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Ornament und Zukunft
In Taschkent kombinierten sowjetische Architekten die Moderne mit Elementen aus der traditionellen Architektur zu einem zentralasiatischen Futurismus. Jetzt werden die Bauten jener Zeit wiederentdeckt. Ein Reisebericht aus Usbekistan.
4. November 2023 - Maik Novotny
Ein dunkles Rechteck in den hellen Fliesen markiert die Stelle, wo er stand: Wladimir Iljitsch Lenin, sechs Meter hoch. Heute ist die riesige Halle leer, aber immer noch aufgeladen mit quasireligiöser Bedeutsamkeit, auch wenn die Statue längst entsorgt wurde. 1970 wurde das Lenin-Museum in Taschkent, Hauptstadt der usbekischen Sowjetrepublik, eröffnet. Bald sollte jede Republik eines haben, doch dieses hier sei besonders, sagt Farkhod Rikhsiev, Professor für Architektur an der Ajou University Taschkent. „:innen ein geschlossenes Atrium und außen eine luftige Fassade, das sind Elemente der traditionellen Architektur in Usbekistan.“
Schaufenster des Orients
Das ist kein Zufall, denn die damaligen Architekten Jewgeni Rozanow und Wsewolod Schestopalow ließen sich von den Panjaras inspirieren, den verzierten Gittern, die im heißen Wüstenklima als Sonnenschutz fungieren. Nur eben in zeitgenössischem Fertigteilbeton, dem sie eine erstaunliche Filigranität abluchsten. „Bei Nacht strahlt das Innere durch dieses Gitter wie eine festliche Laterne“, sagt Rikhsiev. Es ist nicht die einzige erstaunliche Symbiose aus Moderne und Bautradition in der 2,4-Millionen-Einwohner-Stadt. Auch die Fassade des 17-stöckigen Hotel Uzbekistan (1974) erinnert an eine Panjara, monumental und zart zugleich.
Warum spazieren dutzende Architektinnen, Architekturforscher und Journalisten an diesen warmen Oktobertagen durch die usbekische Hauptstadt? Es ist ein Testlauf auf künftigen Touristenrouten. Das hofft zumindest die 2017 vom Staat gegründete Art and Culture Development Foundation (ACDF), die sich dem Kulturtransfer zwischen Usbekistan und der Welt widmet. Während historische Städte wie Samarkand und Buchara längst Touristenmagneten sind, wird Taschkent meist nur als Transferstation genutzt.
Denn dessen Altstadt wurde 1966 durch ein Erdbeben stark beschädigt, was ehrgeizige Planer zum Anlass nahmen, auch die Reste zu beseitigen und ihre großen Visionen zu realisieren: breite Straßen, riesige Plätze, Prestigebauten für das „Schaufenster des sowjetischen Orients“ – dies war die Rolle, die man in Moskau der damals viertgrößten Stadt der UdSSR zugeteilt hatte. Das schnelle und multikulturelle Bevölkerungswachstum Taschkents nach 1966 stärkte diese Position als Knotenpunkt der Weltregionen noch.
Heute gehört die Ära der Sowjetmoderne (der das Architekturzentrum Wien 2012 schon eine vielbesuchte Schau widmete) zum Kulturgut, und die relativ kleine usbekische SSR hat hier einiges beigetragen: der bombastische Palast der Volksfreundschaft von 1981, der hektargroße Flächen aus tiefblauer Keramik und wie KI-generiert wirkende traubenförmige weiße Kronleuchter in einem Kubus aus zipfeligem Beton unterbringt. Die beiden mosaikverzierten Ufo-Scheiben von Zirkus und Basar. Die Kinos, die Museen, die Restaurants, Kaufhäuser und Theater.
Jenseits aller Typologien
„Wir wollen Taschkent wieder zur Kulturdestination machen“, sagte Gayane Umerowa vom ACDF bei der Eröffnung der dreitägigen internationalen Konferenz „Where in the world is Tashkent?“. Für 2024 plant man eine Buchpublikation, eine Ausstellung am Schweizer Architekturmuseum in Basel und nicht zuletzt die Bewerbung als Unesco-Weltkulturerbe.
Ein Team um die Forscher des Politecnico di Milano, die Architekturbüros Grace und Laborio Permanente, der Fotograf Armin Linke sowie der in Usbekistan geborene Architekturhistoriker Boris Chukhowitsch erstellten ein Inventar aus 40 Bauwerken, von denen 23 als besonders schützenswert ausgewählt wurden. „Nach 1966 war Taschkent so etwas wie das Experimentierlabor in Zentralasien“, sagt Architektin Ekaterina Golowjatuk von Grace. „In der UdSSR gab es besondere Bautypen, die in vielen Städten reproduziert wurden. Haus der Jugend, Hochzeitspalast, Basar, Zirkus, Lenin-Museum. Dabei kam es aber immer wieder zu regionalen Abwandlungen.“ Auch Einzigartiges jenseits aller Typologien, wie die 1987 eröffnete Heliocomplex-Anlage in den Bergen außerhalb Taschkents, die durch die Bündelung von Sonnenstrahlen Temperaturen von 3000 Grad erzeugt und wie die Zentrale eines Bond-Bösewichts futuristisch auf den Felsen thront.
Aber auch ganz gewöhnliche sozialistische Wohnblocks wurden von ambitionierten Architekten orientalisiert, mit farbenfrohen Mosaiken an den Stirnseiten und fast schon postmodern verspielten Fensterformen, weit jenseits des Klischees vom banalen Plattenbau.
Erst recht meilenweit von der Serienproduktion entfernt geriet das 16-geschoßige Wohnhochhaus Zhemchug (1979–85), dessen durchsetzungsstarke Architektin Ophelia Aydinowa sich dem Fertigteildiktat verweigerte und eine organisch-runde Formen realisierte. Auch sie fusionierte das vernakuläre Bauen mit der Zukunft. Sie stapelte die Mahallas, die privaten Wohnhöfe der niedrigen Altstädte, konzeptionell in die Höhe: Jeweils drei Wohngeschoße orientieren sich zu einem Innenhof hoch über den Dächern der Stadt. Hier spielen Kinder Fußball, hier hängt die Wäsche von den Leinen, und inzwischen haben die Bewohner die Fronten ihrer Wohnungen mit kreativem Eigensinn ausgestaltet, als wären es tatsächlich Einfamilienhäuser. Ein wilder Individualismus, der die Architektur keineswegs stört. Ein Wohnhochhaus ganz ohne Anonymität: Daran arbeiten sich heute wieder weltweit die Architekten ab. Aydinowa war ihrer Zeit weit voraus.
Metro zum Weltraum
Zum Schluss taucht unser Spaziergang ab in den Untergrund, denn auch hier warten Prestigebauten. Die Stationen der Metro Taschkent, der ersten in Zentralasien, wurden mit großem Aufwand ausgestaltet. Besonders far out: die Station Kosmonavtlar (1984). Ein weißes Leuchtenband in der Mitte evoziert die Milchstraße, an den Wänden winken Juri Gagarin und seine kosmischen Kollegen aus runden Bildern wie durch die Bullaugen eines Raumschiffs. Die von Blau zu Weiß changierenden Keramikwände sollten laut Architekt Sergo Sutjagin das Auflösen in die Endlosigkeit des Weltraums evozieren. Ornament und Zukunft, vereint in gebranntem Stein.
Hinweis: Die Reise nach Taschkent erfolgte auf Einladung der ACDF.
Schaufenster des Orients
Das ist kein Zufall, denn die damaligen Architekten Jewgeni Rozanow und Wsewolod Schestopalow ließen sich von den Panjaras inspirieren, den verzierten Gittern, die im heißen Wüstenklima als Sonnenschutz fungieren. Nur eben in zeitgenössischem Fertigteilbeton, dem sie eine erstaunliche Filigranität abluchsten. „Bei Nacht strahlt das Innere durch dieses Gitter wie eine festliche Laterne“, sagt Rikhsiev. Es ist nicht die einzige erstaunliche Symbiose aus Moderne und Bautradition in der 2,4-Millionen-Einwohner-Stadt. Auch die Fassade des 17-stöckigen Hotel Uzbekistan (1974) erinnert an eine Panjara, monumental und zart zugleich.
Warum spazieren dutzende Architektinnen, Architekturforscher und Journalisten an diesen warmen Oktobertagen durch die usbekische Hauptstadt? Es ist ein Testlauf auf künftigen Touristenrouten. Das hofft zumindest die 2017 vom Staat gegründete Art and Culture Development Foundation (ACDF), die sich dem Kulturtransfer zwischen Usbekistan und der Welt widmet. Während historische Städte wie Samarkand und Buchara längst Touristenmagneten sind, wird Taschkent meist nur als Transferstation genutzt.
Denn dessen Altstadt wurde 1966 durch ein Erdbeben stark beschädigt, was ehrgeizige Planer zum Anlass nahmen, auch die Reste zu beseitigen und ihre großen Visionen zu realisieren: breite Straßen, riesige Plätze, Prestigebauten für das „Schaufenster des sowjetischen Orients“ – dies war die Rolle, die man in Moskau der damals viertgrößten Stadt der UdSSR zugeteilt hatte. Das schnelle und multikulturelle Bevölkerungswachstum Taschkents nach 1966 stärkte diese Position als Knotenpunkt der Weltregionen noch.
Heute gehört die Ära der Sowjetmoderne (der das Architekturzentrum Wien 2012 schon eine vielbesuchte Schau widmete) zum Kulturgut, und die relativ kleine usbekische SSR hat hier einiges beigetragen: der bombastische Palast der Volksfreundschaft von 1981, der hektargroße Flächen aus tiefblauer Keramik und wie KI-generiert wirkende traubenförmige weiße Kronleuchter in einem Kubus aus zipfeligem Beton unterbringt. Die beiden mosaikverzierten Ufo-Scheiben von Zirkus und Basar. Die Kinos, die Museen, die Restaurants, Kaufhäuser und Theater.
Jenseits aller Typologien
„Wir wollen Taschkent wieder zur Kulturdestination machen“, sagte Gayane Umerowa vom ACDF bei der Eröffnung der dreitägigen internationalen Konferenz „Where in the world is Tashkent?“. Für 2024 plant man eine Buchpublikation, eine Ausstellung am Schweizer Architekturmuseum in Basel und nicht zuletzt die Bewerbung als Unesco-Weltkulturerbe.
Ein Team um die Forscher des Politecnico di Milano, die Architekturbüros Grace und Laborio Permanente, der Fotograf Armin Linke sowie der in Usbekistan geborene Architekturhistoriker Boris Chukhowitsch erstellten ein Inventar aus 40 Bauwerken, von denen 23 als besonders schützenswert ausgewählt wurden. „Nach 1966 war Taschkent so etwas wie das Experimentierlabor in Zentralasien“, sagt Architektin Ekaterina Golowjatuk von Grace. „In der UdSSR gab es besondere Bautypen, die in vielen Städten reproduziert wurden. Haus der Jugend, Hochzeitspalast, Basar, Zirkus, Lenin-Museum. Dabei kam es aber immer wieder zu regionalen Abwandlungen.“ Auch Einzigartiges jenseits aller Typologien, wie die 1987 eröffnete Heliocomplex-Anlage in den Bergen außerhalb Taschkents, die durch die Bündelung von Sonnenstrahlen Temperaturen von 3000 Grad erzeugt und wie die Zentrale eines Bond-Bösewichts futuristisch auf den Felsen thront.
Aber auch ganz gewöhnliche sozialistische Wohnblocks wurden von ambitionierten Architekten orientalisiert, mit farbenfrohen Mosaiken an den Stirnseiten und fast schon postmodern verspielten Fensterformen, weit jenseits des Klischees vom banalen Plattenbau.
Erst recht meilenweit von der Serienproduktion entfernt geriet das 16-geschoßige Wohnhochhaus Zhemchug (1979–85), dessen durchsetzungsstarke Architektin Ophelia Aydinowa sich dem Fertigteildiktat verweigerte und eine organisch-runde Formen realisierte. Auch sie fusionierte das vernakuläre Bauen mit der Zukunft. Sie stapelte die Mahallas, die privaten Wohnhöfe der niedrigen Altstädte, konzeptionell in die Höhe: Jeweils drei Wohngeschoße orientieren sich zu einem Innenhof hoch über den Dächern der Stadt. Hier spielen Kinder Fußball, hier hängt die Wäsche von den Leinen, und inzwischen haben die Bewohner die Fronten ihrer Wohnungen mit kreativem Eigensinn ausgestaltet, als wären es tatsächlich Einfamilienhäuser. Ein wilder Individualismus, der die Architektur keineswegs stört. Ein Wohnhochhaus ganz ohne Anonymität: Daran arbeiten sich heute wieder weltweit die Architekten ab. Aydinowa war ihrer Zeit weit voraus.
Metro zum Weltraum
Zum Schluss taucht unser Spaziergang ab in den Untergrund, denn auch hier warten Prestigebauten. Die Stationen der Metro Taschkent, der ersten in Zentralasien, wurden mit großem Aufwand ausgestaltet. Besonders far out: die Station Kosmonavtlar (1984). Ein weißes Leuchtenband in der Mitte evoziert die Milchstraße, an den Wänden winken Juri Gagarin und seine kosmischen Kollegen aus runden Bildern wie durch die Bullaugen eines Raumschiffs. Die von Blau zu Weiß changierenden Keramikwände sollten laut Architekt Sergo Sutjagin das Auflösen in die Endlosigkeit des Weltraums evozieren. Ornament und Zukunft, vereint in gebranntem Stein.
Hinweis: Die Reise nach Taschkent erfolgte auf Einladung der ACDF.
Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard
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