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Zug fährt ab – Eine Stadt braucht einen Bahnhof
Spectrum

Bahnhöfe haben heute in erster Linie inklusiv und effizient zu sein. Wo Fahrpläne getaktet sind, bleiben Wartehallen auf der Strecke. In Hall in Tirol lässt sich das gerade gut beobachten.

14. Mai 2023 - Isabella Marboe
Eine Stadt braucht einen Bahnhof“, sagt Oliver vom Hove mit dem Brustton der Überzeugung. Er spricht von Hall in Tirol. Einem Ort mit einem außergewöhnlich schönen, mittelalterlichen Stadtkern, etwa 14.322 Einwohnerinnen und Einwohnern und einem grundsoliden, sympathischen Bahnhof, Baujahr 1957 – beziehungsweise dem, was davon blieb: die Halle, die von den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) als „Aufnahmegebäude“ bezeichnet wird, und die der moderne Bahnhof nicht mehr braucht.

„Siebzig Jahre lang war das eine Art Visitenkarte, ein Empfangsportal für den Personenverkehr, ein zentraler Punkt, an dem man sich begegnet“, sagt Gerald Aichner, Alpenvereinsvorsitzender Tirol. „Man sollte die Halle revitalisieren. Das kann ja nicht adäquat und zeitgemäß sein, dass man draußen warten muss, wenn es regnet oder schneit.“ Gemeinsam mit Oliver vom Hove initiierte Aichner im Mai 2019 eine Unterschriftenaktion zum Erhalt des alten Bahnhofs. Auch Ex-EU-Kommissar Franz Fischler zählt zu den prominenten Unterstützern: „Es gibt nur noch wenige Beispiele dieser Architektur des internationalen Modernismus aus den 1950er-Jahren. Dass man den Bahnhof von Wattens erhält, den von Hall aber nicht, ist nicht nachvollziehbar.“ Noch mehr erbost ihn das Argument mit den Parkplätzen, denen der Bestand weichen soll.

Der alte Bahnhof in Hall hat eine hohe handwerkliche Verarbeitungs- und Materialqualität; außerdem haben viele Menschen eine emotionale Beziehung dazu. Der Bahnhof ist das Tor zur Stadt, doch er steht nicht unter Denkmalschutz. Sein Architekt ist unbekannt, das Bundesdenkmalamt stellte als Fallbeispiel dieser Epoche den Bahnhof Seefeld unter Denkmalschutz. Den hatte Hubert Prachensky, eine prominente Architektenpersönlichkeit in Tirol, geplant. Gebäude unter Denkmalschutz haben gleichermaßen eine amtlich verbriefte Existenzberechtigung, alle anderen tun sich schwer. Umso mehr, wenn es für sie scheinbar keinen Nutzen mehr gibt.
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Nur noch Haltestelle

„Wichtig ist heute, einen diskriminierungsfreien Zugang zu den Mobilitätsangeboten zu schaffen“, sagt Christoph Gasser-Mair, Pressesprecher der ÖBB. „Auftrag der ÖBB ist, eine bedarfsgerechte Infrastruktur für Reisende im öffentlichen Verkehr zur Verfügung zu stellen.“ Neue Bahntechnik, eine neue Unterführung, zwei neue, 220 Meter lange Bahnsteige, eine neue Überdachung, Lifte, Monitore, Wartekojen: Der Umbau des Bahnhofs zur barrierefreien Verkehrsdrehscheibe erfolgte zwischen 2018 und 2020, er betrug elf Monate Bauzeit und kostete 11,5 Millionen Euro.

Das alte Aufnahmegebäude wurde geschlossen, teilabgebrochen und von allen Infrastrukturabschlüssen abgeschnitten – es sollte längst nicht mehr stehen. „Wir können auf Kosten des Steuerzahlers kein Gebäude erhalten, dessen Nutzung für die Erbringung von Mobilitätsdienstleistungen nicht relevant ist“, so Gasser-Mair. „Im Gegenteil: In Hall sind Fahrradabstellplätze ein großes Thema.“ Das heißt: Das Mobilitätskonzept bedarf einer Park&Ride-Anlage, keiner sanierungsbedürftigen Halle. Doch die ÖBB haben der Gemeinde noch bis Ende Juni Zeit gegeben, um ein Nutzungskonzept vorzulegen.

Als der Bahnhof Hall gebaut wurde, begann das Land langsam aufzuatmen. Der Terrazzo auf dem Boden, die Fliesen an den Wänden, draußen mattgrün, drinnen ockergelb, die Glastüren und großen Fenster in der hohen Halle erzielten mit bescheidenen Mitteln viel Wirkung. Man sieht auf die Bergkette des Inntals, der kleine Bahnhof strahlt Zuversicht aus, aufkeimende Lebensfreude und Reiselust. Man kaufte seine Zeitung, setzte sich nieder, wartete, kam ins Plaudern, brachte hin, holte ab und kam an. Ein Ort der Vorfreude und des Verweilens.

Heute sind Bahnhöfe „bedarfsgerechte Infrastruktur“ – also vor allem Haltestellen zum Um-, Ein- und Ausstieg, so inklusiv, barrierefrei und sicher wie möglich, mit klar bezeichneten Wegeleitungen. Nachhaltig, energieeffizient, ressourcenschonend, österreichweit einheitlich geplant. Das Nutzerverhalten hat sich geändert: Die meisten wissen genau, wann ihr Zug fährt, und kommen erst ganz knapp davor auf den Bahnsteig. „Jeder Nahverkehrszug, der in Hall wartet, hat ein WC an Bord“, so Gasser-Mair. Das dringende Bedürfnis wurde gleichermaßen in kleinen Stationen wegrationalisiert. Wer in Hall dennoch eine Toilette nutzen musste, ging in die nahe gelegene Bürgerstube. Schließlich stellte die Stadt ein WC auf und finanzierte Reinigung und Wartung; inzwischen sind die ÖBB zur Errichtung eines solchen bereit.


Kein Geld für die Sanierung

Als moderner Mobilitätsdienstleister haben die ÖBB keinen Bedarf an einem „Aufenthaltsgebäude“ und dementsprechend kein Interesse an dessen Erhaltung. Sie ist allerdings bereit, die alte Halle zu moderaten Konditionen an die Gemeinde zu vermieten. „Die ÖBB sind Eigentümer, sie wollen dieses Gebäude nicht mehr. Sie möchten aber auch nicht gegen den Willen der Gemeinde agieren“, erklärt Ex-Bürgermeisterin Eva Maria Posch. Daher wurde der geplante Abriss bis dato auch immer wieder verschoben.

Posch beauftragte den Architekten Benedikt Gratl mit einer Nutzungsstudie. „Der Zustand des Gebäudes ist nicht so schlecht, man sollte die Halle und das Vordach, das umlaufende rote Band, die strukturierten Fliesen und den schönen Terrazzo im Inneren unbedingt erhalten.“ Gratls Konzept sieht vor, zwei von außen zugängliche Container mit öffentlichem und Personal-WC sowie Technik- und Lagerinfrastruktur für ein Lokal in die zwei früheren Eingänge zu schieben und den Bestand innen als Wartezone mit Bäckerei, Trafik, Raum für Stadtteilentwicklung oder Tourismusinformation nutzen. Als Pendant zum neuen, barrierefreien, überdachten Abgang zur Unterführung hat Gratl auf der anderen Seite des Bestands auch einen Bereich für Park&Ride geplant.

Beim Wunschszenario sind sich alle einig: Die schöne, lichte Halle bleibt, ein kleiner Bäcker zieht ein, vielleicht eine Trafik, ein Café. „Ideen gibt es viele“, sagt der amtierende Bürgermeister Christian Margreiter. „Dass die Gemeinde für die Sanierung etwa eine Million Euro in die Hand nimmt, ist politisch nicht umsetzbar.“ Außerdem fand sich bisher kein überzeugendes Nutzungskonzept mit gesicherter Finanzierung. Für Bäckereien und Trafiken ist der Standort nicht rentabel, Bahnhofsrestaurationen sind für die Bahn tabu. „Bei aller Wertschätzung für den Einsatz zum Erhalt der Halle: Der Zug ist abgefahren. Zu so einem Gebäude muss man ,Ja‘ sagen, es hat keinen Zweck mehr für die Bahn.“

Eines ist jetzt schon sicher: Wo es kein Aufenthaltsgebäude gibt, hält sich auch niemand auf. Die ganze Welt spricht von sanfter Mobilität – der Abriss einer Wartehalle zugunsten von Park&Ride scheint zumindest sehr kurzsichtig. Wer weiß, wie das Reisen und die Stadt Hall sich entwickeln. Bis Ende Juni ist noch Zeit für ein alternatives Nutzungskonzept.

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Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

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