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Im Labor der vergessenen Ideen
Der Standard

Soeben wurde die 18. Architekturbiennale in Venedig eröffnet. Unter dem Titel „The Laboratory of the Future“ üben einige Länder heuer massiv Kritik am Veranstalter. Manche stellen das Format überhaupt infrage.

20. Mai 2023 - Wojciech Czaja
Ein Liter Gemüsesaft Wetland, eine Tüte Kartoffelchips Extreme Natur e, einmal Hustenzuckerln Amnesia, ein Vollwaschmittel Villa Frankenstein, und dann noch eine Packung Chicken-Wings Making Heimat . Mit den Lebenbismitteln im Einkaufskorb geht es ab zur Kassa, der Kassier ist voll nett, zahlen muss man hier nämlich nix, dafür aber bekommt man zur Dokumentation des getätigten Einkaufs einen Originalbeleg überreicht. Das Faksimile bleibt in der Kassa, denn am Ende der 18. Architekturbiennale – nach insgesamt 190 Tagen Laufzeit – soll ausgewertet werden, welche Produkte vom Publikum am häufigsten geshoppt wurden.

„Wir sind natürlich kein echter Supermarkt“, sagt Ernests Cerbulis. „Aber wir sind ein echt super Wissensmarkt, denn die insgesamt 506 Produkte, die wir im Sortiment haben, wurden eigens für Venedig konzipiert und von ausgesuchten Experten und Spezialistinnen in Handarbeit produziert. Mehr Qualität geht nicht.“ Entwickelt wurden die hier lagernden Wissens- und Lebensmittel von sämtlichen partizipierenden Länderpavillons und Kuratorenteams der letzten zehn Architekturbiennalen, also der Jahre 2002 bis 2021. Es ist alles vertreten, von Made in Germany bis Made in Elfenbeinküste.

Wissen konsumieren

„Die Architekturbiennale ist eine Shoppingmall voller Ideen, Konzepte und außergewöhnlicher Urheberschaften, die sich mit den Problemen und Herausforderungen unseres Zusammenlebens beschäftigen“, sagt Cerbulis, einer der Kuratoren des lettischen Länderpavillons mit dem Titel TCL. Die Abkürzung steht für Trade Center Latvia, die diskontartige Anmutung über der Kassa, die an Lidl und Hofer erinnert, könnte kaum besser sein. „Bloß stellt sich die Frage: Was passiert mit all dem akkumulierten, kollektiven Wissen nach der Biennale?“

Die Antwort ist: Es verschwindet in der Kulturschublade und gerät in Vergessenheit. Lettland macht die Archivboxen wieder auf, reibt uns (und dem Präsidium der Biennale) unter die Nase, was eh schon alles erdacht und erfunden wurde, und lädt uns dazu ein, die am dringendsten benötigten Produkte in den Korb zu legen, sie miteinander zu kombinieren und das ganze Wissen endlich zu konsumieren. „Es steht viel Arbeit an. Es braucht nur noch die richtigen Entscheidungen in den Kassen der öffentlichen Hand.“

Lettland ist nicht der einzige Beitrag, der die Architekturbiennale in ihrer heutigen Form auf den Prüfstand stellt. Auch Österreich, Deutschland, die Schweiz und die Niederlande stellen infrage, ob die Biennale tatsächlich so sinnvoll und kulturell nachhaltig ist, wie sie es für sich selbst beansprucht, ob das Modell der Länderkonkurrenz überhaupt noch zeitgemäß ist und ob die monofunktionale Nutzung der Pavillons nicht ein bisschen eindimensional ist. Und all diese Länder mussten sich an den Behörden und Biennale-Verantwortlichen zum Teil die Zähne ausbeißen.

Biennale dekonstruieren

Ob das wohl das war, was sich Lesley Lokko, Gesamtkommissärin der 18. Architekturbiennale, erhoffte, als sie das diesjährige Motto The Laboratory of the Future ausrief und die Teilnehmenden dazu ermutigte, sich als „Agents of Change“ einzubringen?

Dabei hat Lokko, schottische Architektin und Lehrende mit ghanaischen Wurzeln, eine längst überfällige Evolution eingeleitet: Sie hat Afrika und die afrikanische Diaspora gepusht und die kulturgeistigen Leistungen dieses gigantischen Kontinents endlich sichtbar gemacht, sie hat den teilnehmenden Künstlerinnen und Künstlern in der gesamten Ausstellung mit Porträtfotos ein physisches Gesicht gegeben, und sie hat angeregt, das Format der Ausstellung nicht bloß als „Momentaufnahme mit einem Narrativ“ zu verstehen, sondern als Prozess.

Ihr einziges Pech ist, dass manche Länder den Prozess sehr wörtlich genommen haben und nun die Biennale dekonstruieren – sowohl materiell als auch immateriell. Die Schweiz verbindet ihren Bruno-Giacometti-Pavillon mit dem venezolanischen Gegenstück von Carlo Scarpa, indem sie die trennenden Mauerelemente entfernt. Die Holländer haben Löcher in die Dachkonstruktion geschnitten und sammeln nun das Regenwasser ihres Pavillons, um mit der flüssigen Metapher auf die Fehlerstellen in unserem globalen Kapitalsystem (Cashflow, Liquidität, in Geld schwimmen) hinzuweisen.

Und das österreichische Kuratorenteam – bestehend aus dem Architekturkollektiv AKT und dem Wiener Architekten Hermann Czech – hat sich eineinhalb Jahre lang darum bemüht, einen Teil des Österreich-Pavillons für die Dauer der Biennale der lokalen Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Vergeblich.

„Wir wollten den Pavillon durch eine Öffnung in der Giardini-Mauer vom Stadtteil Sant’Elena aus zugänglich machen“, sagt Fabian Antosch von AKT. „Seit ihrem Beginn 1980 hat sich die Architekturbiennale massiv ausgebreitet und die hier lebenden Menschen mehr und mehr zurückgedrängt.“ Inzwischen umfasst die Biennale im Arsenale und in den Giardini – die auch außerhalb der Biennale-Saison öffentlich nicht zugänglich sind – 13 Hektar Land sowie eine Vielzahl an Kirchen, Palazzi, Wohnhäusern, Hotels, Bibliotheken und leerstehenden Geschäftslokalen. Biennale, Baubehörde und Denkmalamt haben die von AKT und Czech vorgeschlagene Öffnung abgelehnt (DERΔTANDARD berichtete).

Teil des Problems

Ein substanzielles Rütteln an der architektonischen Nabelschau ist auch der diesjährige Beitrag Deutschlands. Unter dem Titel Wegen Umbau geöffnet wird der Pavillon coram publico umgebaut, repariert und „instandbesetzt“, wie dies das Kuratorenteam rund um Anh-Linh Ngo formuliert. „Seit vielen Jahren sehen wir auf den Biennalen, was wir gegen die Klimakrise und die fortschreitende Ökologiekatastrophe tun sollten“, sagt Ngo, „lassen dabei aber außer Acht, dass wir Teil des Problems und nicht Teil der Lösung sind. Wir machen bei diesem Zirkus mit.“

Von der letzten Kunstbiennale 2022 wurden Tonnen von Baumaterialien eingesammelt, die sonst auf der Müllhalde gelandet wären. Mit dem angehamsterten Baustofflager repariert der Pavillon nun sich selbst: Der NS-Bau bekommt eine Werkstatt, eine Ökotoilette und eine barrierefreie Rampe.

„Wir bauen den Pavillon nach unseren gesellschaftlichen Vorstellungen um“, so Ngo. „Und wenn dieser Teil abgeschlossen ist, werden wir mit den Studierenden, die ab kommender Woche hier arbeiten werden, auch diverse bauliche Schäden und Abnützungserscheinungen in der umliegenden Stadt beheben.“

Damit ist nun die größte aller Baustellen eröffnet: Das Fundament der Architekturbiennale bröckelt, die Säulen der sozialen, ökologischen und gesellschaftspolitischen Relevanz wurden heuer ordentlich ins Wanken gebracht, es braucht dringend eine Sanierung. The Laboratory of the Future, so scheint es, ist zu einem Museum of the Past geworden.

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