtige Recherchegrundlage – ein Kulturtransfer retour über Bande.

Was fasziniert den 1990 Geborenen ausgerechnet an dieser Ära, die er selbst nur aus Erzählungen kennt? „Es ist schwieriger, mit reiner Geometrie Schönheit zu erzeugen anstatt mit exzessiven Ornamenten, daher bewundere ich die Leistung jener Architekten um so mehr“, sagt er. Seine Botschaft: Die Bauten des Sozialismus stammten nicht von anonymen Kollektiven, sondern von Individuen, die ihr Bestes gaben. Seine Methode: Anders als viele Brutalismus-affine Accounts fotografiert er seine Objekte nicht in düsterem Schwarz-Weiß, sondern lässt Farbe und Licht spielen.

Das freudige Suchen nach den Schätzen dieser Architektur und die Führungen, die Dmytro Soloviov organisiert, hätten noch lange so weitergehen können, doch dann kam der 24. Februar 2022. Auch auf Instagram wird der Bruch sichtbar: Bilder mit Rauch und Ruinen prägten @ukrainianmodernism in den ersten Monaten des Angriffskriegs. „Am Anfang wollte ich zeigen, was hier in der Ukraine passiert“, erzählt Soloviov im Gespräch per Zoom. Der ΔTANDARD erreicht ihn beim Familienbesuch in seiner Heimatstadt Saporischschja, nach einer Nacht unter Bombenalarm, die akute Erschöpfung mischt sich in seinen ungebrochenen Enthusiasmus.

Nach dem ersten Schock im Frühjahr 2022 wurden die Bilder, die er postete, zunehmend wieder bunter: „Ich wollte nicht auf Dauer zum Kriegsreporter werden, das können andere besser.“ Bald begann er wieder mit Führungen vor Ort, seine internationalen Follower konnten ihn auf mehrstündigen Exkursionen per Zoom begleiten. Heute fokussiert er sich wieder auf Begehungen für Einheimische. „Für viele ist das eine Art Stresstherapie. Sie können sich mit Architektur vom Alltag des Krieges ablenken, sich mit anderen treffen.“ Sie finden Trost im farbenfrohen Optimismus der Mosaike und Freude an futuristischen Formen.

Dramatischer Kontext

Nicht nur die Vermittlung sozialistischer Architektur geriet durch den Krieg in einen dramatischen neuen Kontext, auch die öffentliche Meinung über sie wurde erneut politisiert. „Vor dem Krieg galt es einfach als sowjetische Architektur, die durch ihre Geschichte stigmatisiert war und oft den Interessen von Investoren zum Opfer fiel“, sagt Soloviov. Doch seit Kriegsbeginn sei alles noch schlimmer geworden. Jetzt gelte alles Sowjetische als russisch, und das gefährde diese Bauten noch mehr. „Dabei merken die Leute nicht, dass sie damit Putin in die Hände spielen, der Russland als legitimes Erbe der Sowjetunion propagiert. Sie vergessen, dass die moderne Architektur ein internationales Phänomen war und die meisten der Bauten von ukrainischen Architektinnen und Architekten entworfen wurden.“ So gerät das bauliche Zubehör des zivilen Alltags im Kalten Krieg, all die Wohnsiedlungen, Schulen, Kinos und Denkmäler, heute zwischen die Fronten eines neuen, heißen Krieges.

So erzählt die scheinbar harmlose Sammlung schön anzuschauender Fotos von 50 Jahre alter Architektur auf Instagram einiges über Gegenwart und Zukunft. Denn wie auch immer der Krieg endet, der Wiederaufbau ist bereits jetzt ein Thema, und globale Architekten wie Norman Foster kreisen schon so gönnerhaft wie geierhaft über den Ruinen und bieten ihre Dienste an. Dabei hat die Ukraine auch heute ausreichend eigene talentierte Architektinnen und Architekten.

„Ich brauche keine eingeflogenen Stars, ich will nicht, dass die Ukraine zu einem Dubai mit gesichtslosen Hochhäusern wird“, sagt auch Soloviov. Vor allem will er dagegen kämpfen, dass seine Landsleute ihr eigenes Erbe zerstören. „Wenn wir alle Spuren des 20. Jahrhunderts beseitigen, was werden zukünftige Generationen denken? Dass wir in jener Zeit gar nichts getan haben?“ So wird er weiter mit friedlichem Enthusiasmus dazu einladen, zu schauen, zu berühren und zu erleben und die Nuancen zu entdecken. Die nächste Tour ist schon angekündigt. Treffpunkt: Lwiw.

28. Januar 2023 Der Standard

SOS Gründerzeit, Teil 2

Nicht nur in Wien wird über den Abbruch historischer Bausubstanz debattiert. Auch in anderen Städten und auf dem Land fällt sie oft der Baggerschaufel der Partikularinteressen zum Opfer.

Architekt Gunter Breckner hat in diesen Tagen eine Art Déjà-vu. Das Gebäude, das, wie er sagt, „wie ein Kind für mich ist“, braucht wieder seine Hilfe. Beim ersten Mal, in den 1980er-Jahren, ging es darum, das Haus überhaupt zu retten, es war vergessen, durch Aufbauten entstellt, stand leer, sein Interieur geplündert.

Es ist eine der Ikonen österreichischer Architekturgeschichte: das ehemalige Sanatorium in Purkersdorf im Wienerwald von Josef Hoffmann aus dem Jahr 1906, ein kubisch-kühles Bauwerk an der Schnittstelle der Eleganz des 19. und der Rationalität des 20. Jahrhunderts. Der Harvard-Architekturhistoriker Eduard Sekler schrieb 1986, das Sanatorium stehe „gleichwertig neben den besten zeitgenössischen Architekturschöpfungen“ und sei zu Recht international als Meisterwerk anerkannt.

Als Sekler dies schrieb, war das Sanatorium in desolatem Zustand, nicht zuletzt dank des Engagements von Gunter Breckner wurde es gerettet, in den 1990er-Jahren restauriert und steht unter Denkmalschutz. Warum ist 2023 wieder eine Rettungsaktion nötig? Nicht weil hier Abbruchbagger drohen, sondern weil die Gemeinde zwischen Sanatorium und Straße einen Kindergarten bauen will. Dieser sei wichtiger als die Sichtachse durch den Sanatoriumspark, der ja sowieso nicht öffentlich sei.

Das sehen nicht alle so. Auch der Garten gehöre zum Denkmalschutz, betont Markus Landerer von der Initiative Denkmalschutz, die gemeinsam mit der Aktionsgruppe Bauten in Not und der Zentralvereinigung der Architekten in Purkersdorf Protest eingelegt hat. „Es ist das übliche Spiel der Politik. Nutzungen für den „guten Zweck“ werden für geplante Verbauungen in sensiblen Natur- und Kulturräumen als Argument vorgeschoben, im Wissen, dass man deren Verbauung anders schwer begründen kann.“

Asphalt statt Park

Wie es aussieht, wenn man einem bauhistorischen Einzelstück mit der Sensibilität eines Sumoringers naherückt, lässt sich ein paar Wienerwaldkilometer weiter nachprüfen: 2012 erwarb die Gemeinde Pressbaum die Theophil-Hansen-Villa, erbaut vom Architekten des Parlaments, inklusive Park. Die Nutzung gestaltete sich schwierig, bis man auf die Universalfüllmasse des Wohnbaus zurückgriff: Im Juni 2022 wurden 48 geförderte Wohnungen übergeben, die sich unmittelbar hinter die kleine Villa drängen. Da zwei Stellplätze pro Wohnung vorgeschrieben sind, verwandelte sich der Park in ein Meer aus Asphalt. Drive-in-Wohnen, mit einer Villa als bezugslosem Pförtnerhäuschen.

Um diesen traurigen Zustand herzustellen, brauchte es gar keinen bösen Willen, denn oft steckt eigentlich gut Gemeintes hinter schlechten Ergebnissen. Die Wohnbauförderung in Niederösterreich begünstigt das Bauen im Ortskern – an sich eine gute Sache, denn so wird Zersiedelung am Rand vermieden. Nachteil ist, dass alte Wohn- und Wirtshäuser, die früher das Leben im Ortskern ausmachten, oft diesen Sachzwängen weichen müssen.

So drehen sich die gewohnten Rädchen bewährter Abläufe, die auf heute fragwürdig erscheinenden Wertvorstellungen beruhen. Für Reparatur statt Neubau, Mikroklima statt Hitzeinseln, Sonderlösungen statt Standardware ist wenig Platz und noch weniger Geld. Doch so werden Realitäten geschaffen, die Jahrzehnte bleiben, und Teile der gebauten und gewachsenen Umwelt zerstört, die nicht wiederkommen.

Keine Schutzzonen

Diskussionen gab es auch in St. Pölten, wo das nicht denkmalgeschützte Alte Presshaus mit seiner Sgraffitofassade 2018 abgebrochen und mit Maximale-Kubatur-hineinstopf-Architektur ersetzt wurde. Eine Schutzzone, die auch bei fehlendem Denkmalschutz die Abbruchlust hätte bremsen können, gab es damals ebenso wenig wie bei der 1899 erbauten Hüfner-Villa beim Bahnhof Grieskirchen. Diese ist seit dem 15. Mai 2022 Geschichte – „schweren Herzens“, so der Geschäftsführer der Firma Lagerhaus, die das Haus erworben hatte.

Gründerzeitvillen und Ikonen: Sind die Klagen über die Abrisse nur Zeichen einer feudalen Nostalgie oder Konfliktzone für Denkmalpflegenerds? Das greift zu kurz, denn auch wenn nicht jedes Einfamilienhaus eines k. u. k. Fabrikanten kunsthistorisches Gold ist, gilt heute der sorglose Abriss an sich schon als Problem, allein aufgrund der Klimabilanz. Wurde früher die Behauptung, etwas sei baufällig, abbruchreif oder „in die Jahre gekommen“, brav abgenickt, kommt man heute nicht mehr so einfach damit durch.

Zerstörte Arbeitersiedlung

Nicht nur das, auch um historische Bauten für die Arbeiterklasse wird gekämpft. In Villach formierte sich eine engagierte Initiativgruppe für den Erhalt der Kanaltalersiedlung aus den 1940er-Jahren, nachdem sie 2015 aus der Zeitung erfahren hatte, dass die Landeswohnbau Kärnten (LWBK) den Komplettabriss plante. Die Gruppe erarbeitete ein alternatives Sanierungsprojekt und erstellte einen Leitfaden „Quartier & Wir“, der nachvollziehbar argumentierte, dass eine Sanierung eine bessere Ökobilanz hat als Abriss und Neubau. Doch für den Anlassfall selbst war es ein Optimismus mit Ablaufdatum. In diesem Winter fräsen sich die Bagger durch die Siedlung, die LBWK-Neubauten werden als „Reconstructing“-Projekt tituliert. Das kann man ohne viel Mühe als Zynismus lesen.

In Linz wird seit vielen Jahren um die von 1927 bis 1931 erbaute Hafenarbeiter-Siedlung an der Sintstraße gerungen, 2020 wurde das Areal mit seinen denkmalgeschützten 18 Kleinhäusern vom stadteigenen Wohnbauträger GWG an die private Strabag verkauft. „Kein Ideenwettbewerb, keine städtebauliche Ambition, kein Wille, aus dieser Perle ein Vorzeigeprojekt mit leistbarem Wohnen für junge Familien zu machen“, sagt Lorenz Potocnik, Stadtentwickler und Kommunalpolitiker der Bürgerliste Linzplus, und fürchtet einen Teilabriss des Gartenstadtensembles.

Alles Einzelfälle oder Zeichen einer beschädigten Baukultur? Sensibler ist der Umgang mit Altbauten nicht geworden, sagt Architekt Ernst Beneder, Mitglied in vielen Gestaltungsbeiräten, derzeit in Salzburg und St. Pölten. „Abbrüche geschehen auch dort, wo es bis vor kurzem niemand vermutet hätte. Es trifft die Altstädte im Kern genauso wie deren Passepartout, die Zonen unscheinbarer baulicher Substanz, die allerdings erst dem Stadtbild seinen Rahmen, also den topografischen und sozialen Kontext, geben. Und es geschieht merkbar häufiger.“

„Der schmerzlichste Verlust ist dabei nicht die Bildwirkung, sondern die identitätsstiftende räumliche Komplexität, im Inneren und in der stadträumlich wirksamen Stellung der Häuser zueinander. Der Ersatz durch spekulative Neubauten bietet diesen vielfach nicht.“

14. Januar 2023 Der Standard

Kein Solostück

Der Kärntner Günther Domenig galt als störrischer Rebell der Architektur. Eine Ausstellung korrigiert jetzt das Klischee des einsamen Genies und erzählt sein Leben über die Biografien seiner Weggefährten neu.

Das Bild des einsamen, vorzugsweise männlichen Genies will und will nicht aus unseren Vorstellungen über Architektur verschwinden. Erst recht nicht, wenn jene sich besonders künstlerisch aufführt, und erst recht nicht im patriarchalen Österreich. Der 1934 in Kärnten geborene und 2012 verstorbene Günther Domenig bot dafür die perfekte Projektionsfläche. Störrisch, widerborstig, cholerisch und schwärmerisch die Person, expressiv in den Raum schießend und organisch zerfließend die Architektur. Und Herr Professor war er auch noch.

„Dimensional – von Gebäuden und Gebilden“, der große Reigen an Events, der im letzten Jahr in Kärnten anlässlich des zehnten Todestags des Architekten stattfand, kratzte nicht an diesem Heiligenbild, sondern verstärkte es nur noch mehr. Mit Literatur und Tanz im Begleitprogramm wurde Architektur als Kunst interpretiert, entsprungen aus einem singulären Gehirn. Es erstaunte dennoch, dass trotz des astronomischen Ausstellungsbudgets von rund einer Million Euro vieles fehlte, nämlich das Umfeld des Meisters. All die Mitarbeiterinnen, Partner, Auftraggeber, Ideengeberinnen und Ideenumsetzer, die es in der Architektur nun eben gibt, und die so oft ausgeblendet werden, weil sich Heldengeschichten besser erzählen lassen. Doch jetzt gibt es eine zweite Ausstellung, auf neutralem Boden zwischen Wien und Graz, nämlich im Kunsthaus Mürz, die beweist, wie packend man die Lebens- und Schaffensgeschichte eines Mannes erzählen kann, wenn man über alle anderen redet außer über ihn selbst. „Das Wort Wir existierte in Günther Domenigs Sprachgebrauch nicht“, sagt Michael Zinganel, der die Idee zu dieser Gegenausstellung zu den Domenig-Festspielen hatte und sie folgerichtig Wir Günther Domenig nannte. Da weiß man sofort: Hier wird eine Selbstmythologisierung dekonstruiert.

Zinganel, selbst eine Zeitlang Mitarbeiter im Büro Domenigs, konnte einfach nicht anders, sagte er. Einige Weggefährten des Architekten, die für die große Domenig-Schau in Kärnten nicht oder zu spät angefragt wurden, hätten sich an ihn gewandt. Sie waren an der richtigen Adresse, denn Zinganel ist nicht nur ein profunder Kenner von allem, was hinter den Kulissen österreichischer Architektur passiert, sondern auch ein großer Geschichtenerzähler.

Mythos Domenig

Geschichten gibt es wahrlich genug, wenn man die Biografie Domenigs in dutzende parallele Einzelbiografien auffächert. Da wären natürlich die offiziellen Partner Eilfried Huth, Hermann Eisenköck und Gerhard Wallner, mit denen Domenig im Laufe der Jahrzehnte seine Büros führte. Da wären Generationen von Architektinnen, die in seinem Büro oder am Institut der TU Graz, das er von 1980 bis 2000 leitete, mitarbeiteten.

Da wären die Auftraggeber, die ihm wohlgesonnen waren, obwohl er sich als von ihnen unverstanden und unterdrückt inszenierte. Da wären die Politiker, die ihn mal förderten, mal vor dem Konkurs retteten, und die Kulturindustrie, die den Mythos Domenig begeistert verstärkte.

Domenigs Karriere entstand nicht aus dem Nichts, sie wurde von gütigen Geistern begleitet. Den Grundstein legte die Beton-Symphonie der Pfarrkirche in Oberwart (1969, gemeinsam mit Eilfried Huth), die von den brutalistischen Gotteshäusern des Schweizer Architekten Walter Förderer inspiriert war und, ebenso wie das organische Walgerippe des Mehrzwecksaals der Grazer Schulschwestern (1977), ermöglicht wurde durch aufgeschlossene Vertreter einer vom Zweiten Vatikanischen Konzil befreiten Kirche.

Nicht nur bei der Kirche, auch bei der Politik profitierte Domenig von der Ära einer Aufbruchsstimmung. „Hätte der damalige Landeshauptmann Josef Krainer nicht den progressiven Wolf-Dieter Dreibholz in die Bauabteilung des Landes geholt, hätte es das Modell Steiermark nicht gegeben, keine Offensive in den Bildungsbauten des Bundes, keine Professionalisierung des Wettbewerbswesens, kein HDA (Haus der Architektur)“, sagt Zinganel. „Die Karriere Günther Domenigs hätte sich ganz anders entwickelt.“

Kultureller Olymp

Als Turbobeschleunigung des Domenig-Ruhms, so Zinganel, fungierte schließlich die Ausstellung im Wiener Mak 1987, die sich allein dem weit von der Fertigstellung entfernten Steinhaus widmete, ermöglicht vom damaligen Mak-Direktor Peter Noever, dem das Zelebrieren virilen Künstler-Draufgängertums nicht gerade fremd ist. Eine Ausstellung über ein einziges, nicht einmal fertiges Haus, die eine heute kaum denkbare Medienresonanz in Funk und Fernsehen hervorrief.

Domenig war somit in den kulturellen Olymp des Landes aufgenommen worden. Eine wichtige Rolle übernahm dabei die ORF-Journalistin Krista Fleischmann, die den rhetorisch unberechenbaren und eher instinktiven als intellektuellen Domenig zähmte und ihm kohärente Interviewaussagen entlockte, die für die Wiener Gesellschaft akzeptabel waren.

Die vielfach verästelten und sich überschneidenden Einzelbiografien kommen mal im O-Ton zu Wort, mal werden sie in knappen, aber aussagekräftigen Worten umrissen. Manche, wie etwa Volker Giencke, wurden später selbst Professoren, für andere endete der gemeinsame Weg abrupt und im Streit. Mit ihnen überwarf sich der zänkische Architekt, mal wollte er Mitarbeiter aus Trotz nicht bezahlen, mal ihre kreative Beteiligung nicht anerkennen.

So erzählt die mit einer Fülle an Plänen, Fotografien, Zeichnungen und Modellen angereicherte und trotzdem übersichtliche Ausstellung ein episches Stück kärntnerisch-steirisch-österreichischer Kulturgeschichte. Eine Reise durch das Sonnensystem des Wir, die das große Ich in seiner Mitte immer nur touchiert, dabei aber trotz aller Ego-Korrektur ausgesprochen fair bleibt und jede posthume Abrechnung vermeidet.

Schließlich, so Zinganel, ginge es ihm nicht darum, ein Idol vom Sockel zu stoßen, sondern um die Darstellung der Prozesse, die Architektur möglich machen. Am Schluss ist man um vieles klüger, und wenn man das Wir subtrahiert, bleibt immer noch reichlich Domenig übrig.

Eine unterhaltsame und dringend notwendige Korrektur, die man sich am liebsten gleich auch für viele andere mit dem furchtbaren Begriff „Stararchitekt“ gebrandmarkte Personen wünscht.

17. Dezember 2022 Der Standard

Nichts wegwerfen!

Sie haben soeben eine riesige Eishockeyhalle gebaut, aber eigentlich wollen Adam Caruso und Peter St John keine Neubauten, sondern nur noch Umbauten machen. Ein Besuch bei den Pionieren des Adaptierens in Zürich.

An der Wand hängt das gerahmte Bild einer fein handgezeichneten Fassade. Auf dem Boden davor liegen ein blauer Gymnastikball und ein Sprungseil. Hinter der Tür links türmen sich große Architekturmodelle, hinter der Tür rechts sind Umkleidekabinen in Punschkrapferl-Rosa zu sehen. Gegenüber: ein großer Raum, der wie die Bauhaus-Variante eines Flashdance -Aerobic-Videos aussieht. Breite Glasfront, großer Spiegel, ein abstraktes Arrangement aus Edelstahlstangen. Hinter der Spiegelwand: der Arbeitsalltag des Büros Caruso St John Architects.

Nein, das, was hier auf einer Büroetage in Zürich zusammenkommt, ist nicht die veredelte Version der Tischfußball-Tischtennis-Grundausstattung angestrengt kumpelhafter Start-up-Firmen, sondern das kreative Ergebnis eines kontrollierten Downsizings. Caruso St John Architects, 1990 in London gegründet, haben ihre 2010 gegründete Schweizer Filiale halbiert, und es geht ihnen dabei sehr gut.

Bekannt geworden sind Adam Caruso und Peter St John mit zwei feinen Galeriebauten im London der 1990er-Jahre, bevor sie mit Bauten wie der Zürcher Europaallee und der Bremer Landesbank in großem Maßstab auftraten. Ihre Bauten sind weder vom Hochglanz des absolut Neuen überstrahlt noch nostalgisch verklärend, sie erschließen sich erst nach längerem Hinschauen. Einen besonderen Ruf haben sich Caruso St John im Umgang mit historischer Bausubstanz erarbeitet, vom Londoner Sir John Soane’s Museum bis zu einer barocken Klosterkirche in St. Gallen.

Eishockey-Palast

Im Herbst 2022 haben sie eines ihrer größten Projekte eröffnet: die Swiss Life Arena, Heimat des Zürcher Eishockeyvereins ZSC Lions. 33 Meter hoch und mit 12.00 Sitzplätzen sitzt sie breit und ausladend zwischen Bahnstrecke, Kleingärten, Abfallverwertung und Bürocampus im Limmattal. Sie sieht nicht aus, wie man sich eine Eishockey-Arena vorstellt. Keine wuchtige Stahlhalle, sondern ein rätselhafter Palast aus weißem Sichtbeton, der sich weich wie ein Vorhang um runde Bullaugenfenster faltet. Man assoziiert die feierliche Wucht Londoner Art-déco-Kinos der 1920er-Jahre, doch inspiriert wurden Caruso St John unter anderem von Nomadenzelten in der arabischen Wüste. Im hochdotierten Wettbewerb für die Arena hatten sie Stars wie David Chipperfield und Bjarke Ingels ausgestochen. Ein Karrieresprung in die globale Kongresszentrum-in-Baku-Liga also? Nein.

„Eigentlich wollen wir gar keine Neubauten mehr machen“, sagte der gebürtige Kanadier Adam Caruso, als er im November die voluminöse, in senffarbenes Leinen gebundene Monografie präsentierte, die das Werk der ersten 15 Jahre Caruso St John versammelt. Die Präsentation des Buchs fand passenderweise auch nicht vor dem Zürcher Geldadel in der VIP-Lounge der Swiss Life Arena statt, sondern auf einem Sofa in einer kleinen Hinterhofwerkstatt im Viertel Wiedikon, umringt von junger Kunst-Crowd. Dem unscheinbaren Hinterhaus an der Erikastraße haben Caruso St John soeben einen kecken silbernen Dachgupf aufgesetzt, die Räume darunter aufs Minimalste umgebaut, die Werkstatt blieb fast unberührt.

Fast fühlte man sich in das London von 1990 transportiert, als Caruso St John im Umfeld der Young British Artists wie Damien Hirst ihre Karriere starteten, in einer vom Thatcherismus verwüsteten Stadt, die reichlich leerstehende Fabrikhallen bot. „Die jungen Künstler haben uns ihren Blick auf die Stadt beigebracht“, erinnert sich Caruso. „Wir lernten von ihnen, das Schöne im Zerfall zu sehen und aus den Materialien und Resten etwas Neues, Wertvolles zu machen.“

Dem sind die beiden bis heute treu geblieben. Keine scheinbar geniale, aus dem Nichts inspirierte Serviettenskizzenarchitektur, sondern ein Arbeiten mit dem, was man vorfindet. Eine Haltung, die heute aktueller denn je ist, vor allem aus ökologischen Gründen. Am 19. September forderten deutsche Architekten in einem offenen Brief an Bundesbauministerin Klara Geywitz ein Abrissmoratorium. Die Bauwirtschaft ist für rund 40 Prozent der CO₂-Emissionen verantwortlich, und das, so der dringende Appell, könne so nicht weitergehen.

Kultur und Klima

Für Adam Caruso ist die Frage „Kultur oder Klima?“ kein Entweder-oder. „Wenn der Abbruch eines Hauses so viel kosten würde, wie er die Umwelt wirklich kostet, würde kein Investor mehr abreißen. Aber das Technische ist nie ein Hindernis für das Formale und Gestalterische.“ Doch auch Caruso St John haben sich immer mehr einer Art Abrissmoratorium angenähert, sagt er. „Noch vor drei oder vier Jahren hätte ich beim Umbau eines bestehenden Gebäudes gesagt: Diese oder jene Bauteile sind nicht so gut, die werfen wir weg. Heute denke ich: Ich will überhaupt nichts mehr wegwerfen. Ich mag die Herausforderung, in jedem Ding einen Wert zu sehen. Das ist auch unsere Verantwortung als Architekten, denn wir legen diesen Wert fest.“

Das funktioniert auch im großen Maßstab: In Brüssel adaptieren Caruso St John derzeit gemeinsam mit Bovenbouw Architectuur den ehemaligen Firmensitz der Versicherung Royale Belge aus dem Jahr 1970, ein Gebirge aus Spiegelglas und Beton, das noch vor wenigen Jahren wohl jeder Investor gesprengt hätte, nicht zuletzt aufgrund der schlechten Energiebilanz von 70er-Jahre-Fassaden. Doch die lässt sich auch ohne Abriss reparieren.

Kein Wunder, dass Caruso, der seit 2011 als Professor an der ETH Zürich lehrt, diesen Wertewandel auch an die nächste Generation weitergibt. Während woanders noch der große Entwurf auf dem leeren weißen Papier gelehrt wird, bekommen Carusos ETH-Studierende schon seit Jahren nur noch Umbauten als Hausaufgabe. Das funktioniert sehr gut, sagt er. „Bei Ihnen in Wien wird der Umbau fast gar nicht gelehrt. Das finde ich unglaublich in einer Stadt, wo so viele großartige Bauten der Architekturgeschichte im Grunde Umbauten sind.“ Wie sagte schon Hermann Czech vor 50 Jahren: „Alles ist Umbau“. Heute mehr denn je.

Hinweis: Die Reise erfolgte auf Einladung der Architekten.

10. Dezember 2022 mit Wojciech Czaja
Der Standard

„Alles ist so ernst geworden“

Am 13. Dezember feiert Wolf Prix seinen 80. Geburtstag. Dem ΔTANDARDerzählt er, wofür er heute brennt, warum er es für blödsinnig hält, die Bauwirtschaft als CO2 -Sünderin hinzustellen, und wie es ist, für Autokraten zu bauen.

STANDARD: In Ihren jungen Jahren haben Sie gesagt: „Architektur muss brennen.“ Muss sie das, wenn man 80 ist, immer noch?

Prix: Freilich! Die meisten glauben, dass wir wirklich Feuer legen wollen, aber das wollen wir natürlich nicht. Im übertragenen Sinne muss Architektur aber auf jeden Fall Emotionen erzeugen.

STANDARD: Was wurde aus den „jungen Wilden“, wie Sie sich damals genannt haben? Wird man zu einem alten Wilden? Oder doch zu einem jungen Gemäßigten?

Prix: Heute bin ich gelassener. Ich ärgere mich nicht mehr über unsere Fehler und die Fehler der anderen, sondern ich ärgere mich gar nicht mehr, ich lache gerne. Allerdings wurde früher mehr gelacht, die Architekten waren lustiger und frecher, die Medien waren provokant, die Gesellschaft war offener. In den letzten Jahren ist alles ernst geworden, man versteht keinen Spaß mehr. Vielleicht liegt das auch an den Architektenverträgen, die immer dicker und umfangreicher werden.

STANDARD: Die Rolling Stones galten früher als Rebellen, heute füllen sie Stadien für die ganze Familie. Auch Sie waren ein frecher Rebell, heute bauen Sie für Zentralbanken und Regierungen. Sehen Sie hier Parallelen?

Prix: Kann sein, dass es hier tatsächlich Parallelen gibt. Auch die Karriere eines bauenden Architekten wandelt sich mit der Zeit. Stellen Sie sich vor, ich würde heute das Gleiche planen wie 1968, als wir mit unseren Gedankenräumen eine neue Lebensweise wecken wollten. Das ist heute unvorstellbar! Beim Bauen und Realisieren und mit dem Älterwerden geht man mit der Kraft ökonomischer um. Um diese Erfahrung kommt man nicht herum.

STANDARD: Gemeinsam mit Ihren Zeitgenossen – mit Zünd-Up, Missing Link und Haus-Rucker-Co – haben Sie in den 1960er-Jahren an der Verbesserung der Welt gearbeitet. Was wurde aus den damaligen Visionen?

Prix: Ich sage gerne, dass wir verloren haben. Die Idee der optimistischen Gedankengebäude war nicht durchsetzbar. Der Unterschied ist nur, dass wir damals das zukünftige Leben völlig neu definiert haben! Heute ist die Lebensqualität einer Stadt nichts anderes als ein neues Biedermeier: Rückzug in die Ego-Privatheit, Rückzug aus dem öffentlichen Raum, Rückzug in die Gemütlichkeit, auf dem grünen Balkon im Liegestuhl sitzend, mit einer Flasche Bier in der Hand, die romantische Scheinrealität einer grünen Stadt. Wo sind die zukünftigen innovativen Lebenskonzepte?

STANDARD: Heute reden wir über Ressourcenschonung. Die Bauwirtschaft steht als CO2 -Sünderin am Pranger.

Prix: Oje, schon wieder diese blödsinnige Feststellung.

STANDARD: Wissen Sie, wo der Stahl für Ihre Museen und Konferenzzentren herkommt?

Prix: Nein, das weiß ich nicht. Muss ich auch nicht. Aber ich mag diese Diskussionen nicht. Denn wenn wir von Materialverschwendung sprechen, dann müssen wir schon die Architekturindustrie mit der Waffenindustrie vergleichen. Wir bauen Waffen aus Unmengen von Stahl, die nur einen einzigen Zweck haben: Zerstörung. Und wir bauen Kampfflugzeuge, wovon eines so viel kostet wie das Musée des Confluences in Lyon, und nach spätestens fünf Jahren wird es abgeschossen. Das müssen wir vergleichen! Vergleichen wir doch den CO2 -Ausstoß des Kriegs in der Ukraine mit dem CO2 -Ausstoß von unseren Kulturbauten auf der Krim. Darüber müssten wir sprechen!

STANDARD: Ihre größten und wichtigsten Projekte haben Sie stets im Ausland realisiert, zuletzt vor allem in China. Aktuell bauen Sie in Russland und auf der Halbinsel Krim. 1998 haben Sie in einer Rede in Wien gesagt: „Autoritäre Systeme vertragen keinen Ungehorsam.“ Wie verträgt sich das?

Prix: Es kommt nicht darauf an, für wen oder wo wir bauen, sondern was wir bauen. Was Russland betrifft, so habe ich alles Relevante schon im Spiegel -Interview gesagt. Außerdem sind wir jetzt von der EU sowieso sanktioniert. Wir dürfen nicht mehr für Russland arbeiten – ein demokratisches Arbeitsverbot. Alle Aufträge, die wir in Arbeit haben, Hochhäuser, Theater, Schulen und Kulturzentren, können wir wegwerfen. Toll!

STANDARD: Auf der Krim nach 2014 zu bauen dient der Legitimierung einer völkerrechtswidrigen Annexion. Sehen Sie das anders?

Prix: Wir hatten auf der Krim nie ein Arbeitsverbot, denn Kulturbauten waren von den Sanktionen ausgenommen. Aber ja, nun müssen wir auch dieses Projekt stoppen. Ein Freund von mir hatte auf der Krim eine Fabrik für Maschinenteile und wurde ebenfalls sanktioniert. Wer, glauben Sie, hat diese Lieferungen übernommen? Ein Amerikaner! Also hören Sie mir auf mit den moralischen und angeblich politischen Darstellungen ...

STANDARD: Die meisten und größten Ihrer Aufträge kommen von autokratischen Regimen. Was macht das mit Ihnen?

Prix: Gar nix. Gegenargument: Ich habe Sympathie für eine Gesellschaft, demokratisch oder autokratisch, die sich erlaubt, auf einen Schlag in sieben Städten Kulturzentren zu bauen. Bei uns heißt es nur: Brauchen wir nicht! Es wird gerne vergessen, dass auch ein François Mitterrand autokratisch entschieden und zahlreiche Großprojekte beauftragt hat. Und ganz ehrlich: Es macht keinen Unterschied, ob man für Autokraten oder für Turbokapitalisten baut. Für Autokraten ist es sogar etwas angenehmer, weil sie nicht jeden Cent berechnet haben wollen, um zu wissen, wie viel sie mit einem Projekt verdienen.

STANDARD: Welche Auswirkungen haben die Russland-Sanktionen auf Ihr Büro?

Prix: Wir arbeiten nun für einen anderen Autokraten und sitzen mit all jenen, die gesagt haben, dass sie für Russland nicht mehr arbeiten wollen, Schulter an Schulter in Saudi-Arabien. Dort planen wir alle an der 170 Kilometer langen Linearstadt Neom. Das ist eine der radikalsten Stadtplanungsideen, eine Mischung aus Le Corbusier und Superstudio.

STANDARD: Im Rückblick auf mehr als 50 Jahre Schaffen: Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?

Prix: Auf drei Dinge: auf den Dachbodenausbau in der Wiener Falkestraße, auf das Musée des Confluences in Lyon und auf das Mocape-Museum in Shenzhen, weil ich bei diesem Projekt Piranesi am nächsten gekommen bin.

STANDARD: Am 13. Dezember werden Sie 80. Was wünschen Sie sich zum Geburtstag?

Prix: Weiß ich nicht. Das ist ein Tag wie jeder andere. Das ganze Drumherum ist mir völlig egal. Aber ich weiß, dass ich nicht noch weitere 80 Jahre vor mir habe. Und dass ich gewisse Dinge nicht mehr erleben werde, von denen ich als junger Architekt dachte, ich würde sie noch erleben. Zum Beispiel die Projekte in Russland. Oder dass ich noch lerne, Keith Richards Riff in Gimme Shelter spielen zu können.

STANDARD: Gibt es einen Wunsch für die Zukunft?

Prix: Ich habe immer noch den Wunsch, dass wir die großen Probleme der Welt mit Wissen und Optimismus lösen können – und dabei nicht vergessen zu lachen.

STANDARD: Wofür brennt Wolf Prix heute?

Prix: Für die Möglichkeit, Architektur zu bauen, die beweist, dass wir mit manchen Aussagen recht gehabt haben könnten. Und trotzdem: Jeder hat recht, aber nichts ist richtig.

Wolf Dieter Prix, geboren am 13. Dezember 1942 in Wien, gründete 1968 mit Helmut Swiczinsky und Michael Holzer das Büro Coop Himmelb(l)au, das er seit 2001 allein leitet. Er zählt zu den wichtigsten Vertretern des Dekonstruktivismus.

19. November 2022 Der Standard

Weltstadt oder Wienerwald?

Der Neue Markt in Wien ist wiedereröffnet. Mit Tiefgarage unten und viel Gewächs oben. Ein ökologischer Widerspruch, ein gestalterisches Durcheinander, aber auch Indiz für einen Wandel von der grauen zur grünen Stadt.

Struppige Stauden in eckigen Trögen. Große Platanen in teils runden, teils gerade abgesägten Betonumfassungen, von Schanigarten-Umzäunungen eingekeilt. Niedrige Gräser und kleine Bäume im Kies, gehalten von einem dünnen Band aus Stahl. Zwei amöbenförmige Abluftinseln aus Beton drängeln sich vor den Eingang zur Kapuzinergruft wie muskulöse Türsteher, auch diese Schwergewichte werden rankend begrünt. Zwischen all dem: das Wiener Magistratsmobiliar des öffentlichen Raums, die blechernen Mistkübel schmiegen sich an die Laternenmasten aus der K.-u.-k.-Zeit an, wie zeitreisende Roboter, denen die Batterie ausgegangen ist. Inmitten dieser vielstimmigen Vollmöblierung steht etwas verloren der restaurierte Donnerbrunnen herum. Der neu gestaltete Neue Markt, einer der ältesten Plätze Wiens, ist ein Durcheinander.

Bestückte Leere

Wie es dazu kam, ist eine lange, bekannte Geschichte, und sie beginnt im Untergrund. Pläne für den Bau einer Tiefgarage gab es schon lange, 2003 wurde ein Wettbewerb für den dann autofreien Platz ausgelobt, den Paul Katzberger gewann mit einem Entwurf, der den Platz weitgehend freiräumte, die Außengastronomie auf je ein Feld an beiden Enden einhegte und eine „Großzügigkeit vor der Kapuzinergruft“ vorsah.

Es folgten intensive Debatten zwischen Tiefgaragengegnern und -befürwortern, das Projekt pausierte eine Weile, bis schließlich die ersehnte Garage mit 364 Plätzen vier Etagen in die archäologisch bedeutsame Tiefe gegraben wurde. Autofrei ist der Platz trotz der Autos unter ihm nicht geworden, aber immerhin autofreier als zuvor. Die Leere des Stadtraums mit seinen historischen Fassaden wurde während der Planung sukzessive mit immer mehr Bepflanzung bestückt, jetzt, nach Fertigstellung, erinnert der Platz ein wenig an eine Gartenbauausstellung.

Muss eine Weltstadt zum Wald werden? Vielleicht muss sie das in der Tat. Zwar gilt immer noch der Grundsatz: Ein Platz ist kein Park, und auf einen Markt gehört keine Wiese. Doch die Begrünung versiegelter Plätze ist ein internationaler Trend, der Laien und Fachwelt gleichermaßen erfasst hat. Galten bis vor wenigen Jahren noch die steinernen Piazze von Venedig bis Siena als urbanistisches Ideal, auf deren hartem Pflaster sich mediterrane Lebensart quasi von selbst einstellt, denkt man heute, einige Hitzesommer später, anders.

„Es gibt in der Tat einen Shift von der Versiegelung hin zu mehr Grün, aus ökologischen Gründen wie auch aus psychologischen und ästhetischen“, bestätigt auch Lilli Lièka, Landschaftsarchitektin und Professorin an der Boku Wien. „Die Architekten haben lange dafür gekämpft, dass ein leerer Platz als Ultima Ratio gilt, aber heute realisiert man, dass sich befestigte Flächen viel zu stark aufheizen.“ Bei 40 Grad ohne Schatten schafft es eben auch der härteste Flaneur nicht mehr, mit der Espressotasse in der Hand italienische Sprezzatura zu performen.

Urbaner Dschungel

Dieser Wandel hat auch die Städte des Mittelmeerraums selbst erfasst. In Barcelona wird das Raster von Ildefonso Cerdàs Stadterweiterung des 19. Jahrhunderts, bis heute der heilige Gral der europäischen Stadtbaukunst, mit der Erfindung der „Superblocks“ zu einem grünen Ökotop umgedeutet, die Straßen und Plätze zu einem urbanen Dschungel aufgeforstet. Renommierte Landschaftsplaner wie SLA aus Kopenhagen haben ebenfalls die Wende vom harten Boden zum Ökotop vollzogen. Nicht nur in Wien bestellen Stadtverwaltungen heute eiligst so viele „XL-Bäume“, wie das Budget hergibt.

„Die Produkte der Landschaftsarchitektur brauchen immer Zeit, um zur Geltung zu kommen, man muss dem Grünraum Zeit geben zu wachsen“, sagt Lilli Lièka. „Aber heute gibt es immer öfter den Wunsch, dass alles schnell gehen soll. Ältere Bäume haben den Vorteil einer sofortigen klimatischen Wirkung, weil sie Schatten erzeugen und Staub binden. Man darf aber die Frage nicht außer Acht lassen, wo diese Bäume herkommen. Wenn sie per Lkw durch halb Europa gekarrt werden, stimmt die Ökobilanz nicht mehr.“

Bilanz in Schieflage

Diese ist beim Neuen Markt sowieso in starker Schieflage, denn was hilft der Staubfilter 20 Jahre alter Platanen, wenn sich täglich Kfz-Kolonnen zwischen Oper und Albertina durchfädeln, um in der Garagengruft neben Kaiserin Sisi einparken zu können? Ein ärgerlicher Anachronismus, konstatiert Renate Hammer, Geschäftsführerin des Institute of Building Research and Innovation: „Hier ist ein technisch hochaufwendiges Tiefbauvorhaben für den motorisierten Individualverkehr umgesetzt worden. Das erschließt sich einem weder in Hinsicht auf das deklarierte Ziel der Stadt nach effektivem Klimaschutz noch auf die angestrebte Reduktion der Einfahrten in die Innenstadt um 30 Prozent. Stattdessen wäre es dringend notwendig, die Stadt langfristig lebensfreundlich zu erhalten und durch blau-grüne Infrastrukturen an den Klimawandel anzupassen. Das braucht Platz, der hier offenbar vorhanden gewesen wäre. Es sind in diesem Sinne alle lang geplanten Projekte vor ihrer Umsetzung kritisch zu evaluieren.“

Anstatt mit einer Tiefgarage einen Attraktor für den motorisierten Verkehr zu schaffen, sagt auch Lilli Lièka, solle man die Mobilitätswende zum Anlass nehmen, den öffentlichen Raum aufzuwerten, der in der Wiener Flächenwidmung nur als Verkehrsfläche definiert ist: „Dazu gibt es mehrere von Steuergeld bezahlte, aber nie veröffentlichte Studien in den Schubladen des Magistrats.“ Dann klappt es vielleicht auch mit der Ästhetik besser, denn diese stellt ihre Ansprüche ans Grün und ans Grau in gleichem Maße. „Beim Neuen Markt sehe ich in der Gestaltung viele Krücken und Notbehelfe, wie etwa die nachträgliche Begrünung der Abluftschächte.“

Die Neugestaltung eines 800 Jahre alten Platzes um den Anachronismus einer Tiefgarage herum zu konstruieren – darauf wird man vermutlich schon in wenigen Jahren mit ungläubiger Ratlosigkeit zurückblicken. Unter den Platanen und Nebelduschen wurden Fakten geschaffen, und die beiden Zufahrtsrampen werden bis auf weiteres als plumpe Skulpturen des fossilen Zeitalters zwischen Albertinaplatz und Neuem Markt die Straße versperren. Eine Tiefgarage kann man nicht abreißen und nur schwer umnutzen. Vielleicht als Cooling-Bunker, wenn es an der Oberfläche nach dem prognostizierten Scheitern der globalen Klimaziele trotz Nebelduschen und XL-Bäumen zu heiß geworden ist.

5. November 2022 Der Standard

Wert schöpfen

Der österreichische Bauherrenpreis 2022: Vier Gewinnerprojekte sind Umbauten, alle fünf sind Musterbeispiele für einen Wertewandel vom kurzsichtigen Gewinn hin zum dauerhaften Bestand.

Sie kennen das: Man steht vor einem Gebäude und fragt sich, warum es so aussieht, wie es aussieht. Eine Antwort ist immer richtig: Das Verhältnis von Bauherren und Bauendem, oder auf Geschäftsdeutsch: die Bestellqualität. Über diese kann man viele Geschichten erzählen. Viele davon beginnen hoffnungsfroh und enden mit Ernüchterung, wenn sich der Wert des Gebauten nur daraus bestimmt, was unter dem Strich steht, und was gestrichen werden kann.

Zum Beispiel die (verbürgte) Geschichte eines Großwohnbaus in einem von Wiens Neubaugebieten. Sie geht so: Die Architekten wollen mehr als den üblichen Putz auf Wärmedämmung. Sondern Vor- und Rücksprünge, vielleicht Lisenen aus Stein. In vielen Jours fixes zerschellen die schönen Ideen an den Excel-Listen. Stein zu teuer. Zwei verschiedene Putzarten wenigstens? Klick, klick: Nein. Zwei verschiedene Farben, das sei das Höchste, was sich unterm Strich ausginge.

Andere Geschichten erzählen von Gebäuden, deren Bauherren schneller wechseln als das Wetter. Schon während der Planung wird an den nächsten Investor verkauft, und dann nach der Fertigstellung gleich noch einmal. Deren Excel-Listen flimmern auf Bildschirmen in Luxemburg, und was da in Wien rechts und links des Renditeobjekts steht, ist für den Wert nicht relevant.

Happy End mit Wein

Aber es gibt auch Geschichten mit Happy End. So wie diese: Ein 29-jähriger steirischer Weinbauer kommt bei einem WG-Essen mit einer 28-jährigen Berliner Architektin ins Gespräch. Er hat noch nie bauen lassen, sie hat noch nie gebaut. Es folgte eine gemeinsame Expedition in die Welt südoststeirischer Bautraditionen, und heute steht in Pichla bei Radkersburg ein 50 Meter langes perfektes Handwerkstück: Kühlhaus, Weinkeller, Buschenschank reihen sich unter einem Dach aneinander, dessen Konstruktion alleine zu genussvollem Seufzen herausfordert. Lukas Jahn und Mascha Ritter sind sich einig: Das war es wert. „Neun von zehn Winzern errichten ihre Weingüter und Buschenschanken ohne Architekten“, sagt Lukas Jahn. „Ich wollte es anders machen.“

Der Weinhof Locknbauer ist einer der fünf Preisträger beim Bauherrenpreis 2022, der gestern, Freitag, in Salzburg von der Zentralvereinigung der Architekten (ZV) verliehen wurde. Aus den insgesamt 86 Einreichungen wurden 18 Projekte in allen Bundesländern vorausgewählt. Daraus ermittelte die Hauptjury, bestehend aus dem ΔTANDARD-Architektur-Journalisten Wojciech Czaja, dem Schweizer Architekten Armando Ruinelli und Michaela Wolf (bergmeisterwolf Architekten, Südtirol), die finalen Preisträger.

Keine Abrisse mehr

Fünf von 86 von Zehntausenden. Aussagekräftig, oder heißer Tropfen auf den eiskalten Stein der betongewordenen Excel-Listen? Ja und nein. Denn erstens kalkulieren auch die ausgezeichneten Bauherren – private wie öffentliche – nicht mit dem Filzstift. Und zweitens lassen sich hier Schwerpunktverschiebungen in der heimischen Architekturlandschaft kartieren. Allen voran jene vom sorglosen Abriss und Neubau hin zur Bewahrung des Bestands. Konservativ im bestwörtlichen Sinne des Bewahrens, in einer Zeit, da sich das politisch „Konservative“ der kurzsichtigen Destruktion der Lebensgrundlagen verschrieben hat.

Vier von fünf Preisträgern sind Umbauten, zwei davon Bildungsbauten. In Salzburg fanden der Bauherr Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) und Riccione Architekten aus Innsbruck zusammen. Die BIG hatte im Wettbewerb für die Erweiterung der pädagogischen Hochschule die Entscheidung zwischen Abbruch und Neubau oder Sanierung und Erweiterung den Teilnehmern überlassen.

Die beiden Architekten sahen den Wert im Bestehenden und arbeiteten sich mit großer Freude und Zuneigung durch die spröd-graue Substanz aus den späten 1960er-Jahren. Sie entkernten hier, addierten dort ein Foyer und ein Audimax, fügten Farbtupfer hinzu, bis sich Alt und Neu in einem Dialog auf Augenhöhe wiederfanden. „Die Hochschulleitung war zunächst überrascht, nahm die Rohheit und Prozesshaftigkeit der Architektur dann aber sogar in ihr pädagogisches Konzept auf: Der Unterricht hat sich seitdem verändert, hat heute einen offenen, werkstattartigen Charakter“, sagt Wolfgang Mairhofer, Projektsteuerer bei der BIG.

Mehrwert durch Respekt

Der zweite Bildungsbau ist die Schule in Nüziders. Von der Architektengemeinschaft C4 in der Blütezeit der Vorarlberger Baukünstler erbaut, wurde sie 1967 mit dem allerersten Bauherrenpreis überhaupt ausgezeichnet. 2002 bis 2004 wurde das feingliedrige Ensemble von Architekt Bruno Spagolla erweitert, einige Jahre später wurde der Raumbedarf erneut dringlich. Unter dem Juryvorsitz von Bruno Spagolla wurde im Wettbewerb der Entwurf von Fink Thurnher Architekten gekürt, die den bauhistorischen Schichten eine neue hinzufügten: Mehr Wert durch Addition, Mehrwert durch Respekt vor den Vorgängern.

Auch im Wohnbau funktioniert die Formel, nach der Wertvolles dort entsteht, wo man scheinbar wertlos Altem einen Wert zugesteht. Eine Wohnhausanlage aus dem Jahr 1985 in Salzburg. Der gemeinnützige Bauträger Heimat Österreich entschied sich, das renovierungsbedürftige Ensemble nicht abzureißen. Gemeinsam mit dem Salzburger Institut für Raumordnung und Wohnen wurde ein Forschungsprojekt aufgestellt, das Möglichkeiten untersuchte, im Wohnbau den Bestand zu ertüchtigen. Zusammen mit den Architekten Christoph Scheithauer und Stijn Nagels wurde eine Lösung gefunden, die den Zuwachs fast ikonisch darstellt: Eine Aufstockung aus Holzhybridkonstruktion klettert über die Zickzacksilhouette der alten Dächer. Technische Intelligenz trifft ökologische Vernunft, unter dem Strich stehen 24 Wohnungen mehr als zuvor, und mehr Wohnlichkeit für alle.

Auch der Neubau muss nicht leer ausgehen. Den Preis Nummer fünf durften querkraft Architekten und Ikea Österreich mit nach Hause nehmen, deren stahlumgitterter weißer Riese des City-Ikea am Wiener Westbahnhof nicht nur architektonisch, sondern auch in puncto Mobilität in die Zukunft weist. Die Regale und Teelichter im Inneren mögen preisgünstig sein, doch der Wert des Gebäudes ist von Dauer. Man muss es eben nur wollen.

15. Oktober 2022 Der Standard

Auslage in Arbeit

Die Ausstellung „Verhüllung und Verheißung“ am HDA Graz entführt in die vermeintlich schöne Welt der Baustellenwerbung. Hinter den bunt-banalen Tafeln lauern so manche Abgründe und eine stattliche Portion Systemkritik.

Es wäre nicht Graz, wenn es zur Eröffnung keine Kunstperformance gegeben hätte. Eine Skulptur aus Kunststoff, die langsam aufgeblasen wird, während Zitate aus der Immobilienwelt vorgelesen werden. Die Skulptur des Künstlers Sven Borger, die den Raum des Grazer Hauses der Architektur (HDA) seit Ende September füllt, trägt den jenseits der Sperrigkeit angesiedelten Namen NEOLOGISM UnUpsub*Arc, man darf aber auch „Immobilienblase“ dazu sagen.

Rund um die Blase: Ein Baustellen-Arrangement aus gelben Schalungsplatten, darauf montiert in einer Art Metareferenz Fotos von Baustellenzäunen. Verhüllung und Verheißung ist der Name der Ausstellung, die sich die Immobilienwerbung im öffentlichen Raum vorgenommen hat und sich so auch inhaltlich an der Schnittstelle von dreidimensionaler Blase und zweidimensionaler Tafel bewegt.

Sie ist damit eine von sechs Ausstellungen an acht Grazer Institutionen zum Thema Grafikdesign im Spannungsfeld von Kunst und Werbung. Das gemeinsame Projekt „Kunst der Verführung“ wurde koordiniert durch die Creative Industries Styria im Rahmen des Steirischen Herbsts ’22.

Fallhöhe und Kollision

„Grafikdesign ist an sich keine Disziplin der Architektur, aber ich bin schon seit Jahren fasziniert von Plakaten an Baustellen und ihrer Machart“, erklärt HDA-Leiterin Beate Engelhorn, die auch die Ausstellung kuratiert hat. „Man bleibt daran hängen, weil immer irgendetwas nicht stimmt. Es ist eher eine Art Antidesign.“

Nun könnte man sagen: Baustellenschilder gab es schon immer, und wenn Architektur mit Bildern beworben wird, wo ist das Problem? Zum Beispiel in der Fallhöhe, die aus der Kollision zweier Realitäten resultiert: Werden Bauten auf Messen, in Broschüren und online angepriesen, strahlen die schönen Visualisierungen unbehelligt von der Realität – vor Ort sieht die Sache schon anders aus. „Auf den Bildern ist meistens schön viel Grün zu sehen, das es dann aber nicht gibt“, sagt Beate Engelhorn. „Ausblicke aus dem Penthouse bei schönem Wetter, aber nie aus der Erdgeschoßwohnung. Die Interieurs sehen geräumig aus, aber wenn die Wohnung dann möbliert wird, geht die Tür nicht mehr auf. Es sind Luxusobjekte, die immer zum Verkauf angeboten werden und nicht zur Vermietung.“

Das alles ist kein Graz- und kein Österreich-Phänomen, sondern ein globales, dementsprechend wird die Ausstellung durch eine Serie des Architekturfotografen HG Esch illustriert, der verheißende Verhüllungen in Mailand, Rom und Tokio festgehalten hat, die mal wie noch von Christo und Jeanne-Claude verpackte Geschenke aussehen, mal als Schild im Gebüsch am Stadtrand von zukünftiger Zersiedelung und Zerstörung künden: „Hier entsteht ...“

Betonturm wird Betongold

Dort, wo sich der freie Markt besonders ungehindert im Immobiliensektor austoben darf, wie etwa in London, ist die Fallhöhe am drastischsten. Jüngstes Beispiel: der Balfron Tower, 1967 vom ungarischen Emigranten Ernő Goldfinger als Versprechen einer besseren Welt ins noch verslumte Londoner East End gestellt – um zu testen, ob seine Idee des vertikalen Wohnens funktioniert, zog Goldfinger samt Gattin Ursula selbst hier ein. 2022 wurde der für die Generalsanierung leergeräumte Balfron Tower wieder bezogen. Keiner der vorigen Mieter durfte wieder einziehen, stattdessen warten sechs kuratierte „Heritage“-Apartments mit Original-Interieur für Mid-Century-Modern-Hipster – hier können, wie der Architekturkritiker Olly Wainwright im Guardian schrieb, „Brutalismus-Fans den Alltag von Herrn und Frau Goldfinger cosplayen“. Früher von vielen als hässlichstes Haus Londons verdammt, wird der Betonturm jetzt zum Betongold. Der Markt hat gesprochen, der Markt hat immer recht. Extraprise entlarvender Zynismus: Auf dem Bauzaun prangten während der Renovierung Zitate des Architekten, der sich gegen die Elitisierung des Egalitären sicher mit Händen und Füßen gewehrt hätte. Fallhöhe zwischen Werbung und Realität: 84 Meter.

Die Systemkritik, die hier hinter den Schildern lauert, bringt Reinier de Graaf, langjähriger Partner und strategischer Zweitkopf von Rem Koolhaas im Rotterdamer Büro OMA, in der Publikation zur Grazer Ausstellung auf den Punkt, wenn er, sich auf den französischen Wirtschaftswissenschafter Thomas Piketty berufend, in recht düsteren Tönen die optimistische Moderne als kurze Episode rahmt. Deren Traum des sozialen Aufstiegs für alle, den de Graaf selbst im niederländischen Wohlfahrtsstaat erlebt hat, sei im Neoliberalismus, wo Reichtum aus Reichtum entsteht und nicht aus Arbeit, verdampft: „Ein Gebäude ist nicht mehr etwas, das man benutzt, sondern etwas, das man besitzt. Die Bewertung von Architektur und von „architektonischem Stil“ wird dem Markt überlassen. Architektur ist so viel wert, wie andere dafür bezahlen wollen. Dies ist der Moment, in dem Architektur und Marketing ununterscheidbar werden. Das Bild kommt zuerst, die Substanz später.“ So wird das banale Baustellenschild zum Zeichen eines Machtwechsels.

Es entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie, dass de Graafs Büro OMA sich auf genau diesem Feld selbst betätigt, etwa beim immer noch provisorisch KaDeWe betitelten Kaufhaus des Investors Signa Holding an der Wiener Mariahilfer Straße, für das das Möbelhaus Leiner auf die Schutthalde wanderte. Hier versucht man zwar, ein Old Europe mit bürgerlichen Kaufhäusern hinter steinernen Arkaden heraufzubeschwören, um der Zirkulation von Architektur als Verschubmasse von Finanzgeschäften eine Konstante abzuringen, einen Wert, der nicht beim nächsten Wiederverkauf wieder in die Schuttmulde wandert, doch auch hier kommt das Bild vor der Substanz. Mit zeitgemäßer Variation: Am Bauzaun an der Mariahilfer Straße prangen neben den verführerischen Renderings Daten und Zahlen, die die ökologische Nachhaltigkeit des Projekts beteuern. Während hinter den Brettern die nächste Blase emporwächst.

24. September 2022 Der Standard

Leben im Traum eines Königs

Die Kleinstadt Poundbury in Südengland wurde exakt nach den Plänen des Prince of Wales und jetzigen Königs Charles erbaut. Ein dörfliches Ideal-England, von der Architekturwelt belächelt. Ein Besuch an einem surrealen Ort.

Alexandra Wilson-Jones ist entrüstet. Ihre über hundert Topfpflanzen hinter dem Haus müssen weg. Also fast alle, bis auf vier oder fünf. Die Hinterhöfe, sagt ihr Hausverwalter, seien in erster Linie für Fußgänger und Fahrzeuge gedacht. Nicht für Grün. „Aber Pflanzen sind doch sein Ding“, sagte Mrs Wilson-Jones der BBC. „Er würde das nie wollen!“

Er, das ist jene Person, die über der Hausverwaltung steht und seit kurzem auch über allen anderen Mitbürgern von Frau Wilson-Jones. Charles Windsor, vormals Duke of Cornwall und Prince of Wales, seit einer Woche King Charles III. Als solcher ist er – obwohl das Gärtnern in der Tat sein „Ding“ ist – nicht mehr für Pflanzen in Hinterhöfen zuständig. Dies ist nun die Aufgabe des neuen Prince of Wales, Sohn William.

Der fragliche Hinterhof befindet sich in Englands Süden, im Städtchen Poundbury bei Dorchester. Eine Stadt, die es ohne Charles nicht gegeben hätte. Zum einen, weil das gesamte Land der Duchy of Cornwall also bis soeben ihm gehört. Zum anderen, weil er hier seine Idealstadt realisierte, deren Idee er 1989 in sein Buch A Vision of Britain hineinschrieb. Zu viele Architekten, klagte er, würden die Wünsche der normalen Menschen ignorieren. Und diese wünschten sich traditionelle Bauten und Städte anstatt hässlicher Wohnblocks aus Beton.

Dass ein astronomisch reicher Monarch sich als Fürsprecher normaler Menschen gerierte, entbehrte nicht einer gewissen Ironie, und die Architekturwelt reagierte mit genervtem Augenrollen auf die royale Kritik. Doch Charles verfolgte sein Hobby beharrlich weiter. Praktischerweise verfügt die Duchy of Cornwall im Vereinigten Königreich über 550 Quadratkilometer Grund und Boden, kein Problem also, eineinhalb davon für die Realisierung eines Thronfolgertraumes auszuwählen.

Strenge Regeln

Den idealen Partner fand Charles im Luxemburger Architekten Leon Krier. Dieser hatte eine eher ernste Spielart der Postmoderne verfolgt und sich mit Respektsbekundungen für Nazi-Baumeister Albert Speer an den ideologischen Rand manövriert. Für Charles plante er eine Art Dorf-Sadt direkt neben der Kleinstadt Dorchester in der Grafschaft Dorset. Ein Aquarell von Krier zeigte das Ideal: behaglich alt aussehende Häuser, Fußgänger und Fahrradfahrer in Tweed und Röcken, ein Auto im Hintergrund als einziger Hinweis auf die Gegenwart. Ein alternatives England, in dem Weltkrieg, Industrialisierung und Beatlemania nicht stattfanden und das Empire noch heil war. Eine Welt, so weiß wie die Royal Family vor Meghan Markle.

Heute ist Poundbury nahezu fertig und sieht, abgesehen von der Mode, exakt so aus wie das Aquarell von Leon Krier. Ein Stilmix aus Mittelalter und 18. Jahrhundert, garniert mit antiken Säulen. Eine saubere Welt ohne Werbetafeln, Straßenschilder und privates Alltagszubehör. Alles folgt konsequent dem Masterplan, mit strengen Gestaltungsregeln. Für die Haustüren sind nur ausgewählte „heritage colours“ gestattet. Der Coffeeshop am Buttermarket, dem Mittelpunkt des South West Quadrant, residiert in einem achteckigen Türmchen, das Interieur eine präzise kuratierte Welt des Retro-Hipstertums. Diese kleinen Einsprengsel von Gegenwart lassen die omnipräsente Vergangenheit noch surrealer wirken. Das alles ist so nice, dass es beunruhigt, so sicher, dass man sich unsicher fühlt. So perfekt, dass man Erleichterung über ein von einem unachtsamen Autofahrer zerbeultes Absperrgitter empfindet. Ist das eine Stadt oder eine Stadt-Simulation? Eine königliche Truman-Show?

Besuch beim Boss

Ein Besuch im Büro der Duchy of Cornwall, mitten in Poundbury, noch zu Lebzeiten der Queen. Leon Kriers Aquarell hängt gerahmt an der Wand, gegenüber ein Porträt von Charles, lächelnd. Seine Mitarbeiter hier, erfährt man, nennen ihn einfach „The Boss“. Estates Director Ben Murphy erklärt die handfeste Realität der seltsamen Traumstadt. Vor allem junge Familien zögen hierher, aber auch Ältere schätzten die geringen Gehdistanzen. 35 Prozent der Wohnungen sind „affordable“. Viele Jungunternehmer haben hier blühende Betriebe aufgebaut. Man ist fußgängerfreundlich und autofreundlich zugleich. Geschwindigkeitsbegrenzungen gebe es keine, doch alle hielten sich trotzdem daran. Geheizt wird mit erneuerbarer Energie aus Biomethan. Es gibt ein reges Vereinsleben.

Wenn man von der Retro-Ästhetik absieht, klingt das alles zeitgemäß und vernünftig – und die Bauweise ist, mit wenigen Ausnahmen wie den bizarren Palastversatzstücken, bei denen sich die Architekten Quinlan Terry und Ben Pentreath austoben durften, von handwerklicher Sorgfalt, die man in England sonst selten findet. Vielleicht hatte Dietmar Steiner, langjähriger Direktor des AzW, doch recht, als er in seinem Vermächtnis Steiner’s Diary Lobeshymnen auf Poundbury sang und damit für konsternierte Reaktionen bei den architektonischen Zeitgenossen sorgte?

Architektur ist sein Hobby

Oder haben die Kritiker recht wie der britische Architekturpublizist Douglas Murphy, der Charles’ immer wieder neu formulierte architektonische Manifeste als reaktionären Unfug bezeichnete? „Wenn Charles die moderne Architektur verdammt, dann verdammt er die historischen Prozesse, die mit der industriellen Revolution begannen, und beklagt den Verlust der königlichen Macht in dieser Welt. Seine Träume von traditionellen Städten sind die Träume einer Welt, in der den Menschen ihr unverrückbarer Platz in der Gesellschaft zugewiesen wird.“

Man solle doch, sagen die Befürworter der royalen Retro-Ästhetik, den Leuten geben, was sie wollen, und sie nicht erziehen wollen. Doch die Gestaltungsregeln in Poundbury sind weit strikter als in den geschmähten Betonwohnblocks der Moderne, die das bessere Leben für alle zumindest anstrebten. Möchte man wirklich im Traum eines Fürsten leben, der sich Architektur als Hobby leistete, um eine Aufgabe im Leben zu haben?

Ein nächtlicher Spaziergang durch Poundbury. Die Straßen sind menschenleer wie nach der Zombie-Apokalypse. Auf dem Queen Mother Square ragt die überlebensgroße Statue von Charles’ Großmutter als düstere Silhouette in den Himmel. An der Bushaltestelle ist das elektronische Display defekt und sagt: „No real time info available.“ Poundbury existiert in seiner eigenen Zeitzone. Für manche ein Traum, für andere ein Albtraum.

10. September 2022 Der Standard

Der Fiat 500 der Architektur

Mit dem universal kompatiblen Kiosk K67 schuf der slowenische Designer Saša Mächtig in den 1960er-Jahren eine Design-Ikone. Jetzt erfand er ein Update für das 21. Jahrhundert. Eines steht seit heute in Wien.

Trafik, Imbissstand, Empfangsgebäude, Parkscheinautomat, Bienenkorb. Rot, Grün, Weiß, Gelb, Blau. Slowenien, Montenegro, Polen, Japan, Neuseeland. Meistens einzeln, manchmal zu zweit oder zu dritt. Mal auf Hochglanz poliert, mal schief und etwas zerbeult im Eck. Die Materialien: Fiberglas, Stahl, Glas. Ein kleines Ding, circa drei mal drei mal drei Meter groß, freundlich abgerundete Ecken, vier gleiche Seiten, eine davon meistens mit einem kecken Vordach ausgestattet.

Modulare Einheit

Der Pavillon mit dem Namen K67 war vor allem im östlichen Europa jahrzehntelang Bestandteil des Alltags. Entworfen wurde er 1966 in Ljubljana vom slowenischen Designer und Architekten Saša Mächtig, im Alter von gerade mal 25 Jahren. Es war eine Zeit des weltweiten Aufbruchs und Optimismus, in der das blockfreie Tito-Jugoslawien für eine Weile versprach, so etwas wie das Beste beider Welten zu werden: Wohlstand und Sozialismus für alle. Der zum Kleinunternehmertum einladende, immergleiche und doch verschiedene Kiosk war das perfekte Symbol dafür: Er verband das Individuum und das Kollektiv in gleichem Maße.

Dass Mächtig zu seinem Auftrag kam, war ein Glücksfall, erinnert sich der heute 81-Jährige. „Noch als Student hatte ich für die Terrasse des berühmten Hotel Europa in Ljubljana ein wolkig-leichtes Dach aus transluzentem Polyester entworfen. Die Granden der Stadt mochten es, wir saßen oft zu viert zusammen bei Whisky und Kaffee, und irgendwann spätabends klagte der Stadtplanungschef Marko Šlajmer, dass es in Ljubljana an praktischen und schönen Kiosken fehle.“

Mächtig wusste, was er zu tun hatte. Der Geistesblitz kam schnell, er baute ein paar Mock-ups, die Herren waren begeistert, der Rest ist Geschichte. Die Idee einer modularen Einheit, die sich theoretisch endlos aneinanderfügen ließ, war inspiriert vom Geist der Zeit: Die japanischen Metabolisten schraubten Türme aus Raumkapseln zusammen, die Briten von Archigram erträumten wandelnde Plug-in-Städte.

Revolutionäre Ideen, die nie ganz zur Umsetzung kamen. Der K67 dagegen wollte keine Revolution, erklärt Saša Mächtig. „Als Student wollte auch ich unbedingt etwas Großes entwerfen. Aber dann kam ich darauf, dass es besser ist, nicht in großem Maßstab, sondern in großen Stückzahlen zu denken.“ Mehr Auto als Architektur, mehr Fiat 500 als Monument. Klein, wendig, freundlich, benutzbar. „Ein kleiner Pavillon steht nicht in visuellem Konflikt mit der gebauten Umgebung, weil man ihn nicht als Architektur wahrnimmt. Er kann überall stehen.“

Besseres Leben für alle

Und ähnlich wie der kleine Cinquecento, der als „Polski Fiat“ den Osten eroberte, ließ sich auch der K67 von keinem Eisernen Vorhang aufhalten. „Damals bin ich per Anhalter durch ganz Europa gereist“, sagt Mächtig. „Ich habe mich immer als Teil von Europa gefühlt. Slowenische Architektur und Design waren in den 1960er-Jahren sehr beeinflusst von Skandinavien.“

„Es gab viele Parallelen in der Denkweise: die Liebe zur Qualität, zum gut gemachten Detail und zum besseren Leben für alle.“ Bald sollte der Designer auch über Europa hinaus reisen. Im Jänner 1971 stand Mächtig in Manhattan auf der 53rd Street. Neben ihm ein dunkelroter K67, den das Museum of Modern Art soeben für seine Sammlung angekauft hatte.

Kein Wunder, dass auch der Fall des Eisernen Vorhangs dem K67 nichts anhaben konnte. Bis der Hersteller 1999 in Konkurs ging, wurden 7500 Exemplare produziert. In Polen wurde der kleine Pavillon sogar erst nach der Wende populär.

Als der Wildwuchs an Straßenhändlern Anfang der 1990er-Jahre dort zunahm, stellten ihnen die Behörden ein Ultimatum: Sie durften ihre anarchisch-kapitalistischen Aktivitäten fortführen, aber nur in einem ordentlichen K67. Um die Jahrtausendwende wurde der K67 von einer neuen Generation wiederentdeckt, und 2004 startete der deutsche Designer Helge Kühnel sein Projekt „The Kiosk Shots“, das die Verteilung und die Variationen des K67 sammelte und kartierte.

Biomorphes Update

Saša Mächtig hatte sich da schon längst auf andere Pfade begeben. Mit den K67-Produzenten trennte er sich im Streit, um in den 1980er-Jahren den Studiengang für Design in Ljubljana aufzubauen, wo er auch die Professur übernahm. Nach seiner Pensionierung kam er wieder auf sein Lebensthema zurück – jedoch nicht zurückschauend, sondern voraus. Er entwarf einen neuen Pavillon namens K21, der die modularen Prinzipien des Vorgängers mit computergenerierter Formfindung verbindet. Organisch, biomorph und deutlich leichter als der solide Sixties-Pavillon. An eine Autokarosserie erinnert er noch immer, nur eben nicht an einen Fiat 500.

„Das System K21 kann einzeln oder kombiniert werden, als Infostand, Kiosk, Marktstand, Café oder auch als Wohneinheit“, sagt Mächtig. „Man könnte ihn sogar stapeln zu einem Haus.“ Als Sonderausstattung gegenüber dem Vorgängermodell werden Photovoltaikzellen zur energetischen Autarkie mitgeliefert.

Mit wachen, listigen Augen steht der 81-Jährige vor einem brandneuen, soeben installierten leuchtend roten K21 – an unerwartetem Ort, nämlich ausgerechnet im suburbanen Patchwork von Wien-Floridsdorf. Wie das kam? Die hervorragende und sehr gut gealterte Siedlung Gerasdorfer Straße feiert ihr 40-jähriges Bestehen mit der Eröffnung eines neuen Grätzelzentrums, und ihr Architekt Viktor Hufnagl (von dem auch die Wohnanlage Schöpfwerk im Wiener Süden stammt) wäre dieses Jahr 100 geworden.

Eine Ausstellung der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (ÖGFA) zu Ehren des Architekten eröffnet kommende Woche am Franz-Josefs-Kai 3 im Stadtzentrum, der Bauträger Sozialbau feiert seine Siedlung in Floridsdorf – mit einem raumkapselartigen Import aus Slowenien, der sich erstaunlich gut in Wien einfügt. Perfekt eingeparkt.

27. August 2022 Der Standard

Wie man Demokratie entwirft

Die Olympischen Spiele von München gelten als architektonischer Höhepunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ein Marathon durch drei süddeutsche Ausstellungen, die an ihre Planer und Designer erinnern.

Im Restaurant Nord verspeisen Gruppen von Menschen ihr Schnitzel auf knallgelben Tischen, während sich Röhren aus orangenem und durchsichtigem Kunststoff über ihren Köpfen winden wie fliegende Würmer. Andere legen eine Pause ein im Restaurant in der Schwimmhalle, die aussieht wie eine halbfertige Mondstation in Popfarben, die sich in einer Strumpfhose verheddert hat.

Beides entworfen von den österreichischen Architekten Günther Domenig und Eilfried Huth, die sich richtig austoben durften, damals in München 1972. Draußen zieht sich die von Anita und Werner Ruhnau konzipierte Spielstraße durch die Wiese, die avantgardistisches Mitmach-Straßentheater bietet. Der revolutionäre Geist von 1968 weht an diesen Sommertagen durch die bayerische Hauptstadt.

36 Jahre nach den von den Nazis als Propaganda inszenierten Spielen von Berlin und 27 Jahre nach Kriegsende bekam die Bundesrepublik in München die Chance, zu beweisen, dass sie Demokratie gelernt hatte. Das funktionierte ziemlich gut. So gut, dass sich heute, 50 Jahre später, die Disziplinen Architektur und Design an eine Zeit des Optimismus erinnern. Gleich drei Ausstellungen tun dies im Synchronschritt.

Wiesengründe Topografie

Den Startschuss lassen wir in München ertönen, wo das Architekturmuseum an der Pinakothek der Moderne an die Olympiastadt München und seine Bauten erinnert. Als das Team um Günter Behnisch 1967 mit seinem Zeltdachmodell den Wettbewerb für das Olympia-Gelände gewann, entlockte das sogar dem knurrigen Franz Josef Strauß würdigende Äußerungen zur Architektur.

Die Idee überzeugt heute noch: Statt rationalen rechten Winkels eine „Architektur, die mit der Landschaft geht“, wie es Behnisch-Mitarbeiter Carlo Weber nannte. Ein bewusstes Gegenmodell zum streng axialen Olympia-Areal in Berlin. Aus einem Trümmerberg am Oberwiesenfeld wurde die wiesengrüne Topografie eines neuen, quasi geschichtslosen Deutschlands gezaubert.

Eingefügt darin: Die zipfelige Landschaft des Zeltdachs, inspiriert vom deutschen Pavillon der Expo Montreal 1967. Die Aufgabe in München erwies sich jedoch als komplex, und die Wettbewerbsjury bezweifelte, dass sich dieses Experiment realisieren ließ. Aber schon im revolutionären Mai 1968 hatte der Ingenieur Frei Otto die konstruktive Lösung gefunden. Aus Sicht des schwerfälligen Deutschlands von heute mit seiner heruntergewirtschafteten Infrastruktur ging der Formfindungs- und Bauprozess geradezu in Sprintgeschwindigkeit von dannen.

Die Ausstellung nimmt Olympia und München stets gemeinsam ins Blickfeld, denn der Sportevent wurde zum Infrastrukturbooster, mit Stadtautobahnen, U-Bahn-Bau und Großwohnsiedlungen. Das Olympia-Areal wurde zum Experimentierfeld der Architektur, mit Space-Age-Modulbauten und mit neuen Wohnkonzepten im olympischen Dorf. Dieses wurde am schwarzen 5. September zu einem weltweiten Bild des Grauens, mit dem körnigen Foto des maskierten palästinensischen Geiselnehmers auf dem Balkon.

Nächste Station des Olympia-Marathons: Das HfG-Archiv auf dem Kuhberg in Ulm. Die Hochschule für Gestaltung ist ein weiteres Beispiel deutscher Demokratisierung. Eröffnet 1953 vom Schweizer Architekten Max Bill, Inge Aicher-Scholl, der Schwester von Hans und Sophie, und ihrem Mann, dem Designer Otl Aicher (1922–1991). Jener wird derzeit zum 100. Geburtstag mit der Ausstellung 100 Plakate geehrt, und er war es auch, dessen Gestaltungskonzept das Bild der „heiteren Spiele“ von 1972 prägte. National konnotierte Farben wie Rot und Gold wurden explizit vermieden, stattdessen prägten Blau, Silber, Grün und Orange das Corporate Design, das sich bis in die Details wie Parkscheine und Polizeiuniformen erstreckte.

Auch Aichers Olympia-Plakate zeigten keine grimmigen Lorbeerkranz-Siegerposen wie 1936, sondern Menschen in Bewegung. Sportliche Wettbewerb nicht als Triumph, sondern als gemeinsames Erlebnis. Bis heute prägend für die gesamte Designwelt: Aichers ikonische Piktogramme, für die er die Bildtafeln weiterentwickelte, die Masaru Katzumi für Tokio 1964 entworfen hatte.

Akrobatisches Mikado

Dritte Station auf der Ausstellungslangstrecke: Stuttgart. Im selben Jahr geboren wie Aicher und somit ebenso ausstellungswürdig ist Günter Behnisch, dem eine große und ausgezeichnet aufgearbeitete Retrospektive gewidmet ist. Das olympische München war für den dezidierten Teamplayer die Initialzündung für ein reichhaltiges Werk, das eine direkte Abkürzung von den experimentierfreudigen 1960er-Jahren in die High-Tech-80er nahm und den schwerfälligen Bauwirtschaftsfunktionalismus der 1970er-Jahre links liegen ließ. Dabei war seine Idee von Technik stets spielerisch und kulturbewusst, wie sein Hysolar-Institut in Stuttgart (1987), ein akrobatisch ausbalancierter Mikado-Haufen, zeigt. „Die Möglichkeiten für formale Ordnungen sind tendenziell unbegrenzt“, schrieb er 1996. „Fortwährend können wir Neues entdecken.“

Popbuntes Deutschland

Zentral für Behnischs Architektur- und Demokratieverständnis, dem jeglicher Pomp fremd war, stehen zwei Bauten aus den 1990er-Jahren. Der Plenarsaal für den Bonner Bundestag, an dem er fast 20 Jahre lang plante, wurde 1992 fertig, kurz nachdem der Beschluss zum Umzug nach Berlin gefasst wurde. Als die Abgeordneten das nach allen Seiten gläsern offene Haus schon 1999 wieder verließen, war das auch das Ende einer süddeutsch-liberal geprägten Architekturära.

Seit dem einst futuristisch imaginierten Jahr 2000 dominieren die steinern-preußische Humorlosigkeit und die Verklärung des 19. Jahrhunderts, verkörpert durch den Senatsbaudirektor Hans Stimmann, der Berlin eine Lochfassaden-Einheit verordnete. Nur Behnischs Akademie der Künste neben dem Brandenburger Tor widersetzte sich gläsern diesem Diktat, was für heftige Feuilletondebatten sorgte. Heute hat Berlin eine neofeudale Schlossattrappe, und die Demokratie ist weltweit auch dort, wo man sie am sichersten glaubte, im Rückzugsgefecht. So mischt sich in die Erinnerung an Behnisch, Aicher und die Bilder eines popbunten Deutschlands von den Hügeln am Oberwiesenfeld 1972 auch ein wehmütiges Was-wäre-wenn.

Die Olympiastadt München
Architekturmuseum München, bis 8. Jänner 2023

Otl Aicher: 100 Plakate
HfG Archiv Ulm, bis 8. Jänner 2023

Bauen für eine offene Gesellschaft – Günter Behnisch 100
Theaterpassage Stuttgart, bis 3. Oktober 2022

16. Juli 2022 Der Standard

Kalte Dusche für heiße Bauwut

Eine Diskussion über den freien Zugang zu den Seeufern in Kärnten wurde zum Startpunkt für eine Entwicklung, die das Bundesland zum Baukultur-Musterschüler machte. Eine besondere Rolle spielen dabei die Gestaltungsbeiräte.

Der Neusiedler See hat in diesen Tagen eine gute und eine schlechte Nachricht für uns. Die gute zuerst: Das umstrittene 100-Millionen-Euro-Hotelprojekt in Fertőrákos mit 800 geplanten Parkplätzen wurde jetzt begraben. Die schlechte: Der Wasserstand ist durch die klimakatastrophale Hitzewelle auf Niedrigniveau. Was haben diese beiden Nachrichten außer dem Ort gemeinsam? Einiges.

„Am Neusiedler See gab es immer einen schwankenden Wasserstand“, sagt Nikolaus Gartner, stellvertretender Obmann des Architekturhauses Architektur Raumburgenland. „Das Problem ist aber, dass sich der Tourismus, je mehr am Ufer gebaut wird, immer mehr in Abhängigkeit vom Wasserhaushalt des Sees begibt. Dann drohen weitere Eingriffe in die Naturlandschaft, deren Auswirkungen wir nicht abschätzen können. Das Ziel sollte eher sein, den Tourismus in die Orte zu verlagern, wo er auch zur Stärkung der historischen Ortskerne beitragen kann.“

Erweitert man das Spannungsfeld Seeufer und Tourismus um die Baukultur, versteht man, warum die Architektenkammer kürzlich zum zweiteiligen Treffen „Bauwut versus Baukultur: Seenlandschaft“ am Neusiedler See und am Attersee bat. Klimakrise, Pandemie und Krieg haben die Österreicher ins Auszeit-Cocooning mit Heimatfilmkulisse getrieben. Urlaubend, zweitwohnsitzend und investierend. Die Worte „exklusiver Seezugang“ sind der Diamantbesatz auf dem Developer-Betongold. Das setzt auch die Seegemeinden unter Druck.

Wie man sich dessen erwehren kann? Beispiele dafür liefert Kärnten, das sich in den letzten Jahren zum baukulturellen Musterschüler unter den Bundesländern entwickelt hat. Dort fanden 2018 und 2019 fünf Seenkonferenzen statt, die von Raffaela Lackner, Leiterin am Architektur Haus Kärnten und Elias Molitschnig, grüner Gemeinderat in Klagenfurt und für die Raumordnung und kommunales Bauen bei der Kärntner Landesregierung zuständig, konzipiert wurden.

Vorbild Velden

Handlungsbedarf war geboten, denn Kärnten hat zwar viele schöne Seen, aber auch die wenigsten öffentlichen Zugänge dazu. 76 % des Ossiacher-See-Ufers und 82 % des Wörtherseeufers sind in privater Hand. Wer hier ans Wasser will, muss sich durch enge Lücken quetschen. „Am Anfang stand die Frage, was man überhaupt noch ausrichten kann“, erinnert sich Elias Molitschnig. „Aber die Bevölkerung hat viele Impulse und Wünsche geliefert: Gestaltung, Förderung, klare Regeln.“ Auch die Gemeinde Velden, die früh mit radikalen Baustopps und Rückwidmungen auf die Bremse trat, erwies sich als Vorbild. Am Ende des mit breiter Beteiligung angelegten Konferenzreigens stand ein Handbuch mit klar formulierten Empfehlungen wie etwa der wiedereinzuführenden Zweckwidmung der Motorbootabgabe für den Ankauf von Uferflächen.

Die Renaissance des Gemeinsinns, die an den Seen begann, hat sich inzwischen aufs ganze Bundesland ausgeweitet. Denn auch hier war viel zu tun, wie Elias Molitschnig sagt: „Der Seeuferbereich ist der sensibelste, aber wir gehen auch sonst zerstörerisch mit Landschaftsräumen um.“ So wurde Kärnten das erste und bisher einzige Bundesland, das die ambitionierten baukulturellen Leitlinien des Bundes von 2017 in erweiterter Form auf Landesebene beschlossen hat. Heute ist man dabei, sie umzusetzen, und hat der Zersiedelung an Kreisverkehr und Umfahrungsstraße den Kampf angesagt.

Distanz und Transparenz

„Wichtig ist neben der gezielten Förderung die Unterstützung der Zuständigen in den Gemeinden“, so Molitschnig. „Viele Bürgermeister wissen gar nicht, welche Instrumente sie eigentlich in der Hand haben, und geben den Investoren nach, aus Angst, Rechtsbruch zu begehen. Dabei hat die Gemeinde immer die Planungskompetenz. Wir haben an der Verwaltungsakademie einen Lehrgang und drei Crashkurse eingerichtet, und das Interesse war enorm. Auf Landes- und Gemeindeebene merken wir, dass die Baukultur kein Randthema mehr ist.“

Als baukulturelle Motoren haben sich hier die Gestaltungsbeiräte bewährt, die erstmals 1993 in Salzburg eingeführt wurden: Fachleute, die Bauvorhaben beurteilen und Bürgermeistern und Öffentlichkeit klare Pro- oder Kontra-Argumente liefern. Wichtig dabei: Die beteiligten Architekten sollten keine Eigeninteressen am Ort haben, und es sollte Transparenz herrschen – wie in Salzburg, wo die Sitzungen öffentlich sind. In Vorarlberg hat fast jede Gemeinde einen Beirat, im Burgenland fast keine. Wien hat einen Fachbeirat, dessen Mitglieder eifrig bauen und dessen Entscheidungen nicht öffentlich sind.

Dabei ist die persönliche Distanz der Mitglieder zur Gemeinde elementar, betont Architekt Ernst Beneder, der seit 1994 in verschiedenen Gemeinden beratend tätig ist. „So garantiert man die wirtschaftliche Unbefangenheit, kann aber auch eine strategische Naivität einsetzen, die mit Blick von außen scheinbar Selbstverständliches hinterfragt. Aus diesem Grund braucht es auch einen regelmäßigen Wechsel der Mitglieder.“ Was heute immer wichtiger werde, so Beneder, ist, das gesamte Umfeld eines Projekts ins Auge zu fassen. Dadurch ließen sich sowohl Gefahren als auch Chancen von Bauvorhaben besser beurteilen.

Dabei müssen die Architekten keineswegs als Lehrmeister auftreten, vielmehr werden die Gemeinderäte durch die dauerhafte Beschäftigung mit dem Thema selbst zu Experten. Die Kärntner Orte, die die einen Gestaltungsbeirat haben, sagt Elias Molitschnig, würden die Uhr nie wieder zurückdrehen wollen. „Denn die Bürgermeister sagen heute nicht mehr „Jo, werma scho schauen“, wenn ein Investor kommt, sondern: Dies und jenes sind unsere Kriterien.“

Inklusiv statt exklusiv

Zusätzlicher Booster fürs Selbstbewusstsein ist die Vernetzung der Beteiligten untereinander – so waren neben Architekten auch Bürgermeisterinnen beim Doppelmeeting an Neusiedler und Attersee zugegen. Ein guter Impuls zum Weiterarbeiten, resümiert Daniel Fügenschuh, Sektionsvorsitzender der Architekten in der Bundeskammer. „Ein Gestaltungsbeirat setzt sich für die Anliegen der Bevölkerung und der politischen Verantwortlichen ein. Es geht darum, das öffentliche Interesse zu wahren, die Qualität zu steigern, auch über den konkreten Bauplatz hinaus. Auch die Projektwerber profitieren davon. Private Investoren lassen sich zwar ungern etwas sagen, aber sie verstehen alle, dass die Projekte durch den Beirat besser werden. Es kann sich auch ergeben, dass ein anderer Bauplatz besser geeignet wäre.“ Eine Chance, um die erhitzte Bauwut abzukühlen – mit Seeufern, die nicht exklusiv sind, sondern inklusiv.

4. Juli 2022 Der Standard

Die Welt als Baustelle

Der Lehrgang BASEhabitat bringt Studierende der Kunstuniversität Linz mit Akteuren vor Ort in Bangladesch, Thailand oder Südafrika zusammen. Ein interkontinentaler Import und Export von Wissen über Techniken und Material. Eine Ausstellung schaut zurück und voraus.

Meterstab, Schraubenzieher, Zange, Sonnenmilch, Heftpflaster, Medikamente. Ein oranger Hartschalenkoffer, der offensichtlich schon viel erlebt hat. Pass, Impfpass, T-Shirts, Zahnbürste, Flachmann. Alles, was man für eine Fernreise braucht, und nicht mehr.

So beginnt die Ausstellung des Vorarlberger Architekturinstituts vai, die derzeit an der Kunstuniversität Linz zu sehen ist und die sich dem 2004 von Architekt Roland Gnaiger gegründeten Projekt BASEhabitat widmet. Hier schließt sich ein Kreis zwischen West- und Ostösterreich, denn der Vorarlberger Gnaiger hatte den gleichnamigen Lehrgang während seiner Professur in Linz initiiert. Ziel dieses Lehrgangs war und ist es, Studierende vor Ort mit der Bevölkerung planen und auch tatsächlich bauen zu lassen. Vor Ort, das heißt: Indien, Thailand, Südafrika, Ecuador.

Kontinent in der Schublade

24 Projekte sind schon als bunte Punkte auf der Weltkarte verzeichnet, acht davon werden in der Ausstellung vorgestellt. Acht hölzerne Werkzeugkisten, in deren Schubladen sich ein Kontinent eröffnet. Ein Wohnprojekt im Lepradorf Sunderpur an der indisch-nepalesischen Grenze aus Lehmziegeln, gebrannten Ziegeln und Bambus, das sich leicht mit lokalen Baustoffen nachbauen lässt. Eine Grundschule auf dem Ithuba-Campus südlich von Johannesburg. Feldforschung über Bambusbauten in Ecuador.

„Es geht darum, junge Leute in Berührung zu bringen mit den Dingen, die sie planen“, erklärt Sigi Atteneder, dessen weitgereistes T-Shirt die Ausstellung ziert und der, vor 15 Jahren selbst BASEhabitat-Student, heute als Nachfolger des 2019 emeritierten Roland Gnaiger das BASEhabitat-Studio professoral leitet. „Es geht nicht um Entwicklungshilfe und erst recht nicht um Stararchitektur, sondern darum, zu lernen, dass es auch andere Bauwelten gibt.“

Mehr als ein Projekt wurde dabei von den Studierenden selbst initiiert, andere kamen durch Kontakte mit NGOs zustande. Allen gemeinsam ist, dass sich die Arbeit im Laufe der Zeit professionalisiert hat und man nicht mehr versucht, alles selbst zu machen. Neben einer Summer-School gibt es inzwischen auch ein Master- und Postgraduate-Studium, weil viele explizit „BASEhabitat studieren“ wollten.

Denn einer der vier Grundsätze von BASEhabitat ist Teilhabe und Kooperation vor Ort – denn entschieden wird auf der Baustelle. „Die soziale Komponente ist sehr wichtig, dazu gehören auch Genderfragen. Es macht einen großen Unterschied, wenn Frauen auf der Baustelle sind und das Geld nach Hause bringen.“ Dies war die Erkenntnis, die die bayerische Architektin Anna Heringer – langjährige Dozentin bei BASEhabitat und so etwas wie das Gesicht des Social Turn in der Architektur – bei ihrer Pionierarbeit in Bangladesch erlebte.

Kluge Kühe, dumme Büffel

Genderaspekte der Tierwelt gehörten ebenfalls dazu: Denn zum Stampfen von Lehm sind Kühe nicht geeignet, weil sie intelligent sind und in ihre eigene Hufstapfen treten. Nur männliche Wasserbüffel sind stupide genug, mühsam quer durch den Gatsch zu treten.

Der Erfolg von BASEhabitat ist auch Zeichen eines Denkwandels in der Architektur. Jahrzehntelang galt das Bauen auf der Südhalbkugel im Studium als anthropologisches Nischeninteresse liebenswerter, aber versponnener Exoten, während sich die „richtigen“ Architekten am heiligen Kanon der westlichen Welt von Corbusier bis Mies abarbeiteten.

Heute wird das Bauen mit Lehm und Bambus nicht mehr belächelt. Lehm hat auch in Mitteleuropa eine lange Tradition und wurde insbesondere vom Vorarlberger Pionier Martin Rauch wiederentdeckt. Zum anderen wird heute, wo das globale Materialkarussell ins Stocken gerät und sich die Preisspiralen immer wilder drehen, vielen klar, dass man ein Haus auch anders bauen kann als mit tausenden Komponenten, die aus 78 Ländern herbeigeschafft werden. Traditionelle Bauweisen und -materialien dagegen sind perfekt auf Mikroklima, kurze Transportwege und leichte Reparierbarkeit hin optimiert. Und trotz vieler Vorurteile – auch in den BASEhabitat-Ländern – müssen sie auch nicht ärmlich aussehen.

„Der Lehmbau hat sich inzwischen in Europa professionalisiert, beispielsweise mit Vorfertigungssystemen“, erklärt der vai-Ausstellungskurator und ehemalige BASEhabitat-Studiomanager Clemens Quirin. „Der Vorteil ist, dass der Baustoff auch bei steigenden Gas- und Strompreisen nicht teurer wird, weil sehr wenig Energie für seine Herstellung aufgewendet werden muss. Und aus der Erde einer Baugrube kann man gut zehn Häuser bauen!“ Kein Wunder, dass sich schon mehrere Interessenten außerhalb des Hochschulbetriebs bei BASEhabitat gemeldet haben, um das angesammelte Wissen zu nutzen – bis hin zum Häuslbauer.

Überhaupt ist die Erkenntnis aus 18 Jahren BASEhabitat, dass Wissenstransfer keine Einbahnstraße ist. Die Studierenden kommen mit handfestem Wissen und Selbstvertrauen zurück, und auch in Österreich wurden Projekte realisiert, wie der schmucke Holzpavillon im Botanischen Garten Linz und der Umbau eines 200 Jahre alten Hauses in Vorarlberg. Mehrere Generationen von Studierenden, die durch die Schule BASEhabitat gegangen sind, haben ihr Berufsleben gestartet, manche sind Lehmbauspezialisten, andere gründeten klassische Architekturbüros wie Sandra Gnigler und Gunar Wilhelm vom Linzer Büro mia2, die die oberösterreichische Kultur des Machens verfeinern und ins Städtische transferieren.

Lernen von woanders

So schaut die Ausstellung gleichzeitig stolz zurück auf angesammeltes Wissen und blickt nach vorn, in eine Ära global zugespitzter Krisen, in denen die Fähigkeit zur Improvisation ebenso an Wichtigkeit gewinnt wie das Wissen um regionale und klimaschonende Bautechniken. „Wir sehen es auch nicht als Aufgabe der Universität, den heutigen Markt zu bedienen, sondern in die Zukunft zu denken und Nachhaltigkeit umzusetzen“, so die Kunstuni-Rektorin Brigitte Hütter. Die Werkzeugkiste ist gepackt. Ein Survival-Kit für die gebaute Umwelt.

[ BASEhabitat – Architecture for Change, Kunstuniversität, Hauptplatz, Linz, bis 22. 7., www.basehabitat.org ]

29. Mai 2022 Der Standard

Kulturzentrum Mattersburg: Dialog mit Untertönen

Nach der Auseinandersetzung über den Umgang mit dem Erbe des Brutalismus wurde das Kulturzentrum Mattersburg eröffnet. Eine Mischung von Mit-, Neben- und Gegeneinander

Am Tag nach der Eröffnung habe niemand angerufen, sagt Sandra Ferstl. Das sei ein gutes Zeichen, denn die Leute riefen nur an, wenn sie sich beschweren wollten. Sandra Ferstl ist Leiterin der Veranstaltungsorganisation des Kulturzentrums (KUZ) Mattersburg, das am vorigen Sonntag wiedereröffnet wurde, auf den Tag genau 46 Jahre nach seiner ersten Eröffnung. Ein sehr schönes Haus sei das, freut sich auch Bürgermeisterin Claudia Schlager (SPÖ), die gerade das große Foyer durchquert. „Die Verbindung von Alt und Neu ist sehr gelungen!“

Fels und Quader

Auch am 22. Mai 1976 war hier Feiern und Freude angesagt. Das Kulturzentrum war schließlich der erste Teil der großen Burgenland bildungsoffensive von Unterrichtsminister Fred Sinowatz und Landesrat Gerald Mader. Die Kulturzentren sollten niederschwelligen Zugang zu Hoch- und Volkskultur bieten und der „freien Meinungs äußerung“ dienen. Jetzt stehen Sinowatz und Mader (mit dicker Seventies-Brille) als bronzefarbene Büsten im Gras vor der Waschbetonfassade des neuen Saals. Marlies Breuss und Michael Ogertschnig vom Wiener Büro Holodeck Architects stehen daneben. Die Fassade aus dezent unterschiedlich eingefärbten Betonplatten, sagen sie, ist eine Hommage an den Altbau, den Architekt Herwig Udo Graf 1976 im Stil des Brutalismus entworfen hatte: ein Ensemble aus expressiv geformtem Sichtbeton.

Jetzt stehen sich der alte und der neue Veranstaltungssaal gegenüber, verbunden durch ein neues Foyer mit einer etwas an die 1990er Jahre erinnernden Glasfront. Wo Grafs bildhauerischer Beton wirkt wie ein massiver Fels, ist der neue Saal ein schlichter Quader, hineingerückt in den Hang. „Wir wollten den alten Saal für sich stehenlassen und ihm ein ruhiges Pendant zur Seite stellen, mit einem transparenten Gelenk dazwischen“, erklärt Marlies Breuss.

Drei Teile, das klingt einfach, doch das darin unterzubringende Programm war komplex. Der bisherige Mix aus Veranstaltungssaal, Ausstellungsbereich, Literaturhaus und Volkshochschule wurde ergänzt um einen Teil des Landesarchivs und alle 140.000 Bände der Landesbibliothek. Dafür organisierten Holodeck die Gesamtanlage neu: Das Eingangsniveau wurde abgesenkt, um barrierefrei zu werden, Eingang und Vorplatz deutlich zur benachbarten Schule hin orientiert, um einen gemeinsamen Platz zu schaffen. Der Verbindungstrakt zur Schule wurde abgebrochen. Zugunsten einer neuen Verbindung zum Bahnhof, aber auch als architektonische Distanzierung. „Die Schule wurde 2003 saniert mit Wärmedämmung und weißem Putz. Ein Umgang mit der Substanz, der heute nicht mehr zeitgemäß ist – hier wurde der Brutalismus zerstört“, sagt Ogertschnig.

Über den Umgang mit der Substanz und dem Brutalismus wurde in Mattersburg lange debattiert; die Geschichte des Kulturzentrums war eine konfliktreiche. Ein Rückblick im Schnelldurchlauf: Bis auf den Einbau einer „Artbox“ 1998 war der Bau weitgehend im Originalzustand erhalten, bis er im September 2014 plötzlich vom Land Burgenland geschlossen wurde, es bestehe Gefahr im Verzug. In Reaktion darauf formierte sich die Plattform „Rettet das Kulturzentrum Mattersburg“, deren Petition für den Erhalt schnell 2000 Unterzeichner und ein breites mediales Echo fand.
Konfliktreiche Geschichte

Nach einem gemeinsamen Workshop kam vom Land Burgenland die Zusage, das KUZ „in seinen wesentlichen architektonischen Merkmalen“ zu erhalten, man benötige aber unbedingt einen Saal für 600 Personen. Das waren genau rund 51 Sitze mehr als vorhanden (der jetzt eröffnete Saal hat, nebenbei bemerkt, 410 Plätze). Im Juni wurde ein Architekturwettbewerb ausgelobt, im Mai 2016 Holodeck als Gewinner gekürt, doch die Wettbewerbsbeiträge nicht öffentlich präsentiert, man wollte die Diskussion nicht weiter anfachen, so der damalige Kulturlandesrat Helmut Bieler (SPÖ).

Doch genau das passierte, denn ein Bescheid des Bundesdenkmalamts (BDA) verkündete im November 2016 mithilfe einer dürren Filzstiftskizze die Teilunterschutzstellung der „Außenerscheinung des Nordtraktes“. Ein nicht ganz nachvollziehbarer Kompromiss, der eine Welle von Kritik in der Architekturwelt hervorrief. Es war eine kleine Skizze mit großen Folgen, denn sie bestimmte maßgeblich, was ab 2019 schließlich gebaut wurde.

Für den Umgang mit der Ära der Spätmoderne, deren Bauten jetzt ins Sanierungsalter kommen, gibt es hierzulande noch wenige Präzedenzfälle, in jüngster Zeit haben Ernst Beneder mit seiner behutsamen Sanierung des Rathauses Prinzersdorf von 1973 und Riccione Architekten mit der Erweiterung der Pädagogischen Hochschule Salzburg aus den 1960er-Jahren Highlights gesetzt. Auch die Mattersburger Lösung eines Gegenübers von Alt- und Neubeton mit einem Verbindungselement dazwischen klingt wertschätzend, und in der Tat darf der sorgfältig sanierte Sichtbeton des Saals von 1976 jetzt fast so rein wie damals strahlen.

Verräumte Räume

Und doch mischen sich im Detail immer wieder Untertöne in diesen Dialog. Der Bestand wurde genau so weit erhalten, wie vom BDA vorgeschrieben, aber keinen Zentimeter weiter. Die Freiluftarena, früher beliebter Treffpunkt im Freien, ist jetzt nur über den kleinen Lesesaal erreichbar, um dem neuen Vorplatz keine Konkurrenz zu machen. Dabei wäre eine Kombination von beiden über das Foyer hinweg durchaus reizvoll gewesen. Eine denkmalgeschützte Tür bekam im Inneren eine Stahlstiege quer vors Glas gestellt und wird unbenutzbar. Die Büroräume hinter der sanierten Fassade wurden niedriger, weil die neue Gastronomie darunter mehr Höhe brauchte. Sprich: Wenn hier im Dialog jemand nachgeben muss, ist es immer der Altbau.

Besonders deutlich im Inneren: Die Kontur des alten Saals, nach außen noch voll präsent, ist im Inneren nicht mehr wahrnehmbar, sondern angefüllt mit sich überlagernden Räumen, Wegen, Materialien, Oberflächen, verräumt in die Kubatur, die man zur Verfügung hatte. Fast hat man den Eindruck, dass sich die Architekten eigentlich lieber frei auf einer Tabula rasa entfaltet hätten, als sich an eine Filzstiftskizze zu halten und mit einem Felsbrocken von brutalistischer Kraft auseinanderzusetzen.

Herwig Udo Graf, der zur Eröffnung nicht eingeladen war, sagte schon 2016, man könne seinen Bau jetzt auch gleich ganz abreißen. Das allerdings wäre ein großer Verlust gewesen. Denn ein konfliktreicher Dialog ist immer noch besser als eine Tabula rasa. Im günstigsten Fall entsteht durch diese Reibungsflächen tatsächlich: Kultur.

30. April 2022 Der Standard

Selbst werden

Kämpferisch und stolz, euphorisch und vergänglich, privat und öffentlich, sichtbar und unsichtbar. Queer Spaces haben viele Gesichter und Definitionen. Ein undogmatisches Buch stellt sie jetzt in aller Breite vor.

Paul Goldberger, der langjährige Architekturkritiker der New York Times, ist alles andere als eine wilde Disco-Maus. Doch Arata Isozakis neuer Palladium Club in der East 14th Street bewegte ihn im Jahr 1985 zu einer jubelnden Eloge. Dies, schrieb er gönnerhaft, sei tatsächlich eine Diskothek, die architektonisch ernst zu nehmen sei, anders als das legendäre Studio 54, dessen Impresarios mit dem Palladium als Nachfolger die Clubkultur in die 1980er-Jahre katapultieren wollten.

Isozakis Raum war kein verschwitzter Keller, sondern eine luftige Kathedrale. Riesige Dimensionen, scharfe Kanten, und, damals Gipfel des Hightech, Dutzende Videobildschirme. Als gigantisches Altarbild über den Tanzenden ein Wandgemälde von Keith Haring.

Es war ein Neuanfang und ein Ende der queeren New Yorker Disco-Kultur, eröffnet in dem Jahr, als Aids vom Gerücht zur tödlichen Gewissheit wurde. Fünf Jahre später war Keith Haring tot, und die Pet Shop Boys besangen in Being Boring, dem wohl empathischsten und bewegendsten unter ihren Songs, „all the people I’ve been kissing, some are here and some are missing“.

Die Euphorie des Moments und die Melancholie der Vergänglichkeit sind ein Kontinuum der queeren Erfahrung, und sie ziehen sich als doppelter Leitfaden durch ein diese Woche erscheinendes Buch, das sich jenen Räumen widmet, in denen diese Erfahrungen stattfinden. Auch und gerade jenen, die nicht durch die Hand eines Stararchitekten veredelt wurden. Queer Spaces: An Atlas of LGBTQIA+ Places and Stories erscheint beim ehrwürdigen Royal Institute of British Architects (Riba), und die Herausgeber Adam Nathaniel Furman und Joshua Mardell öffnen darin mehr als nur eine Tür.

Alltäglich besonders

Es sind alltägliche und besondere Räume darunter, öffentliche und private. Manche sind statisch, manche sind in Bewegung wie der katalanische Nahverkehrszug, in dem Autorin Ailo Ribas auf dem Weg vom Familienbesuch als Sohn zurück nach Barcelona ihre Brüste anlegt und wieder sie selbst wird. Queer Space, schreibt sie, sei jeder Ort, an dem man das richtige Verhältnis zur Veränderung leben könne. Unter den Wohnhäusern sind solche, in denen die Architektur sich von allen Konventionen löst wie in jenem eines japanischen schwulen Paares, das sich von Osamu Ishiyama das Haus als fensterlosen Ein-Raum-Hangar entwerfen ließ, ebenso wie solche, die durch das Bewohnen zu etwas Besonderem wurden, wie das Haus im walisischen Plas Newydd, in dem Eleanor Butler und Sarah Ponsonby zwischen 1779 und 1829 gemeinsam lebten.

Wir sehen Badehäuser in Mexiko-Stadt, den seit 1966 bestehenden New Sazae Club in Tokio, ein Buchklub für Introvertierte in Bangkok, eine Dachterrasse in Dhaka, wo die in Bangladesch traditionell anerkannten genderfluiden Hijra eine selbstkonstituierte Familie bilden, ebenso das Hotel Gondolín, das seit den 1990er-Jahren den „travestis“ von Buenos Aires eine Heimat bietet.

Queer Spaces ist ein undogmatisches Kompendium, das auf akademischen Jargon und fußnotensatte Erklär-Essays verzichtet. Durchaus bewusst, sagt Adam Nathanial Furman: „Viele Architekten gehen auf eine Art Safari und nehmen dann das, was sie beobachtet und analysiert haben, in Besitz. Robert Venturi und Denise Scott Brown taten es in den 1960er-Jahren mit Las Vegas, und auch das queere Design wurde oft vereinnahmt. Unser Buch ist das Gegenteil davon. Wir wollen kein Label auf alles kleben.“

Ebenso wenig sollte das Buch eine kuriose Anekdotensammlung werden, denn das würde die Seriosität den Protagonistinnen und Protagonisten gegenüber vermissen lassen. Das Persönliche ist bekanntlich das Politische, und hier ist es auch Architektur. „Als Architekturstudent fand ich es geradezu erniedrigend, dass es keine Referenzen gab, mit denen ich erklären konnte, was ich wollte“, erinnert sich Furman. „Ich wollte das Buch machen, das mir damals geholfen hätte und hoffentlich jungen Menschen heute ein bauhistorisches Startpaket bieten kann.“ Mitherausgeber Joshua Mardell wiederum brachte die methodische Klarheit des Historikers und einen nordenglischen Working-Class-Hintergrund ins Spiel, der wichtige Erkenntnisse liefert. Denn auch Reihenhäuser und Pubs in Sheffield reihen sich unter die queeren Räume – nordenglische Stahlarbeiter waren keineswegs rein heterosexuell. Blickt man durch diesen Filter, ergibt ihre Buchnachbarschaft zu den überbordenden Traumschlössern des bayerischen Märchenkönigs Ludwig II. durchaus Sinn.

Mit ihrem Forschen über Queer Spaces außerhalb der Hochschulen sind Furman und Mardell nicht allein. Auch die österreichischen Architekten Christian Haid und Lukas Staudinger, die in Berlin das Büro für Stadtvermittlung Poligonal betreiben, erforschen das Thema seit längerem. Ihr Online-Archiv Queering Common Spaces versammelt ohne Hierarchie individuelle Geschichten aus Berlin und Tbilisi. „Die Idee war, mit einem Archiv für queere Praktiken im Stadtraum eine Sichtbarkeit herzustellen“, sagt Lukas Staudinger. „Wir würden uns nicht anmaßen, diese Geschichten aus zweiter Hand nachzuerzählen.“

O-Ton im Stadtraum

Dies gilt auch für ihr Projekt „Nothing that ever was changes. Disappearing queer spaces in Berlin“, für das Haid und Staudinger Interviews mit LGBT-Protagonistinnen der 1970er- und 1980er-Jahre wie Rosemarie Bijan, Besitzerin und Wirtin des Frauenladens Lipstick, führten, und dessen O-Töne via App und QR-Code abrufbar sind und sich mit dem Stadtraum überschneiden.

Dass dem Begriff „queer“, der sich nicht auf spezifische sexuelle Orientierungen bezieht, eine Beweglichkeit zu eigen ist, macht ihn in Zeiten umkämpfter Definitionsgrenzen ideal, um Räume zu öffnen. „Es lebt von den Praktiken, davon, dass Menschen in diesen Räumen etwas tun. Insofern kann an sich jeder Raum gequeert werden“, sagt Christian Haid, und das hat laut Staudinger auch Konsequenzen für die Architektur: „Es ist wichtiger, Netzwerke zu stärken und zu fördern als ein queeres Haus zu bauen – was auch immer das sein mag. Die Räume finden sich schon, wenn das Netzwerk stark genug ist.“

Vielleicht ist es das, was diese Räume so viele Geschichten erzählen lässt. Sie sind Orte des Handelns, des Feierns, des Werdens. Die Idee eines verborgenen Selbst, das sich unter den richtigen Bedingungen entfalten kann, wie es die britische Schriftstellerin Olivia Laing im Vorwort zu Queer Spaces perfekt zusammenfasst – mit einer Songzeile aus Being Boring: „I never dreamt that I would get to be the creature that I always meant to be.“

[ Adam Nathaniel Furman, Joshua Mardell, „Queer Spaces“. € 47,50 / 240 Seiten. Riba Publishing, 2022 ]

16. April 2022 Der Standard

Der Atem der Geschichte

Ievgeniia Gubkina hatte den Architekturführer für ihre Heimatstadt Charkiw druckreif fertig. Dann kam der russische Überfall. Ein Gespräch über Baugeschichte, Krieg und die Architektur als emotionales Material.

Sie hat Führungen organisiert, Bücher publiziert, dissertiert, mehrere NGOs mitgegründet. Ein Leben für die moderne Architektur der ukrainischen Sowjetmoderne und ihren Erhalt. Dann musste die Architekturhistorikerin Ievgeniia Gubkina vor dem Krieg flüchten. Vorige Woche hielt sie in Wien auf Einladung der Initiative Claiming*Spaces der TU Wien und der IG Architektur einen Vortrag. der STANDARD traf sie zum Gespräch.

Standard: Sie sind vor kurzem aus Ihrer Heimatstadt Charkiw nach Lettland geflüchtet. Wie waren die letzten Wochen für Sie?

Gubkina: Der ukrainische Politiker und Aktivist Juri Gudymenko, der gerade kämpft, sagte: „Der Atem der Geschichte weht jetzt in die Seiten der Bücher.“ Und er hat recht. Es ist ein tragisches Gefühl, wenn man sich im Atem der Geschichte wiederfindet. Ich sagte diesen Satz zu meinen Teenagernichten, mit denen ich flüchtete, und sie verstanden es sofort und sagten: Genau so fühlt es sich an. Wie ein reales Ding, das atmet und das unheimlich und viel zu groß ist.

Standard: Hat Sie der Einmarsch überrascht?

Gubkina: Ich bin dieses Mal nicht in Tränen ausgebrochen, weil ich das schon vor acht Jahren getan habe. Als am 1. März 2014 der russische Föderationsrat die Armee zum Einmarsch in andere Staaten berechtigte, war mir klar, dass das Krieg bedeutet. Meine regimekritischen russischen Freunde sagten damals: Ach was, das sind doch nur Worte! Doch sie vergaßen die Kriege in Tschetschenien, Georgien und Syrien. Und sie glaubten die Worte nicht.

Standard: Sie halten dieser Tage Vorträge in Wien, Prag, Brno und Warschau über die Architekturgeschichte der ukrainischen Moderne. In einem langen Instagram-Post reflektierten Sie vorab darüber, warum man über Architektur reden kann, während Menschen umgebracht werden.

Gubkina: Wir denken, dass Kultur in diesen Zeiten nicht wichtig ist. Auch mir selbst ging das zeitweise so. Wenn man die Nachrichten aus Butscha liest, denkt man: Jetzt ist mir Kultur komplett egal. Das ist ein normaler Selbstschutzmechanismus. Aber es ist eine Illusion, dass wir die Wahl haben zwischen Kultur und Überleben, diese Entscheidung gibt es ja in der Realität nicht. Natürlich, eine Vortragsreise hält das Morden nicht auf. Aber wir müssen die Lage reflektieren, wir müssen weiterdenken. Eines Tages wird der Krieg vorbei sein, und worüber reden wir dann? Denn wenn wir dann keine Erklärungen haben für das, was passiert ist, wird es noch schmerzhafter sein.

Standard: In der Berichterstattung über den Krieg spielt Architektur eine Hauptrolle. Wir sehen Vorortvillen in Butscha, Plattenbauten in Mariupol, historistische Fassaden in Kiew. Auf absurde Weise erfahren wir so sehr viel über den Charakter dieser Städte, während dieser Charakter zerstört wird.

Gubkina: Aber in unserem Blick auf die Architekturgeschichte vergessen wir oft, dass all diese Gebäude eng mit dem Fleisch und Blut der Menschen verbunden sind, die in ihnen wohnen. Ihre Zerstörung ist ein Nachweis, dass gemordet wird. Ich habe ein Video gesehen, auf dem Raketen in einen 1970er-Jahre-Wohnblock in Charkiw einschlagen, und das war für mich nicht nur ein Schlag gegen alles, für das ich mich engagiere, sondern auch wie ein Schlag gegen meinen eigenen Körper, ein physischer Schmerz.

Standard: Wie ist die Situation in Charkiw derzeit?

Gubkina: Es ist wie ein Stadtplanungsbüro, in dem der Chef sagt: Heute kümmern wir uns um Krankenhäuser. Aber nicht um das Bauen, sondern um das Zerstören. Es ist Stadtplanung im Rückwärtsgang, es ist Anti-Architektur. Und sie ist systematisch geplant.

Standard: Sie beschäftigen sich besonders mit dem Konstruktivismus der 1920er-Jahre wie dem Derschprom-Komplex in Charkiw. Welche Rolle spielt diese Zeit im Spannungsfeld zwischen russischer und ukrainischer Sowjetarchitektur?

Gubkina: Ich habe dort viele Führungen geleitet, und die Leute wurden immer sehr emotional. Sie haben geweint vor Ergriffenheit! Sie wollten imperiale Architektur sehen, weil sie sich dann als Teil von etwas Großem fühlen konnten. Dann erzählte ich ihnen von der Neuen Ökonomischen Politik der 1920er und der Industrie in der Ukraine. Aber das hat die Zuhörer nicht interessiert. Sie wollten Stalin, sie wollten das Grandiose, und jede zusätzliche Information macht das Grandiose kleiner. Aber kleine Geschichten sind wahrhaftiger, und wenn man genauer hinschaut, sind sie auch gar nicht so klein. Wie bei David und Goliath. Die Davids sind viel interessanter als die Goliaths!

Standard: Sie hatten Ihren Charkiw-Architekturführer gerade fertiggestellt, als der Krieg begann. Was passiert jetzt mit dem Buch?

Gubkin: Das Buch hat eine lange Geschichte. Geplant war es seit acht Jahren, aber zuerst schrieb ich andere Bücher, und mein Charkiw-Buch wartete im Hintergrund. Im Dezember 2021 beschloss ich, es endlich fertigzustellen. Dann kam der Krieg. Etwa die Hälfte der Gebäude im Buch ist heute zerstört oder beschädigt. Jetzt haben der Verlag und ich beschlossen, dass die Realität des Krieges unbedingt in dieses Buch hineinmuss. Die SMS-Nachrichten von Freunden aus den ersten Tagen des Krieges. Die Geschichten von Menschen, die in diesen Gebäuden starben. Ich nenne es „emotionales Material“, und das gehört auch in solche Bücher.

Standard: Manche Ihrer Freunde sind in Charkiw geblieben. Pavel Dorogoy, der für Ihr Buch die Gebäude fotografiert hat, und die Konservatorin Kateryna Kublytska dokumentieren jetzt die Zerstörung der historischen Bausubstanz.

Gubkin: Auf der Flucht nach Lettland hatte ich das Gefühl, meine Handlungsmacht zu verlieren. Ich war das passive Objekt der Hilfe anderer Leute. Mir wurde klar, dass das mit Würde zu tun hat. Würde heißt, eine Wahl zu haben. Meine Freunde haben die sehr schwere Wahl getroffen, Helden zu sein. Helden des Denkmalschutzes, Helden der Architektur in einer Zeit der atmenden Geschichte.

Standard: Was ist Ihre Rolle? Was kann man aus der Distanz, aus dem Exil für Charkiw tun?

Gubikin: Für den konkreten Schutz der Gebäude kann ich nichts tun. Das war schwer zu akzeptieren. Muss ich alle verschwundenen Bauten zählen? Ich weiß nicht. Muss ich sie dokumentieren? Vielleicht. Aber vor allem sollte ich versuchen, zu begreifen, was passiert. Mit mir, mit der Ukraine, mit der Gesellschaft, mit der Architektur. Ich bin nicht dort. Ich bin keine Heldin. Ich denke nur nach. Das ist vielleicht kein großartiger Job während eines Krieges, aber jemand muss es tun. Irgendwer muss nachdenken.

Ievgeniia Gubkina ist Architektin, Architekturhistorikerin und Kuratorin aus Charkiw. 2015 erschien ihr Architekturführer zu Slavutych, 2019 „Soviet Modernism. Brutalism. Post-Modernism“. 2020 kuratierte sie das Onlineprojekt Ukrarchipedia.

2. April 2022 Der Standard

In der Scheune liegt die Kraft

Das Deutsche Architekturmuseum zeigt die beste Architektur auf dem Land, mit viel Lob für Österreich. Hierzulande wird inzwischen intensiver über den ländlichen Raum geforscht.

Das Ländliche ist in Deutschland ein seltsames Phantom. Es geistert durch die Berliner-Hipster-ziehen-nach-Brandenburg-Romane wie jenen von Juli Zeh, wo es schon aus Gründen der Erzähldramaturgie gerne als größtmöglicher Gegensatz zum Städtischen ausgemalt wird, als etwas, das man betrachtet wie ein faszinierendes, aber fremdartiges Insekt. Die reden komisch, fahren Traktor und haben zweifelhafte politische Ansichten! Auch in der ruralen Realität ist von Romantik wenig übrig zwischen niedersächsischem Schweinemast-Gulag und Allgäuer Milchwirtschaftsindustrie. Das Handwerkliche wurde, anders als in der Schweiz oder Österreich, mit deutscher Gründlichkeit wegindustrialisiert.

Doch das ändert sich, denn das Land ist nach gut 20 Jahren Abfeiern des Urbanen wieder in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit zurückgependelt. Höchste Zeit, denn immerhin rund 47 Millionen Deutsche leben nicht in Städten, sondern hier. Schön hier ist der Titel der soeben eröffneten Ausstellung des Deutschen Architekturmuseums (DAM), die sich voll und ganz dem Ländlichen widmet. Schön ist es in der Tat am Ausstellungsort, einer 125 Jahre alten Scheune im Freilichtmuseum Hessenpark, der sowohl thematisch passt als auch als Ausweichquartier für das zurzeit renovierte DAM-Haupthaus in Frankfurt dient.

Das Schöne im Ländlichen ist heute nicht mehr nur in Freilichtmuseen zu finden. Es wurde wachgeküsst. Die Auswahl der insgesamt 70 gezeigten Bauten hat ganz klar einen architektonischen Schwerpunkt, es ist eine durchweg schön anzusehende Parade vorbildhafter Einzelbauten. Vorgestellt werden sie aus der Sicht ihrer Architekten und Bauherren, das heißt: von Bürgermeistern, Winzern oder der Leiterin eines Kindergartens. Denn auf dem Land, das zeigen auch die Erfahrungen in Österreich mit dem LandLuft-Baukulturgemeindepreis, könnten engagierte Einzelpersonen und Gruppen einen großen Unterschied machen.

Gestärkte Ortskerne

Die geografische Bandbreite mag dabei etwas gießkannenhaft erratisch wirken, sie reicht von der Bretagne über Lothringen bis nach Dänemark und Norwegen und damit weit über den deutschen Sprachraum hinaus. Aber: „Es war uns wichtig, die enorme Vielfalt darzustellen; der Schwerpunkt Europa ergab sich aus dem Wunsch, in Deutschland von diesen Projekten lernen zu können“, erklärt Kuratorin Annette Becker.

Enger gefasst sind die vier Schwerpunktregionen, die mit Initiativen über das Einzelobjekt hinaus als Vorbilder dienen: Thüringen und der Schwarzwald in Deutschland, Valendas in der Schweiz und Krumbach im Bregenzerwald. Im Südwesten wurde 2020 die Initiative „Bauwerk Schwarzwald“ gegründet, das als „Kompetenzzentrum für Schwarzwälder Architektur, Handwerk und Design“ als Wissensvermittler und Vernetzer fungiert. In Thüringen, wo sich die Internationale Bauausstellung speziell dem Thema Stadt/Land widmet, siedelten sich die Architekten Studio Gründer Kirfel in einem Schloss an, das als Basis für die Arbeit an der regionalen Baukultur dient.

Es überrascht wenig, dass die Stärkung der Ortskerne als Gegenmodell zum neuen Einfamilienhausgebiet zwischen Kreisverkehr und Waldrand ein Leitmotiv der Ausstellung ist. Einerseits durch öffentliche Bauten wie Gemeindezentren, Kitas und Kulturzentren, andererseits durch feinfühlige Um- und Zubauten: der Kindergarten Unterach am Attersee von Hohengasser Wirnsberger, ein restauriertes Bruchsteinhaus im Westerwald von Heltwerk Architekten oder die Umgestaltung des Dorfkerns im schweizerischen Cressier von LVPH Architectes und viele mehr.

„Es ist wichtig, vom Neubau zum Umbau zu kommen,“ sagt Annette Becker. „Der Bestand an Gebäuden bietet so viele Möglichkeiten. Das ist nicht nur ökologisch sinnvoll, sondern auch sozial, wenn Sie an die Hofreiten denken, die eine neue Heimat für unterschiedlichste Familienkonstellationen bieten können.“ Für Interessenten, die den Weg in die hessische Provinz nicht wagen, wird die Ausstellung mit einem umfassenden Begleitprogramm ergänzt, darunter Online-Weiterbildungsseminare und Symposien, und danach auf Wanderschaft gehen, sechs Gemeinden haben sich bisher dafür gemeldet.

Die Architektur ist länderunabhängig von hoher Qualität, und doch fällt auf, wie oft von neuen deutschen Regionalinitiativen der alpine Raum fast ehrfürchtig als Vorbild gelobt wird. Besonders Vorarlberg und der Bregenzerwald sind zu einer Art Austro-Exportschlager geworden, der von Delegationen aus nördlichen Gebieten besucht wird.

Voneinander lernen

Das bestätigt auch der Architekt Roland Gruber, der mit seinem Büro Nonconform Ideenwerkstätten in Gemeinden beider Länder konzipiert und auch an der DAM-Ausstellung beteiligt ist. Was den ländlichen Raum angeht, können und sollen beide voneinander lernen: „Ich würde gerne die Lockerheit, mit der wir in Österreich schöne Gebäude errichten, nach Deutschland exportieren und die strengen Regelungen, wo überhaupt gebaut werden darf, von Deutschland nach Österreich. Denn die Zersiedelung können wir uns nicht mehr leisten.“ Bayern, wo auf Landesebene entschieden wird, wo gebaut werden darf, sei hier ein Vorbild.

Aber auch Österreich ruht sich nicht auf seinen ländlichen Lorbeeren aus. An der TU Wien wurde im April 2021 das Center für den Ländlichen Raum eingerichtet. „Es gibt sehr viel Wissen, aber bislang keine Stelle, die es gebündelt hat“, erklärt Isabel Stumfol, die das Center koordiniert. Geforscht wird beispielsweise zum Thema Einfamilienhaus, ansonsten ein Tabu an Architekturhochschulen. „Einfamilienhäuser sind ein Problem, aber es ist keine Lösung, mit dem Finger auf Bauherren zu zeigen, es gibt hier kein einfaches Schwarz und Weiß.“

Außerdem: eine Summerschool und ein Handbuch zum Leerstandsmanagement und die „Landuni“ Drosendorf, die diese Woche ihr erstes Semester startete. „Ich glaube, dass die Antworten für viele Zukunftsfragen im ländlichen Raum liegen, das geht aber nur interdisziplinär“, sagt Stumfol. „Das Bild des ländlichen Raums schwankt zwischen Schwarzmalerei und Romantisierung, aber beides stimmt nicht mit der Realität überein.“ Zeit für einen Reality-Check zwischen Acker und Scheune.

Schön hier. Architektur auf dem Land.

[ Deutsches Architekturmuseum (DAM) in Kooperation mit dem Freilichtmuseum Hessenpark bis 27. November 2022 ]

12. Februar 2022 Der Standard

Architektur in der Antarktis: Über und unter dem Eis

Ein Buch widmet sich der 100-jährigen architektonischen Geschichte der Antarktis. Eine Annäherung von Mensch und Natur in einer Welt aus Frost, Sturm und Finsternis

Werner Herzog hat vermutlich mehr gesehen im Leben als die meisten Menschen auf dem Planeten. Aber als sich das 25 Tonnen schwere Trumm in sein Blickfeld schob, dürfte auch der deutsche Filmveteran mit den Augen gerollt haben. „Ivan the Terra Bus“ stand weiß auf rot darauf gepinselt. Ein rührend unbeholfenes Wortspiel, irreführend noch dazu, denn das Gefährt stand nicht auf Erde, sondern auf meterdickem Eis.

Werner Herzog war soeben in der Antarktis gelandet, der rote Terra Bus war sein Shuttle zur größten Siedlung auf dem polaren Kontinent: McMurdo Station, 1258 Einwohner. Von der Architektur des Ortes war Herzog, wie er in seinem Film Encounters at the End of the World (2007) erklärt, etwas enttäuscht. „Ich hatte keine unbe rührte Landschaft erwartet, aber McMurdo sah aus wie eine hässliche Bergarbeiterstadt voller Bagger und Baulärm.“

Der Kontrast zwischen der kristallinen Reinheit des ewigen Eises und dem Chaos aus Containern und Gatsch ist typisch für die Geschichte menschlicher Besiedlung der Südpolarregion. Die Architekturgeschichte der Antarktis ist über ein Jahrhundert alt, dokumentiert wurde sie nie. Bis jetzt. Denn das kürzlich erschienene monumentale Buch Antarctic Resolution tut genau dies, und zwar in biblischer Breite.

Herausgeberin Giulia Foscari, Architektin und Leiterin des Thinktank-Büros Unless, hatte schon 2014 in Elements of Venice ihre Heimatstadt Venedig mit Präzision auseinandergenommen. Nach der lückenlosen Verdichtung menschlichen Kulturschaffens widmete sie sich nun dem weißen Nichts. Dabei liegt die Faszination der Antarktis auf der Hand. Sie ist der einzige Kontinent ohne eingeborene Bevölkerung, sie ist ein grausam schönes monochromes Monstrum, das jede menschliche Behausung verweht, zerdrückt, verschluckt.

Mit Klavier und Projektor

„Während wir versuchen, Wohnstrategien in Extremregionen zu verbessern, stößt die Antarktis alles, was wir auf dem Eis bauen, buchstäblich ab“, schreibt Foscari. Auch die Architekturgeschichte beginnt natürlich mit den Heroen Robert Scott und Roald Amundsen. Die britische Expedition errichtete in Cape Evans eine Art koloniale Holzhütte, in der sie 1911–1913 „in vorzüglichem Komfort“ gentlemanhaft residierte, mit Klavier, Grammofon und Filmprojektor. Die Norweger gingen einen anderen Weg: Ihre Station Framheim wurde ins Eis hineingebaut, technisch klug und effizient. Cape Evans steht heute noch, Framheim ist durch das Ross-Schelfeis auf den Boden des Ozeans gesunken, doch beide Stationen stehen als Prototypen bis heute für Architektur, die sich mit oder gegen die Naturgewalten stellt.

Bestes Beispiel: die mittlerweile sechs Generationen der britischen Halley Station. Die erste von 1956 war eine Holzhütte im Scott’schen Sinne, Halley II (1967) eine zehn Meter im Eis versenkte Stahlkonstruktion, die schon sechs Jahre später wieder aufgegeben wurde. Halley III hielt immerhin zehn Jahre, bis sie vom Eis verschluckt wurde, die zerquetschten Reste der Basis wurden später von der Besatzung eines Forschungsschiffs mitten in einer Eiswand gesichtet: Die Antarktis hatte den Stahl geradezu verdaut. Halley V versuchte, mit höhenjustierbaren Stelzen der Naturgewalt zu entkommen, Halley VI (2012), zweifellos eine der schönsten Stationen, erinnert mit ihren modularen blauen Space-Kapseln an die Zukunftsvisionen von Archigrams Walking Cities der 60er-Jahre.

Leichtbau-Träume

Die USA evozierten 1975 mit der geodäsischen Kuppel der Amundsen Scott South Pole Station Buckminster Fullers Leichtbau-Träume, das deutsche Team aus Bof Architekten und Ramboll-Ingenieuren verlieh 2012 der indischen Station Bharati eine schnittige Hülle, die an einen Sportwagen erinnert, und die Brasilianer Estudio 41 gaben der aerodynamischen Station Comandante Ferraz (2020) die Eleganz einer Bondbösewichtvilla.

Die Herausforderungen sind enorm: Temperaturen bis minus 89 Grad und Windgeschwindigkeiten bis 260 km/h. Baumaterial muss per Schiff und Helikopter angeliefert werden, der Transport ins Inland kann Wochen dauern, gebaut werden nur im antarktischen Sommer. Mangels antarktischer Infrastruktur übernehmen die Städte Kapstadt, Christchurch, Hobart, Punta Arenas und Ushuaia stellvertretende Rollen als „Polar Gateways“.

Auch das Innenleben der Forscherstationen muss sich den Extremen stellen. Schon 1898/99 konstatierte die erste Winterexpedition „Melancholie und Depression“ in den dunklen Monaten. Damals versuchte man, mit Kaminfeuern als Form der Lichttherapie gegenzusteuern, heute kommen Farbpsychologie und Zedernholz zum Einsatz, um der Sinnesverarmung durch das Umfeld zu begegnen.

Bei aller wissenschaftlichen Strenge sorgt das Leben in der Extremsituation für zahlreiche Kuriositäten: Die 1961 eröffnete Kegelbahn der McMurdo Station mit ausgestopften Pinguinen als Kegel, eine einsame sowjetische Lenin-Büste am Südpol der Unzugänglichkeit, die 2008 von der Künstlerin Anne Noble fotografisch festgehaltenen „Piss Poles“: gelbe Fahnen, die die Stellen fürs Urinieren markieren. Oder das argentinische Paar, das 1977, auf dem Höhepunkt der Rivalität mit Chile, in die Antarktis geflogen wurde, um dort das erste Baby des Kontinents zu bekommen. Trotz dieser geopolitischen Statements hat sich die Antarktis ein Stück grenzenloser globaler Utopie bewahrt: Im Antarktis -Vertrag, am 1. Dezember 1959 mitten im Kalten Krieg unterzeichnet, verpflichteten sich die Nationen zur friedlichen Nutzung des Kontinents.

Doch auf globaler Ebene hat sich das Machtverhältnis zwischen vergänglicher menschlicher Intervention und ewigem Eis umgekehrt. 1985 wurde das Ozonloch über der Antarktis entdeckt, 2021 sorgte der Doomsday Glacier für Schlagzeilen, denn der Thwaites-Gletscher, doppelt so groß wie Österreich, zeigt dramatische Auflösungserscheinungen. Sollte das gesamte Eis am Südpol schmelzen, würde der Meeresspiegel um rund 60 Meter steigen, Berlin, Paris und Peking würden sich in die Tiefe verabschieden wie Amundsens Framheim. Hier in der südlichen Unzugänglichkeit zeigt die Erde mehr als anderswo ihre fragile Hülle.

5. Februar 2022 Der Standard

Brennende Fragen

Das Architekturzentrum Wien eröffnet mit „Hot Questions – Cold Storage“ seine neue, überbordende Dauerausstellung, an deren Ende eine Frage steht: Wann bekommt Österreich endlich ein Architekturmuseum?

Und das hier, erklärt der bärtige Mann in roter Hose und roten Schuhen, ist ein Terrassenhaus. Jede Wohnung hat die gleiche Fläche als Garten vor dem Fenster, das sei elementar. Großer Applaus im Saal. Moderator Dietmar Schönherr schaut interessiert auf das große Architekturmodell. Minutenlang erklärt der farbenfroh gekleidete Friedensreich Hundertwasser an diesem 26. Februar 1972 in der Mainzer Rheingoldhalle den Millionen Fernsehzuschauern von Wünsch dir was seine Ideen.

Jetzt darf er das auch jahrelang auf einem Bildschirm im Wiener Architekturzentrum tun, während hinter ihm das Paneel einer mit photoaktiven Algen gefüllten Fassade (Splitterwerk Architekten) grün vor sich hin blubbert. Ja, sogar Hundertwasser, der Gottseibeiuns der Architekten, hat seinen Platz in der neuen Schausammlung, die diese Woche eröffnete. Denn bei aller Kritik am Dekokitsch seiner realisierten Häuser wird man wehmütig bei dieser Fernsehszenerie. Heute scheint es undenkbar, dass in einer Samstagabendshow ausführlich über Architektur gesprochen wird, noch dazu anhand eines Modells.

Hot Questions – Cold Storage heißt die Dauerausstellung, die die seit 2004 bestehende Vorgängerin a_schau ablöst. „Cold Storage“, das verweist auf das AzW-Depot in Himberg, in dem sich inzwischen die größte Sammlung zur österreichischen Architektur überhaupt befindet, die mit über 100 Vor- und Nachlässen auf Fabrikhallengröße angewachsen ist. Über 400 Exponate davon sind jetzt in Wien zu sehen, ins Archiv selbst bekommt man per Video einen Einblick.

Sowohl in ihrem Konzept als auch in ihrer Erscheinung markiert die Schau eine Zäsur. „Vor 17 Jahren sind wir den Meistererzählungen gefolgt und zeigten einzelne Projekte“, erklärt Kuratorin Monika Platzer, die damals gemeinsam mit Gabriele Kaiser die a_schau und jetzt die Nachfolgerausstellung konzipierte. „Heute verfügen wir über neue Erkenntnisse und stellen uns andere Forschungsfragen in den Bereichen Klima und Politik, oder der Genderthematik.“

„Wer spielt mit?“

Ein braves chronologisches oder biografisches Abhaken von Architekturgeschichte wird hier eindeutig nicht betrieben. Sieben titelgebende heiße Fragen bilden stattdessen das Ordnungssystem für die Antworten liefernden Exponate. Eine davon lautet „Wer spielt mit?“ und ist mit seiner selbstreflexiven Metaebene so etwas wie der Schlüssel des Ganzen. Denn hier geht es darum, wer bestimmt, welche Architektur und welche Architekten relevant sind. Dieser Kanon, das weiß und zeigt die Ausstellung, ist immer subjektiv. Hier verweist sie auf frühere Ausstellungen der Arbeitsgruppe 4 zu Wien um 1900 im Jahr 1964 und die von Hans Hollein konzipierte Blockbusterausstellung Traum und Wirklichkeit von 1985, die beide den (künstlerischen wie monetären) Wert jener in Vergessenheit geratenen Ära maßgeblich bestimmten.

Hier kommt auch das Thema Frauen in der Architektur zur Sprache, plakativ in Form von zwei Barbiepuppen aus der Serie „I can be“ – Frau Architektin, Frau Ingenieurin. „Erstaunlicherweise gab es 1938 schon über 200 registrierte Architektinnen in Österreich“, sagt Monika Platzer, „doch auf die erste Professorin an einer Architekturhochschule, Nasrine Seraji, musste man bis 1996 warten.“

Diese und die weiteren sechs Fragen wurden von den Ausstellungsarchitekten Michael Hieslmair und Michael Zinganel (Tracing Spaces) in regenbogenbunte Installationen zwischen Möbel und Wundermaschine gepackt, eine starke Geste, die durchaus gewollt ist, wie AzW-Direktorin Angelika Fitz betont. „Wir mischen uns hier in die Architekturgeschichte ein und können dabei keine neutrale Position einnehmen. Deshalb ist die Ausstellung auch kein White Cube. Wir wollten auch nicht einfach Objekte hinstellen, sondern sie befragen und zum Leben erwecken.“

Es ist ein wilder Ritt, der dennoch nicht überfordert, sondern dazu verführt, mehr wissen zu wollen. Die Frage „Wie entsteht Architektur?“ präsentiert die Werkzeuge des Architekten wie Skizzen, Modelle und Computer ebenso wie die Räume, in denen Architektur entsteht: die Ateliers zu Hause und die Reisen in die Ferne, die den stetigen Import und Export von Ideen von und nach Österreich illustrieren. „Wie wollen wir leben?“ widmet sich auf sehr kompaktem Raum mit ausgewählten Modellen dem Thema Wohnbau, „Wer sorgt für uns?“ sucht Antworten in Bauten für das Gemeinwohl, von Anton Schweighofers Stadt des Kindes über das Otto-Wagner-Spital bis zu Luigi Blaus serienmäßigem Mistkübel, der 4700-mal in Wien seinen Dienst tut.

Politik und Identität

„Wie überleben wir?“ schlägt den Bogen von Utopien der 1960er-Jahre über Solararchitektur der 1980er und das pragmatische Paradies der Donauinsel bis zum Social Turn von Projekten wie Vinzirast von Gaupenraub Architekten – und hier ordnet sich auch Hundertwassers Terrassenhausfernsehwerbung passend ein. Das politischste Kapitel „Wer macht Stadt?“ stellt kapitalistische und antikapitalistische Ansätze im Wohnbau gegenüber und bringt auch noch die Themen Migration, Emigration und Vertreibung unter, und „Wer sind wir?“ stellt die Frage nach der österreichischen Identität zwischen Wiener und Grazer Schule, zwischen Stadt und Land, zwischen Vorarlberger Neuem Bauen und Betonbrutalismus im Burgenland.

Diese weit ausholenden Antworten machen nicht nur klar, aus wie vielen Geschichten die österreichische Architekturgeschichte besteht, sondern vermitteln auch das Selbstverständnis, die Kompetenz und den Wissensspeicher des AzW. Wenn vieles hier nur angerissen wird, zum Bersten vollgestopft wirkt und Lust auf mehr macht, dann ist das logisch, denn weniger als ein Prozent der Sammlung fand hier Platz. Alles hier will größer sein, so vieles gäbe es noch zu zeigen, jedes der sieben Kapitel wäre eine eigene Ausstellung wert. Doch der Raum und das Budget, die das AzW zur Verfügung hat, sind skandalös klein. Hot Questions – Cold Storage ist ein Signal an die österreichische Kulturpolitik, dass dieses Land endlich ein richtiges Architekturmuseum braucht, und zwar jetzt. Denn die Fragen brennen unter den Nägeln.

24. Dezember 2021 Der Standard

Rhapsodie in Gelb

Meine drei Monate in einer Wundermaschine des Wohnens, zwischen Füchsen und Futurismus und mit sehr viel Glas. Das Leben in einem Haus von Richard Rogers.

Das Begrüßungskomitee kam über Nacht. Es hatte vier Füße und scharfe Zähne. Der Fuchs hatte die Schnürsenkel meiner Laufschuhe, mit denen ich gleich am ersten Tag die Weiten von Wimbledon Common erkundet hatte und die ich mit gatschverkrusteten Sohlen vor der Glasfront stehenließ, lustvoll zerfetzt. Später sollte ich von der Nachbarin erfahren, dass es nicht einer, sondern gleich drei Füchse waren, die hier ihr Revier hatten. Einer von ihnen habe vor Jahren ihren Schoßhund Pippa entführt, der schließlich nach drei Wochen im Fuchsbauexil zerzaust und verwirrt, aber an Lebenserfahrung reicher zurückgekehrt war.

Wimbledon Village ist ein Dorf, eines von vielen in London, mehr Land als Stadt, und Wimbledon Common ist weniger Park als 350 Hektar britische Wildnis, in der man jeden Moment erwartet, dem Personal eines Brontë-Romans oder einer Gruppe Hobbits zu begegnen. Mitten im Dorf, gegenüber der Wildnis: zwei knallgelb gerahmte, eingeschossige Boxen. Das Haus, das der junge Richard Rogers 1968 gemeinsam mit seiner Frau Su für seine Eltern baute, eines seiner ersten Projekte.

Zeitkapsel der Popkultur

Es muss damals ein Alien gewesen sein. Eine Reihe knallgelber Stahlträger, die Seitenwände eines Space-Moduls mit Türen aus dem Fahrzeugbau, dazwischen viel Raum, viel Farbe, und komplett verglaste Fronten zur Straße und zum Garten. Genau die verglaste Front, vor der sich meine Schuh-Fuchs-Konfrontation zutrug, damals im Frühjahr 2017. Drei Monate Stipendium in einer wundersamen Wohnmaschine, einer Zeitkapsel des Jahrzehnts von Popkultur und Zukunftsoptimismus.

Ein Haus, das auch nach über 50 Jahren frisch, frech und provokant inmitten der suburbanen Gediegenheit steht. Der Hügel, auf dem Wimbledon Village liegt, ist nicht nur ein topografischer. Hier wohnen die, die es nach oben geschafft haben oder die nie unten waren. Das galt damals wie heute. Bentleys parken vor Bioläden, es gibt Verkehrsinseln für Pferde, und vor den Cafés lassen sich auch am Wochentag die, die ihr Geld arbeiten lassen, die Sonne auf den Milchschaum scheinen. Währenddessen grassieren unten Wohnungskrise und Obdachlosigkeit – die Themen meiner Stipendiatenforschung. Lebt man drei Monate in dieser schizophrenen Balance, wird die obszöne soziale Ungleichheit dieser Stadt handfest spürbar.

Haus als Möbel

Man wunderte sich nicht, dass Prince Charles, der das schlammig-schweigsame Gummistiefel-England verkörperte und dem alles Südländische und Großstädtische immer fremd war, Rogers später zu seinem Erzfeind erkor, dem er mehrere Projekte dank royaler Intervention abschoss. Rogers, geboren in Florenz, war immer im Herzen ein Kontinentaleuropäer. Als er 1939 mit seinen liberal-kunstsinnigen Eltern ins ländliche Surrey zog, war dies für den Sechsjährigen, wie er später schrieb, „als sei das Leben von Farbe auf Schwarz-Weiß gewechselt“. Sein ganzes Leben und Schaffen ab diesem Zeitpunkt sollten darauf abzielen, dieses Trauma zu korrigieren und mediterranes Licht und Farbe ins graue Porridge-England zu bringen.

Was war beeindruckender in diesem Haus – die Farbe oder der Raum? Sie waren nicht zu trennen. Die Farbe war hier nicht, wie so oft in der Architektur, eine nachträgliche Behübschung, sondern von vornherein Teil des Ganzen. Schiebetüren und Schränke in Orange und Grün. Die gelbe, zehn Meter lange Küchenzeile, mit der man eine stattliche Party versorgen konnte. Was man landläufig „Zimmer“ nennt, gab es nicht, alles war potenziell offen. Gleichzeitig war das Haus selbst ein Möbel, eine Barockkommode in Pop-Farben, mit zahllosen Türen und Schubladen. Es dauerte Tage, bis sie alle erkundet waren, manchmal entdeckte man einen Schrank, manchmal ein ganzes Badezimmer darin.

Drei Monate Leben in einem Glashaus, das verändert das eigene Verhalten. Man wird plötzlich viel ordentlicher und disziplinierter. Die Bettdecke wird schon am Vormittag ordentlich glattgestrichen, und man beginnt zum ersten Mal im Leben, farbig abgestimmte Obstschalen im exakten Abstand „schön“ zu arrangieren. Wohnen im Schaufenster wird automatisch zur Performance. Sind draußen die Bauarbeiter dabei, letzte Hand an die Sanierung des denkmalgeschützten Hauses zu legen, bemüht man sich bei der Forschungstätigkeit im Inneren, mit ostentativ konzentriertem „Ich arbeite übrigens auch“-Gesichtsausdruck in den Bildschirm zu schauen. Man wohnt innen und außen zugleich, man wohnt mit dem Garten und dem Wetter, bekommt jede Veränderung der aufblühenden Frühlingsmonate mit, und spät abends sieht man unter den gelben Vinyl-Jalousien einen der drei Füchse vorbeihuschen.

Als Rogers sich selbst die Ehre gab, um sein in neuem Glanz erstrahlendes Frühwerk zu besichtigen, begriff man sofort, dass er Teil des Hauses und das Haus Teil von ihm war. Leuchtend pink und grün gekleidet, tiefe Lachfalten im Gesicht, noch im hohen Alter eine sonnige Freundlichkeit ausstrahlend. Dieses Haus, das hatte er immer betont, war ein Schlüsselwerk, es war das Scharnier zwischen seiner Familiengeschichte und seiner Karriere. Hier hatten drei Rogers-Generationen gelebt und gearbeitet, und die doppelte Box hatte sich weich und wandelbar an alle Änderungen angepasst.

Hightech-Blaupause

Es war, wie Rogers sagte, die Blaupause (ja, okay, Gelbpause) für das mit Renzo Piano entworfene, 1977 eröffnete Centre Pompidou und für das, was noch folgen sollte und bald Hightech-Architektur genannt wurde. Ein nie ganz passender Begriff, denn so hochtechnologisch war das alles nicht und wollte es auch nicht sein, eher handfest zusammengeschraubt und -geschweißt. Wie bei der Kulturmaschine in Paris wird auch im Haus in Wimbledon die Technik nicht als Maschinenästhetik zelebriert, sondern dient als Ermöglicherin eines von aller Massivität befreiten Innenraums. Alles ist Piazza, könnte man mit dem kulturellen Italiener und leidenschaftlichen Urbanisten Rogers sagen. Man ist nicht Bewohner, sondern Bürger eines Hauses.

Das Centre Pompidou und das Rogers House haben bis heute nichts von der Kraft ihres Versprechens verloren. Sie erzählen von einem Optimismus, der uns heute unerreichbar scheint. Und das graue London ist, nicht zuletzt dank ihm, heller und freundlicher geworden.

11. Dezember 2021 mit Anne Isopp
Der Standard

Wahr, gut und schön

Gerade wurde der Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit verliehen. Die Preisträger und Nominierten sind Zeichen eines Paradigmenwechsels vom Neubau zum Umbau.

Das neue Bildungszentrum in Frastanz-Hofen schaut aus wie eine kleine Stadt. Lauter gleich anmutende Häuser mit Satteldach liegen versetzt zueinander und bilden dazwischenliegende begrünte Höfe. Für einen Ortsfremden sieht das alles wie neu gebaut aus. Der Ortskundige könnte auf den ersten Blick meinen, dass nur das alte Schulhaus neu gestrichen wurde. Tatsächlich stand hier schon immer eine Schule, die nun saniert und erweitert wurde. Es ist genau dieses Spiel aus Bekanntem und Unbekanntem, das den Schulbau so interessant macht. Am ungewöhnlichsten ist die Farbgebung: Von der Fassade über die Markisen bis hin zum Vorplatz ist alles in einen erdigen rot-braunen Farbton getaucht.

„Die Farbe polarisiert“, sagt Robert Hartmann, Bauamtsleiter der Marktgemeinde Frastanz. „Wir haben uns das getraut, weil wir finden, dass ein öffentliches Gebäude ruhig auffallen darf.“

Die Gemeinde wollte den Schulbau aus den 1950er-Jahren erhalten. Die Bausubstanz war gut, auch die Grundrisse mit den breiten Fluren und hohen Räume eigneten sich hervorragend für das neue Konzept, das die Pädagogen der Schule erarbeitet hatten. Doch die Ergebnisse des Architekturwettbewerbs waren ernüchternd. Die Jury bat vier der teilnehmenden Architektenteams um eine Überarbeitung, zwei von ihnen durften danach noch ein drittes Mal antreten. Pedevilla Architekten bekamen den Auftrag, ihr Entwurf ging am meisten auf den Bestand ein.

Rückblickend sagt Armin Pedevilla, der das Südtiroler Büro gemeinsam mit seinem Bruder Alexander führt: „Der mehrmalig geäußerte Wunsch des Bürgermeisters, das bestehende Schulhaus mit seinem Satteldach zu erhalten, lässt das Gebäude zu dem werden, was es heute ist. Anders gesagt: Das Umgesetzte spiegelt den Geist der beteiligten Menschen wider.“ Auch Pedevilla Architekten hatten am Anfang ein Haus mit Flachdach entworfen und erst im Zuge der Überarbeitung das Satteldach als Gestaltungselement für sich entdeckt. Warum diese Dachform eine so große Bedeutung hat, erkennt man vor Ort. Die Schule passt sich in Form und Höhe gut in die dörfliche Struktur ein. Die Dachform dient mit der Farbgebung als Wiederkennungsmerkmal.

Emotional nachhaltig

Vierhundert Volksschüler, achtzig Kindergarten- und vierzig Kleinkinder gehen hier täglich ein und aus. „Wir sind nach wie vor von der neuen Schule begeistert“, sagt der Bauamtsleiter. „Jedes Mal, wenn ich dort bin, sehe ich, wie glücklich die Lehrer und Eltern sind.“ Wenn man das Gebäude betritt, meint man, in eine eigene Welt einzutauchen. Die Räume strahlen ein tiefes Wohlbehagen aus.

Wie kann das sein? Die Wände sind mit einem rot-braunen Kalkputz überzogen, der Fußboden ist aus sägerauer Weißtanne, Türrahmen und Mobiliar aus hellem Holz und die Akustikdecke aus einfachen Holzfaserplatten. Große Fenster holen viel Licht ins Innere. Die Räume im Obergeschoss erstrecken sich bis unter die spitz zulaufenden Dachfirste. Man bekommt Lust, über die Oberflächen zu streichen. Es ist eine Schule der Raumwahrnehmung und Sinnesschärfung, und das ganz ohne Zwang.

„Wir konzipieren jedes Projekt mit dem Anspruch, dass dem fertigen Gebäude eine Kraft innewohnt, die uns das Gefühl gibt, es erhalten zu wollen, weil wir es wertschätzen und es uns emotional berührt. Das ist für uns Nachhaltigkeit“, sagt Armin Pedevilla. Einen wesentlichen Anteil an dieser Wohnzimmeratmosphäre hat auch die Schulmöblierung. Anstelle einer Standardmöblierung, wie man sie von vielen Schulen kennt, entwickelten die Architekten gemeinsam mit einem Vorarlberger Tischler Möbel aus Ahornholz. Tische und Stühle gibt es in drei Größen, sie sind robust und leicht, sodass auch die Kinder sie anheben und verschieben können.

Der Gemeinde und den Architekten ist es gemeinsam gelungen, den Bestand weiterzuentwickeln und dabei seine Identität zu bewahren. Alle, die hier früher in die Schule gegangen sind, können den alten Schulbau im neuen wiederkennen. Genau darum geht es beim Weiterbauen.

20. November 2021 Der Standard

Archäologien der Zukunft

Diese Woche wurde der renommierte Schelling-Preis verliehen. Alle drei nominierten Architekten arbeiten mit regionalem Handwerk und schlagen Brücken in die Zukunft. Ausgezeichnet wurde die in Beirut geborene Lina Ghotmeh, die ihrer verwundeten Heimatstadt eine Therapie aus Stein verordnete.

Splitterndes Glas, verbogener Stahl, binnen Sekunden verwüstete Stadtviertel. Die Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 teilte die jüngste Geschichte der libanesischen Hauptstadt in ein Davor und ein Danach. Mitten in der apokalyptischen Szenerie ragte ein Gebäude empor, dreizehn Geschosse hoch, sandgelb und massiv, mit tief eingeschnittenen Öffnungen, solide wie ein Fels, und nahezu unbeschädigt. Ein Fremdkörper in der Skyline Beiruts, die von schnellem Geld und Spekulation geprägt ist, wo Spiegelglas für Penthousemehrwert steht. Ein Überlebender.

Stone Garden ist der Name dieses Gebäudes, das zum Zeitpunkt der Explosion gerade ein Jahr alt war. Seine Architektin ist Lina Ghotmeh, 1980 in Beirut geboren, seit 2016 führt sie ihr Büro in Paris. Die Erfahrung ihrer Kindheit in einer Stadt des Bürgerkriegs, die einen scheinbar ewigen Zyklus von Zerstörung und Wiederaufbau durchlebt, hat sie stark geprägt. Wenn man damals durch die Stadt ging, sagt sie, wusste man nie genau, ob ein Loch in einer Fassade ein Fenster oder Resultat einer Detonation war.

Als sie den Auftrag für ein Hochhaus in ihrer Heimatstadt bekam, entschied sie sich nicht für Eskapismus, sondern für Konfrontationstherapie. Auch die tiefen Öffnungen in der rauen Fassade des Stone Garden erinnern an Einschusslöcher. Archäologie der Zukunft nennt Lina Ghotmeh, die als Kind nicht Architektin, sondern tatsächlich Archäologin werden wollte, ihre Herangehensweise. „Für mich ist Architektur ein Graben in der Vergangenheit, die in die Zukunft projiziert wird“, sagt sie. „Eine Archäologie, die die verschüttete Geschichte freilegt, von den Phöniziern über die Römer bis zur Explosion von 2020. Stone Garden ist tiefverwurzelt in dieser Erde. Im Herzen trägt das Gebäude die besondere melancholische Euphorie dieser Stadt.“

Therapeutische Wucht

Auch der Prozess des Bauens, sagt sie, war eine Art therapeutische Heilung für alle Beteiligten. „Die Handwerker, die die Haut des Gebäudes von Hand meißelten, entwickelten einen eigenen Kamm als Werkzeug. Die Passanten berührten den Stein. Wir alle spürten eine starke emotionale Bindung zu diesem Gebäude. Es ist wie eine Erweiterung unserer Körper. Ich glaube, der Raum an sich ist nicht nur einfach Raum, er ist ein Teil von uns. Durch die Explosion 2020 nahm dies eine dramatische Dimension an. Was passiert mit uns, wenn der Raum, in dem wir uns befinden, zusammenbricht? Auch wenn wir körperlich unversehrt sind, spüren wir diese Verletzung intensiv und sind von ihr gezeichnet.“

Nicht alle ihre Bauten sind von solch therapeutischer Wucht, doch alle erzählen sie Geschichten über den Ort, an dem sie stehen. Das estnische Nationalmuseum in Tartu, ihr erster großer gewonnener Wettbewerb, taucht als zarter Hangar aus dem Beton einer alten Flugzeuglandebahn hervor, wird immer höher und leichter, bis er sich in Schleiern aus Glas auflöst.

41 Jahre alt ist Lina Ghotmeh, für eine Architektenkarriere ist das sehr jung, und doch wurde sie bereits mit zahlreichen Preisen gewürdigt. Jetzt darf sie sich einen neuen ins Regal stellen, und keinen kleinen: Diese Woche wurde ihr (mit einem Jahr Covid-bedingter Verspätung) der mit insgesamt 30.000 Euro dotierte Schelling-Architekturpreis 2020 verliehen. Die 1992 in Karlsruhe von Trude Schelling-Karrer und Heinrich Klotz gegründete Schelling-Stiftung und ihre Jury haben sich stets als zuverlässiger Indikator für Talent und späteren Ruhm erwiesen, man darf sich also noch vieles von Lina Ghotmeh erwarten.

Mallorca und China

Doch auch die anderen beiden Nominierten, die in ganz anderen Weltregionen ein einer Art Architekturarchäologie arbeiten, sind längst keine Unbekannten mehr. Irene Pérez und Jaume Mayol vom Büro TEd’A Arquitectes in Palma de Mallorca zum Beispiel. Ihre Bauten auf der Insel sind fern vom weiß getünchten Finca-Bild der Tourismusbroschüren, sondern greifen weit in die Geschichte und ihre lokalen Handwerkstraditionen. Sie wirken rau, archaisch, fast römisch. Ziegelwände, unverputzt, manchmal halb fertig wirkend, kombiniert mit Sichtbeton, dazwischen viel Raum für zirkulierende Luft. Dazu kommt eine an die Antike erinnernde Vorliebe für Bögen und Halbkreise, mal als Tonnengewölbe oder Apsiden. Von außen wirken ihre Bauten oft wie monolithische Felsen, innen sind sie ausgehöhlt und perforiert, Wunderkammern voller Nischen, Atrien, Patios und Gärten, die das Haus durchwuchern.

Handwerk als Heilungsprozess und Träger von Baukultur: Das kennzeichnet auch die Arbeit von Xu Tiantian, die 2003 ihr Büro DnA in Peking eröffnete. Auf ihre Initiative geht der Wiederaufschwung der ländlichen Region Songyang in der Provinz Zhejiang zurück, der weltweit Beachtung fand.

Die 400 Dörfer waren durch Landflucht fast entvölkert, dann wurde der Region neues Leben eingehaucht. Eine kleine Fabrik zur Zuckeraufbereitung, ein Gemeinschaftshaus, ein Bambuspavillon, ein Museum für die Kultur des Hakka-Volks und eine Brücke zwischen zwei Dörfern.

Geplant und gebaut von der Architektin, gemeinsam mit lokalen Handwerkern, mit Bauleitung teilweise via Smartphone aus Peking. Das gebaute Ergebnis ist weder ein Zufallsprodukt noch ruraler Kitsch, sondern bis ins Detail durchdacht und auf Dauerhaftigkeit angelegt. Auch hier wird die architektonische Brücke geschlagen von der Archäologie der Vergangenheit in die Zukunft.

Publikationen

2017

Willst du wirklich wohnen wie deine Mutter?

Willst du wirklich wohnen wie deine Mutter? Die Ausstellung ist ein Plädoyer für den Fortschritt in Architektur, Wohnungsbau und Städtebau. Wie wir wohnen ist nicht unseren Genen geschuldet, wie wir wohnen ist ein über Generationen an gelerntes Verhalten, dessen Weiterentwicklung von der Dauerhaftigkeit
Hrsg: Kristin Feireiss, Hans-Jürgen Commerell
Autor: Maik Novotny, Kristin Feireiss, Kaye Geipel, Anna Popelka, Georg Poduschka
Verlag: PPAG, Aedes Architekturforum

2014

PPAG: Speaking Architecture
Phenomenology / Phänomenologie

Ein Elefantenhaus, ein Wohnberg, ein Dorf am Dach. Eine offene Schullandschaft, ein barockes Parkhaus, ein silbern schimmernder Windkanal. Das Wiener Büro PPAG architects, 1995 von Anna Popelka und Georg Poduschka gegründet, denkt Architektur mit Scharfsinn, Lust und Erfindergeist immer wieder neu. Ihr
Hrsg: Maik Novotny
Autor: Anna Popelka, Georg Poduschka, PPAG
Verlag: Ambra Verlag

2007

Eastmodern
Architecture and Design of the 1960s and 1970s in Slovakia

Eastern modernist architecture of the 60’s and 70’s is moving away from the specialized focus of international architecture debates and becoming a subject of discussion within the broader context of general interest. The excellent photos in the book convey the flair of an era in which planning was obviously
Autor: Maik Novotny, Hertha Hurnaus, Benjamin Konrad
Verlag: SpringerWienNewYork