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Neue Bim an der Côte d’Azur
Spectrum

Das Konzept der autogerechten Stadt ist europaweit gescheitert – außer in Frankreich: Dort beschreitet man einen erfolgreichen Weg und verwandelt die Städte in Territorien der Hochwertigkeit. Das Werkzeug: neu gedachte ­Strecken der Öffis.

14. September 2023 - Harald A. Jahn
In den 1960er-Jahren schwappte mit dem Wirtschaftswunder auch die große Motorisierungswelle über die Städte. Während die Straßenbahnnetze im deutschsprachigen Raum reduziert wurden, blieben doch viele Betriebe erhalten; in Frankreich wurde der öffentliche Verkehr dagegen auf ein Minimum reduziert. Von den vielen Betrieben blieben nur bescheidene Reste in Lyon, St-Etienne und Lille. Gleichzeitig investierte man in Straßeninfrastruktur: So wurden in Paris Autostraßen auf den romantischen Kais der Seine oder ein Autobahnring um die Stadt angelegt.

Nach der ersten Ölkrise beschloss Frankreich, dass die Ballungsräume neue, vorzugsweise elektrisch betriebene, kollektive Verkehrsmittel benötigten, um die Probleme des Autoverkehrs in den Griff zu bekommen und die Luftverschmutzung zu bremsen. 1975 schrieb Marcel Cavaillée, Staatssekretär im Verkehrsministerium, einen Brief an einige große Provinzstädte, in dem er sie aufforderte, neue Konzepte für den Stadtverkehr auszuarbeiten. Die Reaktionen waren vorerst zurückhaltend, dank der Förderung des Staates wurden dann aber drei Projekte verwirklicht: Nantes war Vorreiter und eröffnete 1985 die erste Straßenbahn der neuen Generation, dann folgten Grenoble und eine Vorortstrecke in Paris.

Während die Tramway von Nantes noch eher konventionell wirkt, begann Grenoble mit dem Bau von Straßenbahnlinien auch ein komplexes Stadterneuerungsprojekt. Der Autoverkehr wurde aus dem Stadtzentrum zurückgedrängt, ein hochmodernes, barrierefreies Verkehrsmittel erschließt nun die neuen Fußgängerzonen. Es war das erste Mal, dass die Straßenbahn als Mittel der Stadterneuerung in ein Gesamtkonzept integriert wurde. Es war dann aber Straßburg vorbehalten, mit grandioser Konsequenz alle Elemente umzusetzen, die inzwischen als „Straßenbahn französischer Schule“ bezeichnet werden.

Rollende Gehsteige

Heute gleiten elegante Designerfahrzeuge mit riesigen Türen und Fenstern als rollende Gehsteige durch eine völlig transformierte Stadtlandschaft, mit angepasster Geschwindigkeit durch die Altstadt oder fast lautlos auf Grasflächen durch neu angelegte Alleen in die Vororte – Autoverkehr gibt es im zentralen Bereich kaum noch. Die durchfahrenen Stadtteile wurden zu einem „Territorium der Hochwertigkeit“ in bewusstem Gegensatz zu den billig hochgezogenen Shoppingmalls der Peripherie.

Nach dem beispiellosen Strassburger Erfolg begann eine „Tramway-Euphorie“, angetrieben ebenso vom Prestigedenken der Provinzstädte. Nun wetteiferten die Politiker um die schönsten Neugestaltungen, auch kleinere Städte wollten sich so profilieren. Eine Spezialität war die Anpassung der Fahrzeuge an die Umgebung: Die Züge der Champagnerstadt Reims haben ein „Gesicht“ in Form einer Sektflöte, durch Marseille gleiten elegante weiße „Boote“ in maritimem Design, Lyon als Stadt der Seidenspinnerei schickt sympathische weiße Raupen auf die Gleise. Unweit von Orleans liegt ein Zentrum der französischen Kosmetikindustrie, daher ließ man die Wagen vom Parfümeur Guerlain gestalten; Montpellier beauftragte den Modeschöpfer Christian Lacroix, der den Innenraum einer Wagenserie in der Farbwelt eines Korallenriffs entwarf: So werden die neuen Straßenbahnen Identifikationsobjekte der Bevölkerung, die auf „ihre Tramway“ stolz ist. Doch sind die Fahrzeuge nur ein Teil der städtebaulichen Symphonie: Die durchfahrenen Straßen und Plätze werden gesamtheitlich neu gestaltet, von Fassade zu Fassade, alle Elemente des Stadtraums von Designern und Architekten entworfen, oft begleiten moderne Kunstwerke die neuen Strecken.

Stadtbild vor Technik

Tours gelang bei dieser Entwicklung ein Höhepunkt: Dort sprach man während der Projektierung vom Konzept der „vierten Landschaft“ der Stadt – nach dem Fluss Loire, den Gärten und dem architektonischen Erbe überlagert nun die Straßenbahnlinie die bestehenden Strukturen. Bewusst wurde die Trasse als verbindendes Element aufgebaut, während die verchromten Seitenwände der Fahrzeuge die Stadt spiegeln. Die akustischen Elemente – Glocke und Stationsansagen – wurden von Louis Dandrel komponiert, der schon für die SNCF und andere Groß­firmen akustische Signets gestaltet hat; der Lichtkünstler Patrick Rimoux entwarf das nächtliche Erscheinungsbild der Bahn. Daniel Buren, von dem die gestreiften Säulen des Palais Royal in Paris stammen, gestaltete Stationselemente, große Flaggen und farbige Stelen, die die Trasse begleiten, und Roger Tallon die Straßenbahnzüge; er ist einer der führenden Designer Frankreichs und hat den TGV entworfen. Für das Stadtbild wird alles getan: Nicht nur in Tours verzichtet man inzwischen auf die Oberleitung, um den Blick auf die Stadt nicht zu beeinträchtigen. Stattdessen kommt der Strom von Bodenkontakten: Schönheit ist wichtiger als Technik, und man ist bereit, dafür Geld auszugeben.

Seit den 1990er-Jahren haben sich etwa 30 französische Städte mit ihrer Straßenbahn neu erfunden. Fast immer sind die neuen Netze auch ein wirtschaftlicher Erfolg: Vielerorts mussten die Straßenbahnzüge verlängert, Fahrzeuge nachbestellt werden; die neue Ringlinie an der Stadtgrenze von Paris war bereits nach wenigen Jahren eine der meistgenutzten Straßenbahnstrecken der Welt. Die durchfahrenen „Boulevards des Maréchaux“, früher Straßenzüge ähnlich dem Wiener Südgürtel, haben sich von einer Lärmhölle in einen zivilisierten grünen Stadtraum verwandelt. Während der „tapis vert“, der „grüne Teppich“, früher den Schlossparks der Monarchen vorbehalten war, wird er heute zu Ehren der Bürger ausgerollt: „Die Straßenbahn hat uns einen Park gebracht“ ist ein Zitat der Anrainer.

Die Erneuerung der französischen Metropolen ist zu einer Referenz für die Zukunft der Städte geworden, die weit über den rein technischen Aspekt von öffentlichen Verkehrsmitteln hinausgeht: Überall in Frankreich spürt man den Willen, die Menschen zu bezaubern, zu inspirieren, zu erfreuen. Das sind die wirklichen Werte, die Aufgaben der Stadt von morgen: den Menschen das Umfeld zu geben, in dem sie sich wieder wohlfühlen, in dem sie ihre Kreativität, Fantasie, Kraft und Liebe entfalten können.

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