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Wohnen in Atzgersdorf: Scheu vor den Nachbarn sollte man hier nicht haben
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Urbaner Nutzungsmix mit mediterranem Flair? Oder doch eine Betonwüste? Ein Wohnbau in Wien Atzgersdorf verbindet hohe Dichte mit abwechslungs­reicher Gestaltung. Reicht das?

4. November 2023 - Christian Kühn
Wohnen am Bach, mitten in Wien: Wahrscheinlich war das die Botschaft, die der Immobilienkonzern Buwog seinen Kunden mit dem Projektnamen „Rivus“, dem lateinischen Wort für „Bach“, vermitteln wollte. Inspiriert wurde der Name vom Liesingbach im 23. Wiener Gemeindebezirk, der zwar nicht unmittelbar, aber doch recht nah an dem Areal vorbeifließt, auf dem die Buwog über 800 Wohnungen und ergänzende Gewerbe- und Handelsflächen entwickelt hat.

Das Areal liegt in Atzgersdorf, an der stark befahrenen Breitenfurterstraße, die hier eine leichte Kurve macht. Die Nutzungen in der Umgebung reichen von Lagerhallen und ­Gewerbebetrieben über den großvolumigen Wohnbau bis zu Einfamilienhäusern, wobei die Zukunft tendenziell dem Wohnbau gehört. In einer ersten Bauphase entstanden acht würfelförmige Wohnhäuser mit rund 30 Meter Seitenlänge, ein Bautyp, der gern als „Stadtvilla“ bezeichnet wird. Im Schachbrett-Raster aufgestellt, erlauben sie eine hohe Bebauungsdichte, die allerdings damit erkauft wird, dass der öffentliche Raum zwischen den „Villen“ an den Ecken ausrinnt und oft zum Abstandsgrün verkommt.

Rasante Zunahme der Bodenversiegelung

Typologisch interessanter sind zwei von Lorenzateliers entworfene Baublöcke direkt an der Breitenfurterstraße, ein Wohnhaus mit Innenhof und Dachschwimmbad sowie ein Hybridgebäude mit mehreren übereinander gestapelten Nutzungen: ein Interspar-Markt mit Tiefgarage, darüber auf zwei Geschoßen eine Volksschule und Sportflächen auf dem Dach. Die Kombination von Schule und Supermarkt funktioniert gut, weil beide in der Regel ähnliche Einzugsbereiche haben und sich kaum stören. Angesichts der rasanten Zunahme der Bodenversiegelung sollte eine solche Stapelung zumindest im Stadtgebiet eine Selbstverständlichkeit sein. Auf der anderen Straßenseite zeigt ein Billa-Markt, wie es nicht sein sollte: eine große Asphaltfläche als Parkplatz mit einer in die Tiefe des Grundstücks versetzten Box. Mit etwas Fantasie kann man sich die Breitenfurterstraße als Boulevard vorstellen, allerdings erst, wenn diese unverantwortliche Art der Bodennutzung verschwunden ist.

Die letzte Bauetappe von Rivus wurde im Herbst 2022 fertiggestellt. Sie setzt die Bebauung an der Breitenfurterstraße auf einer Länge von rund 180 m und einer Breite von 60 m fort und bietet Platz für 290 Wohnungen und 2400 m² Geschäftsflächen. Letztere orientieren sich einerseits zur Breitenfurterstraße und andererseits zu einem öffentlichen Platz, an dem auch der Zugang zum Interspar-Markt liegt. Ursprünglich war das gesamte Areal als Einkaufszentrum gewidmet, auf dem ein innovativer Baumarkt mit Schwerpunkt „Urban Gardening“ geplant war. Als der Marktbetreiber aus dem Projekt ausstieg, entschloss sich die Buwog, auch hier frei finanzierte Mietwohnungen zu errichten. Die neue Bebauung unterscheidet sich radikal von den benachbarten Stadtvillen. Statt frei stehende Baukörper auf die grüne Wiese zu stellen, haben PPAG architects sieben Häuser zu einer feingliedrigen Struktur verschmolzen, in der die untersten Geschoße einen künstlichen Hügel bilden, in dem Garage, Kellerräume, Lager, Technik und Müllräume verschwinden. Darüber entwickeln sich auf unterschiedlichen Ebenen Platzfolgen, die als halb öffentliche Räume auch Besucher von außen einladen. Auf der Ebene des zweiten Obergeschoßes sind all diese Plätze miteinander verbunden.

PPAG haben auf die Gestaltung der Freiräume gleich viel Wert gelegt wie auf die Gestaltung der Gebäude. Das bedeutet, Freiraumplanung in der dritten Dimension zu betreiben und nicht als zweidimensionale Oberflächenkosmetik. Das erfordert Planungsstrategien, mit denen Stockwerk für Stockwerk eine Balance zwischen der inneren Qualität der Wohnungen und der Qualität der Lufträume, die sie erzeugen, gefunden werden muss. PPAG haben für diese doppelte Gestaltung eine Grammatik entwickelt, deren Ergebnis in zahlreichen Arbeitsmodellen kontrolliert wurde, bis eine räumlich befriedigende Lösung gefunden war. Besonders berücksichtigt haben PPAG das Thema der sommerlichen Überwärmung, indem auch schattige Freiräume geplant wurden.

Fensterläden, die den Wiener an Urlaub erinnern dürften

Die so entstandene Atmosphäre hat Ähnlichkeiten mit mediterranen, kleinteiligen Stadträumen, und PPAG bedienen diese Assoziation mit Fensterläden, die den Wiener an Urlaub erinnern dürften. Grün sind diese Höfe – so wie ihre mediterranen Vorbilder – nur bedingt: Der Garagensockel lässt nur wenige große Bäume zu. Pflanztröge, Hoch­beete und extensiv begrünte Dächer beleben die Außenräume, in die auch zahlreiche großzügig bemessene Balkone ragen. Scheu vor den Nachbarn sollte man hier nicht haben. Laut Homepage der Buwog sind 80 Prozent der Wohnungen vermietet, zu Nettomieten von knapp zwölf Euro, was inklusive Betriebskosten und Steuern für eine Wohnung von 52 m² brutto 830 Euro ergibt.

Die Begeisterung für das mediterrane Flair der Höfe wird nicht allgemein geteilt. Als „Der Standard“ im vergangenen Frühjahr ausführlich und sehr positiv über das Projekt berichtete, hagelte es Postings, die von einer „grauenhafte Betonwüste“ und vom „Verbrechen“ sprachen, „angesichts des aktuellen Wissenstands noch so zu bauen“. Man möge sich „endlich wieder die alten Bauten ansehen, angefangen vom Karl-Marx-Hof, mit Wiesen und Bäumen!“

Was wäre die Alternative in einer wachsenden Stadt? Doch Wohnen im Hochhaus? Alt Erlaa, dessen Terrassenhochhäuser ganz in der Nähe liegen, lässt grüßen. Oder sollte man vielleicht den Rahmen der Kritik ins Städtebauliche erweitern? „Ein neuer Stadtteilpark ist für die Freiraumversorgung der bestehenden und neuen Stadtteile in Atzgersdorf unablässig“, liest man in einem Strategieplan für den 23. Bezirk aus dem Jahr 2015. In diesem Fall hat die Stadt ihre Versprechen gehalten: Im Mai dieses Jahres wurde der Stadtteilpark Atzgersdorf mit 2,7 Hektar eröffnet, vom Rivus-Projekt aus gut in 700 m Distanz erreichbar. Ein weiterer Park mit drei Hektar wird unmittelbar gegenüber vom Rivus-Projekt entstehen. Das Konzept, hohe großstädtische Dichte abwechslungsreich zu gestalten und mit wohnungsnahen Parkanlagen zu verbinden, hat jedenfalls Zukunft und kann vielleicht auch Kritiker überzeugen.

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