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Fluchtpunkt Architektur
Wir alle sind auf der Suche nach Schutzräumen, vor Krisen, vor dem Alltag. Wir stellen fünf von ihnen mit den dazugehörigen Psychogrammen vor. Alle Personen sind frei erfunden, doch die Räume, in die sie sich zurückziehen, sind es nicht.
27. Mai 2023 - Maik Novotny
Von der Stadt in den Bunker
Schon Jahre vor dem Ausbruch der Pandemie hatte Markus (44) mehrere Survival-Magazine abonniert. Terrorismus, Stromausfall, elektromagnetische Impulse, ungünstig einfallende Meteoriten, darauf wollte er vorbereitet sein. Corona bewies ihm, dass er recht hatte: Man lebte ganz offensichtlich in Endzeiten. Kein Ort auf der Erde war sicher, aber manche waren sicherer als andere, und man konnte sie sicherer machen, wenn man Abonnent mehrere Survival-Magazine war. Nach langer Suche fand er auf Willhaben die passende Immobilie für den Aufbau seines Prepper-Paradieses:
Einfamilienhaus aus den 1970er-Jahren, 300 Quadratmeter Wohnfläche, gerichtliche Zwangsversteigerung, hinteres Waldviertel, also günstig. Dass der Grundriss, den sich die Vorbesitzer hatten bauen lassen, so unbrauchbar war wie die Heizkosten des viel zu großen Hauses astronomisch, stört Markus nicht. Für ihn zählten andere Werte: großer Keller, abgelegenes Grundstück, einsehbare Zufahrt. Schritt für Schritt füllt sich der Keller an: Goldbarren gegen die Inflation, selbstgebauter Kompass, Fluchtrucksack („Bug-Out Bag“) für den Notfall, für den Tag X, an dem die Welt untergeht. Der bayerische Komiker Gerhard Polt, der 1982, am Höhepunkt des Kalten Krieges, in einem Fernsehsketch die Zuseher stolz durch seinen atomsicheren Bunker führte, würde sagen: Reschpekt.
Vom Land ins Dorf in der Stadt
Das handwerkliche Talent haben Harald und Sonja (beide Anfang 30) aus ihrer oberösterreichischen Heimat mitgebracht. Dort hat jeder zwei rechte Hände, man greift ohne Umschweife zu Säge, Hammer, Schlagbohrer und zimmert sich aus Holz etwas zusammen. Zuerst die Küche in der kleinen Wiener Wohnung, und bald auch auf der Gasse. Dank ihrer fröhlich-ruralen Direktheit haben die beiden schnell Freunde in der Nachbarschaft im vierten Bezirk geschlossen, vom Magistrat einen Stellplatz für eine Grätzloase genehmigt bekommen, die nun umgehend und kompetent aus alten Holzpaletten zusammengeschraubt wird.
Ein paar gebrauchte Blumenkisten lassen das Urban Gardening erblühen, bald trifft man sich zum Grätzlstammtisch, und das Dorf in der Stadt ist fertig, noch perfekter als das Dorf, aus dem man kommt. Der US-Soziologe Richard Sennett dachte in den 1970er-Jahren über die Frage nach, wie dörflich die Stadt sein sollte, und beantwortete sie mit: nicht so sehr. „Die Stadt ist das Instrument nichtpersonalen Lebens, die Gussform, in der Menschen, Interessen, Geschmacksrichtungen in ihrer ganzen Vielfalt zusammenfließen und erfahrbar werden. Die Angst vor der Anonymität zerbricht diese Form.“ Aber, lieber Richard: Von Greenwich Village über Berliner Kieze bis zu den stillen Gassen von Tokio hat jede Stadt ihre dörflichen Inseln. Und wenn die Krise kommt, weiß man, von wem man sich das Werkzeug borgen kann.
Von der Katastrophe in die Wüste
Vorige Woche standen in Venedig 23 Architekten und eine Architektin stolz wie eine in dunkelblau und schwarz gewandete Fußballmannschaft vor der Kamera. Große Namen wie Jean Nouvel, Ben van Berkel und Massimiliano Fuksas waren darunter. Um „World-Leading Architects, Designers und Future Thinkers“ handle es sich hier, stand unter dem Foto auf der Website des Megaprojekts Neom: The Line in der saudischen Wüste. Dessen Auftraggeber hatte anlässlich der Eröffnung der Architekturbiennale einen Palazzo gemietet, um mit allen visuellen Mitteln für das 140 Kilometer lange, verspiegelte Bauwerk zu werben, kurz vor der geplanten Hinrichtung dreier Stammesangehöriger, die gegen den Bau protestierten.
„Zero Gravity Urbanism“ werde hier entstehen, so Neom-CEO Nadhmi Al-Nasr, und auf Videos turnt tatsächlich eine junge Frau fast schwerelos durch lichtdurchflutete und grünberankte Canyons. Doch so luftig und ökologisch ist The Line nicht. Es ist kein Modell für die Zukunft, sondern das Aufbäumen der Vergangenheit, denn wenige Meter vor dem Abgrund der Klimakatastrophe ist ja eh schon alles egal, oder?
Es ist das letzte Aufkeuchen einer Architekturgeneration, die einmal noch mit großen Formen und Gesten spielen möchte. Sollte The Line tatsächlich fertig werden, können die 24 Future-Thinkers ihren Fünftwohnsitz im Fluchtpunkt des Canyons beziehen und dort in der eigenen Monografie blättern, während draußen bei 50 Grad die Karawane der Klimaflüchtlinge vorbeizieht.
Von der Stadt in den Speckgürtel
Aus dem Autoradio singt Andreas Gabalier seinen Song Bügel dein Dirndl gscheit auf, als Angelika (36) gerade von der A5 auf die S1 einbiegt, um dann die Ausfahrt zum G3 Shopping Resort Gerasdorf zu nehmen.
Nach dem Nachtdienst in der Klinik braucht sie etwas Zeit, um runterzukommen, bevor sie nach Hause fährt. Die große Einkaufsmall ist perfekt dafür. Manchmal kauft sie Gewand, meistens nur einen Americano in Large zum Mitnehmen, den sie dann auf dem hektargroßen Parkplatz im Auto trinkt, so langsam, dass er kalt wird. Dann startet sie den SUV, eine halbe Stunde braucht sie nach Hause, über Schnellstraße, Kreisverkehr, Bundesstraße, Kreisverkehr, Landstraße, Kreisverkehr, Kreisverkehr, Kreisverkehr, Siedlung. Vorbei an Gewerbegebieten, Logistikparks, Umspannwerken. Lagerhaus, Bauhof, Kläranlage. Das große Freiheitsversprechen des amerikanischen Westens, hineingefaltet ins kleine Österreich.
Eine Weltflucht am Feierabend auf gewohnten Pfaden, mit Wegweisern, die zeigen, wo es langgeht. Und durch die Windschutzscheibe kann man ins Land einischaun. Heimat.
Von heute in die Vergangenheit
Inzwischen hat Reinhold (65), pensionierter Lehrer, mit dem Ansammeln von neuem Wissen weitgehend abgeschlossen. Er weiß schließlich sehr, sehr viel. Genug, um daraus einen fugenlosen Kokon zu bauen, in dem er Meinungen ausbrüten kann, an denen er die Welt gerne teilhaben lässt.
Die Stadt, die sich Reinhold erträumt, ist ein Amalgam aus Erinnerungen seiner Jugend und der Stadt des 19. Jahrhunderts. Die Fassaden der Gründerzeit, kombiniert mit der vollmotorisierten Stadt der 1980er-Jahre, in der man überall parken konnte und in der er noch Lederjacke tragen konnte, ohne peinlich auszusehen, damals mit 30.
Reinhold ist Administrator der Facebook-Gruppe „Pro Stadtbild“; dort fordert er eine Rückkehr zur „klassischen Architektur“, obwohl er nicht weiß, was das ist. Irgendwie alt eben. Gerne postet er dazu Bildpaare: Links Barock, rechts Beton, 70 Prozent der Befragten finden das linke Bild besser, also Betonklotz weg, und alles wird wieder schön.
Diese Schönheit, hm, was mag das sein? Ausgewogenheit, Harmonie und Proportion? Oder eher ein warmes Gefühl der Vertrautheit? Was hinter den neo-neohistoristischen Fassaden seiner Traumstadt passiert, ist Reinhold weniger wichtig als eine Kulisse ohne Störfaktoren, perfekt für die Weltflucht in eine Vergangenheit, in der nicht so viele Radler auf der Straße fuhren und nicht gegendert wurde. Das war schön, damals, denkt Reinhold.
Schon Jahre vor dem Ausbruch der Pandemie hatte Markus (44) mehrere Survival-Magazine abonniert. Terrorismus, Stromausfall, elektromagnetische Impulse, ungünstig einfallende Meteoriten, darauf wollte er vorbereitet sein. Corona bewies ihm, dass er recht hatte: Man lebte ganz offensichtlich in Endzeiten. Kein Ort auf der Erde war sicher, aber manche waren sicherer als andere, und man konnte sie sicherer machen, wenn man Abonnent mehrere Survival-Magazine war. Nach langer Suche fand er auf Willhaben die passende Immobilie für den Aufbau seines Prepper-Paradieses:
Einfamilienhaus aus den 1970er-Jahren, 300 Quadratmeter Wohnfläche, gerichtliche Zwangsversteigerung, hinteres Waldviertel, also günstig. Dass der Grundriss, den sich die Vorbesitzer hatten bauen lassen, so unbrauchbar war wie die Heizkosten des viel zu großen Hauses astronomisch, stört Markus nicht. Für ihn zählten andere Werte: großer Keller, abgelegenes Grundstück, einsehbare Zufahrt. Schritt für Schritt füllt sich der Keller an: Goldbarren gegen die Inflation, selbstgebauter Kompass, Fluchtrucksack („Bug-Out Bag“) für den Notfall, für den Tag X, an dem die Welt untergeht. Der bayerische Komiker Gerhard Polt, der 1982, am Höhepunkt des Kalten Krieges, in einem Fernsehsketch die Zuseher stolz durch seinen atomsicheren Bunker führte, würde sagen: Reschpekt.
Vom Land ins Dorf in der Stadt
Das handwerkliche Talent haben Harald und Sonja (beide Anfang 30) aus ihrer oberösterreichischen Heimat mitgebracht. Dort hat jeder zwei rechte Hände, man greift ohne Umschweife zu Säge, Hammer, Schlagbohrer und zimmert sich aus Holz etwas zusammen. Zuerst die Küche in der kleinen Wiener Wohnung, und bald auch auf der Gasse. Dank ihrer fröhlich-ruralen Direktheit haben die beiden schnell Freunde in der Nachbarschaft im vierten Bezirk geschlossen, vom Magistrat einen Stellplatz für eine Grätzloase genehmigt bekommen, die nun umgehend und kompetent aus alten Holzpaletten zusammengeschraubt wird.
Ein paar gebrauchte Blumenkisten lassen das Urban Gardening erblühen, bald trifft man sich zum Grätzlstammtisch, und das Dorf in der Stadt ist fertig, noch perfekter als das Dorf, aus dem man kommt. Der US-Soziologe Richard Sennett dachte in den 1970er-Jahren über die Frage nach, wie dörflich die Stadt sein sollte, und beantwortete sie mit: nicht so sehr. „Die Stadt ist das Instrument nichtpersonalen Lebens, die Gussform, in der Menschen, Interessen, Geschmacksrichtungen in ihrer ganzen Vielfalt zusammenfließen und erfahrbar werden. Die Angst vor der Anonymität zerbricht diese Form.“ Aber, lieber Richard: Von Greenwich Village über Berliner Kieze bis zu den stillen Gassen von Tokio hat jede Stadt ihre dörflichen Inseln. Und wenn die Krise kommt, weiß man, von wem man sich das Werkzeug borgen kann.
Von der Katastrophe in die Wüste
Vorige Woche standen in Venedig 23 Architekten und eine Architektin stolz wie eine in dunkelblau und schwarz gewandete Fußballmannschaft vor der Kamera. Große Namen wie Jean Nouvel, Ben van Berkel und Massimiliano Fuksas waren darunter. Um „World-Leading Architects, Designers und Future Thinkers“ handle es sich hier, stand unter dem Foto auf der Website des Megaprojekts Neom: The Line in der saudischen Wüste. Dessen Auftraggeber hatte anlässlich der Eröffnung der Architekturbiennale einen Palazzo gemietet, um mit allen visuellen Mitteln für das 140 Kilometer lange, verspiegelte Bauwerk zu werben, kurz vor der geplanten Hinrichtung dreier Stammesangehöriger, die gegen den Bau protestierten.
„Zero Gravity Urbanism“ werde hier entstehen, so Neom-CEO Nadhmi Al-Nasr, und auf Videos turnt tatsächlich eine junge Frau fast schwerelos durch lichtdurchflutete und grünberankte Canyons. Doch so luftig und ökologisch ist The Line nicht. Es ist kein Modell für die Zukunft, sondern das Aufbäumen der Vergangenheit, denn wenige Meter vor dem Abgrund der Klimakatastrophe ist ja eh schon alles egal, oder?
Es ist das letzte Aufkeuchen einer Architekturgeneration, die einmal noch mit großen Formen und Gesten spielen möchte. Sollte The Line tatsächlich fertig werden, können die 24 Future-Thinkers ihren Fünftwohnsitz im Fluchtpunkt des Canyons beziehen und dort in der eigenen Monografie blättern, während draußen bei 50 Grad die Karawane der Klimaflüchtlinge vorbeizieht.
Von der Stadt in den Speckgürtel
Aus dem Autoradio singt Andreas Gabalier seinen Song Bügel dein Dirndl gscheit auf, als Angelika (36) gerade von der A5 auf die S1 einbiegt, um dann die Ausfahrt zum G3 Shopping Resort Gerasdorf zu nehmen.
Nach dem Nachtdienst in der Klinik braucht sie etwas Zeit, um runterzukommen, bevor sie nach Hause fährt. Die große Einkaufsmall ist perfekt dafür. Manchmal kauft sie Gewand, meistens nur einen Americano in Large zum Mitnehmen, den sie dann auf dem hektargroßen Parkplatz im Auto trinkt, so langsam, dass er kalt wird. Dann startet sie den SUV, eine halbe Stunde braucht sie nach Hause, über Schnellstraße, Kreisverkehr, Bundesstraße, Kreisverkehr, Landstraße, Kreisverkehr, Kreisverkehr, Kreisverkehr, Siedlung. Vorbei an Gewerbegebieten, Logistikparks, Umspannwerken. Lagerhaus, Bauhof, Kläranlage. Das große Freiheitsversprechen des amerikanischen Westens, hineingefaltet ins kleine Österreich.
Eine Weltflucht am Feierabend auf gewohnten Pfaden, mit Wegweisern, die zeigen, wo es langgeht. Und durch die Windschutzscheibe kann man ins Land einischaun. Heimat.
Von heute in die Vergangenheit
Inzwischen hat Reinhold (65), pensionierter Lehrer, mit dem Ansammeln von neuem Wissen weitgehend abgeschlossen. Er weiß schließlich sehr, sehr viel. Genug, um daraus einen fugenlosen Kokon zu bauen, in dem er Meinungen ausbrüten kann, an denen er die Welt gerne teilhaben lässt.
Die Stadt, die sich Reinhold erträumt, ist ein Amalgam aus Erinnerungen seiner Jugend und der Stadt des 19. Jahrhunderts. Die Fassaden der Gründerzeit, kombiniert mit der vollmotorisierten Stadt der 1980er-Jahre, in der man überall parken konnte und in der er noch Lederjacke tragen konnte, ohne peinlich auszusehen, damals mit 30.
Reinhold ist Administrator der Facebook-Gruppe „Pro Stadtbild“; dort fordert er eine Rückkehr zur „klassischen Architektur“, obwohl er nicht weiß, was das ist. Irgendwie alt eben. Gerne postet er dazu Bildpaare: Links Barock, rechts Beton, 70 Prozent der Befragten finden das linke Bild besser, also Betonklotz weg, und alles wird wieder schön.
Diese Schönheit, hm, was mag das sein? Ausgewogenheit, Harmonie und Proportion? Oder eher ein warmes Gefühl der Vertrautheit? Was hinter den neo-neohistoristischen Fassaden seiner Traumstadt passiert, ist Reinhold weniger wichtig als eine Kulisse ohne Störfaktoren, perfekt für die Weltflucht in eine Vergangenheit, in der nicht so viele Radler auf der Straße fuhren und nicht gegendert wurde. Das war schön, damals, denkt Reinhold.
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