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Mehr (schönen) Platz für Fußgänger
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Was nützen optimierte Ampelphasen, Barrierefreiheit und breitere Gehsteige, wenn der öffentliche Raum per se unattraktiv ist? Straßenzüge sind verödet, es fehlt an schattenspendenden Bäumen und unversiegelten Flächen, auf denen Fußgänger rasten können.

5. Januar 2024 - Christian Kühn
Wien wächst rasant. Von 2012 bis 2021 betrug das Bevölkerungswachstum im Schnitt 21.500 Personen pro Jahr. Der öffentliche Raum wird dabei zu einer umkämpften Ressource. Er ist Teil des Verkehrssystems, aber zugleich ein Raum zum Flanieren, ein öffentliches Wohnzimmer im Freien und mit seinen Gärten, Parks und städtischen Landschaftsräumen ein Ort, der uns das Paradies in Erinnerung rufen kann. In Wien wurden nach Erhebung der Wiener Linien im Jahr 2022 26 Prozent aller Wege mit dem Pkw, 35 Prozent zu Fuß und 30 Prozent mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zurückgelegt. Die restlichen ­Prozent entfallen auf den Fahrradverkehr. Bemerkenswert ist, dass der Anteil des Fußgängerverkehrs seit 2019 um neun Prozentpunkte gewachsen ist.

Das sind im internationalen Vergleich gute Werte, auch wenn Städte wie Amsterdam beweisen, dass ein Anteil des Fahrrads von 50 Prozent möglich ist. Dieser Wert geht dort jedoch nicht auf Kosten des Pkw, dessen Anteil etwa gleich hoch ist wie in Wien, sondern auf Kosten des öffentlichen Verkehrs. In Wien sollte das Bevölkerungswachstum durch den Ausbau des öffentlichen Verkehrs in neue Stadterweiterungsgebiete und durch eine Erhöhung des Rad- und Fußgängeranteils auf Kosten des Pkw bewältigbar sein. Der aktuelle Stadtentwicklungsplan sieht vor, dass 2025 nur noch 20 Prozent aller Wege mit dem Auto zurückgelegt werden.

Auch ein Beitrag zum Klimaschutz

Noch ist Wien aber eine Stadt, deren öffentlicher Raum vom Pkw dominiert wird. Um das zu ändern, betreibt die Stadt Wien seit 2011 eine Mobilitätsagentur zur Förderung des Radverkehrs, in die seit 2013 auch der „Fußverkehr“ inkludiert ist. Dieser Begriff klingt seltsam, als wären da isolierte Füße unterwegs, die man vom Körper abmontieren könnte. Das Zu-Fuß-Gehen unterscheidet sich aber von den anderen Fortbewegungsformen gerade dadurch, dass alle Sinne am Gehen beteiligt sind. Pkw-Fahrer sind in ihrer Konserve eingeschlossen und körperlich kaum an der Bewegung beteiligt; Fahrradfahrer müssen vor allem in der Stadt den Großteil ihrer Aufmerksamkeit aus blankem Überlebenswillen ihrer unmittelbaren Umgebung widmen. Nur Fußgänger haben zumindest die Chance, den öffentlich Raum aufmerksam zu erfassen und zu genießen. Daher sollte die Perspektive der Fußgänger jene sein, mit der sich Stadtplanung und Stadtgestaltung am intensivsten befassen. In der Konkurrenz um Raum und Geld musste sich der Fußgängerverkehr aber bis vor wenigen Jahren ganz hinten anstellen.

Im Jahr 2014 legte die Mobilitätsagentur ein „Strategiepapier Fußverkehr“ vor, das ganzheitlich an das Thema heranging, nämlich sowohl von der Verkehrsplanung wie von der Stadtgestaltung her. Was nützen optimierte Ampelphasen, Barrierefreiheit und breitere Gehsteige, wenn der öffentliche Raum per se unattraktiv ist? Daher forderte das Papier nicht nur eine technische Infrastrukturentwicklung, sondern auch eine „ästhetische Gestaltung“, die Platz für „Individualität und Originalität“ lassen und den öffentlichen Raum als „Wohnzimmer der Stadt“ etablieren sollte. Schließlich betrachtete das Papier das Thema auch als einen Bereich, in dem Wien international Aufmerksamkeit erzielen könnte. Seit 2021 fördert der Bund im Weg der Klima:aktiv-Mobilitätsförderung auch Maßnahmen zur Verbesserung des Fußgängerverkehrs.

Das ist logisch: Jeder Weg, der sich aufs Gehen verlagert, ist ein Beitrag zum Klimaschutz. Voraussetzung für eine Förderung ist das Vorhandensein eines „Masterplans Gehen“ für die jeweilige Gemeinde beziehungsweise in Wien für den Bezirk. Diese Förderung hat eine überraschende Eigendynamik entwickelt. Im Jahr 2023 wurden 21 Millionen Euro investiert, wobei die Stadt Wien zusätzlich zu den Bundesmitteln eine Finanzierung aus dem Programm „Lebenswerte Klimamusterstadt“ beigesteuert hat. Für zehn Bezirke liegen inzwischen Pläne vor, die im Auftrag des Bezirks erstellt wurden. Einen systematischen Zusammenhang mit anderen Strategiepapieren der Stadt, wie den Fachkonzepten des Stadtentwicklungsplans für Grün- und Freiraumplanung oder dem Klimafahrplan, ist nicht unmittelbar zu erkennen, aber durch die Einbindung der Magistratsabteilung für Stadtentwicklung und Stadtplanung in den Prozess gegeben.

Traurig ist es um die Fußgängerwelt bestellt

Für zehn Wiener Bezirke liegen derzeit Masterpläne vor, sechs weitere werden heuer folgen. Sie enthalten jeweils eine Defizitanalyse, die zeigt, wie traurig es vielfach um die Fußgängerwelt bestellt ist: Müllcontainer blockieren Gehsteige, Straßenzüge sind verödet, es fehlt an schattenspendenden Bäumen und unversiegelten Flächen, auf denen Fußgänger rasten können. Es gibt Nutzungskonflikte zwischen Mobilitätsformen, aber auch zwischen Generationen und Kulturen. Bei den Maßnahmen geht es entsprechend um eine fairere Verteilung des öffentlichen Raums zu Lasten des Pkw, also breitere Gehsteige und Vorplätze, etwa vor Schulen. Im Sinne einer Stadt der kurzen Wege, die im Idealfall alle alltäglichen Dienstleistungen im Umkreis von 15 Gehminuten anbietet, untersuchen die Masterpläne auch mögliche Durchgänge und Passagen zur Vermeidung von Umwegen. Ästhetische Fragen, etwa bezüglich Stadtmöblierung und Beleuchtung, kommen in den Masterplänen – anders als im „Strategiepapier Fußverkehr“ – nur am Rande vor. Das liegt möglicherweise daran, dass es für diese Themen eigene Papiere gibt, wie etwa die „Sitzfibel“ der Magistratsabteilung für Architektur und Stadtgestaltung.

Streitfall Michaelerplatz

Schade ist, dass für den ersten Bezirk kein „Masterplan Gehen“ existiert. Dort würde man Auskunft über einen aktuellen Streitfall der Stadtplanung erhalten, nämlich den ­Michaelerplatz. Aus Fußgängerperspektive kann man die Forderung nach Bäumen auf diesem Platz gut nachvollziehen. Wie ihr nach dem aktuellen Entwurf entsprochen werden soll, ist leider für eine Weltstadt beschämend. Ein Wasserspiel vor dem Loos-Haus, drei Bäumchen vor der Michaelerkirche, drei weitere neben dem Hollein-Graben, der seit Kurzem unter Denkmalschutz steht, und Pflanztröge mit eingebauter Terror-Abwehr. Dieses Klein-klein ist lächerlich und ruiniert den Dialog zwischen dem Loos-Haus und dem Portal der Michaelerkirche, von der Loos erklärte, dass zwischen ihr und seinem Haus „stilistisch kein großer Unterschied ist“.

Hermann Czech hat kürzlich in einem Vortrag über Fischer von Erlach einen Hinweis für eine Alternative gegeben: Im Bath Circus in England stehen in der Mitte einer kreisrunden, klassizistischen Bebauung aus dem 18. Jahrhundert sechs mächtige Platanen. Noch ist es nicht zu spät auch am Michaelerplatz nach einer kraftvollen Lösung ohne Wasserspiele und sonstigen Firlefanz zu suchen, die der Würde und Bedeutung dieses Platzes gerecht wird und gleichzeitig auf neue Bedingungen und Bedürfnisse der Stadtbewohner eingeht.

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