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Der Atem des Architekten
Der Standard

In den letzten Jahren hat sich das Werk des indischen Architekten Bijoy Jain, Gründer des Studio Mumbai, ziemlich verändert. Sein radikaler Wandel, der nun in der Fondation Cartier in Paris dokumentiert ist, gibt uns zu denken.

13. Januar 2024 - Wojciech Czaja
Es riecht nach Holz, nach Schilf, nach feuchtem Lehm, nach staubigem, frisch geschliffenem Stein wie in einem Steinbruch, vor allem aber steigt in der ersten Sekunde schon, kaum hat sich die Türe geöffnet, ein bissig saurer Duft in die Nase auf, als hätte der Bauer mit dem Gülletraktor eben erst die Felder gedüngt.

„Ach, das! Das ist nichts, das hat sich ja schon alles verflüchtigt“, sagt eine Aufseherin. „Sie hätten beim Ausstellungsaufbau dabei sein sollen!“ Und ja, wenig später wird sich herausgestellt haben, dass Bijoy Jain, Exponent und Kurator seiner eigenen Ausstellung in Personalunion, ein größeres Material-Œuvre verwendet hat, als man in mitteleuropäischen Gefilden gewöhnt ist.

„Kuhdung ist da, er ist allgegenwärtig, und er ist zu tausenden Tonnen verfügbar“, sagt Jain im Gespräch mit dem ΔTANDARD. „Warum also sollten wir darauf nicht zurückgreifen?“ In Indien, meint der 59-Jährige, der 2005 sein eigenes, mittlerweile weltberühmtes Büro Studio Mumbai gegründet hat und mit seinem Team seitdem so schöne Wohn- und Kulturbauten geplant hat, dass es einem den Atem verschlägt, habe sich Kuhdung nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der Architektur als wertvolles Nutzmaterial herausgestellt. Meist werden damit – mit einer Mischung aus Kuhdung und Strohhäcksel, um genau zu sein – Erdböden und Lehmwände versiegelt.

Rümpfende Nasen

Und genau das habe er auch hier gemacht, sagt er, in der gläsernen, luftig leichten Fondation Cartier in Paris, 1994 nach Plänen von Jean Nouvel errichtet, Boulevard Raspail, 14. Arrondissement. Auf dem hellen Terrazzo im Parterre, wo sonst minimalistische, am Kunstmarkt hoch gehandelte Bilder, Skulpturen, Installationen zu sehen sind, liegt nun, in Kübeln aus der Provinz herbeigekarrt und in einer zwei Millimeter dicken Schicht aufgetragen, ein Stück landwirtschaftlicher Realität. Bei der Pressekonferenz, zu der die Fondation Cartier im Dezember eingeladen hat, stieß – rümpfende Nasen im wahrsten Sinne – Kunstschickeria auf Stoffwechselendstation, ein köstliches Bild.

„Ich werde häufig gefragt, warum ich mit diesen simplen, primitiven Materialien arbeite“, sagt Jain. „Allein die Frage ist schon falsch formuliert. Erstens sind diese Stoffe weder simpel noch primitiv, sondern von hochintelligenter Beschaffenheit, wir haben lediglich verlernt, die Potenziale zu nutzen. Und zweitens sind dies keine Materialien, sondern Medien, um meiner Arbeit physische Manifestation zu verleihen.“ Das eigentliche Material seiner Arbeit, sagt er, seien Licht, Luft, Liebe, Sonne, Wasser, Leben, Schwerkraft und der eigene, unentwegte, niemals pausierende Atem. Daher auch der immaterielle, auffällig spirituelle Titel der Ausstellung: Breath of an Architect.
Lehm, Holz und Stein

Waren auf der Architektur-Biennale 2016 in Venedig, als Bijoy Jain erstmals einem breiteren europäischen Publikum präsentiert wurde, noch Baustoffe, Werkzeuge, Arbeitsmodelle und konkrete, realisierte Projekte zu sehen, so formiert sich die aktuelle Ausstellung in der Fondation Cartier vor allem aus Fragmenten aus Lehm, Holz und Stein sowie aus teils behauenen, teils collagierten, teils aufwendig geflochtenen Skulpturen. Zu sehen ist beispielsweise eine ganze Armada an steinernen Tieren, zu Dutzenden durch den Saal marschierend, angesiedelt zwischen Hinduismus und alttestamentarischer Arche Noah, die nach dem bildhauerischen Prozess in ein milchig weißes Kaolinbad getaucht wurden. Die Tierchen weisen wunderschöne Physiognomien auf, keine Frage, man ist ganz verzückt.

Ob es sich bei den ausgestellten Exponaten um Kunst oder um Architektur handle? „Diese Frage ist banal und langweilt mich ungemein“, sagt ein sichtlich entnervter Bijoy Jain. „Es geht um die Schönheit des Lebens. Es ist alles miteinander verbunden, die Dinge entstammen alle ein und derselben Quelle, ob Kunst oder Architektur, ob drinnen oder draußen, ob du oder ich. Ich möchte aufzeigen, wer wir sind und woher wir kommen. Letztendlich sind wir alle auf den Atem zurückzuführen. Atem ist das, was uns verbindet. Atem ist überall.“

Je fortgeschrittener das Gespräch, desto größer die Missverständnisse zwischen Interviewer und Interviewtem. Noch spiritueller als in der Fondation Cartier und in der bilateralen Annäherung präsentiert sich Jain im knapp 100-minütigen Dokumentarfilm The Sense of Tuning, den die beiden Filmemacher Ila Bêka und Louise Lemoine anlässlich der Ausstellung gedreht und in dem sie den Architekten einen Tag durch Mumbai begleitet haben – nicht nur bei seiner Arbeit, sondern auch beim Meditieren, beim Ausführen der Hunde, beim Philosophieren über religiöse Rituale.

„Ich will Architektur für die Sinne machen“, sagt er in der 55. Minute. „Und zwar nicht nur für die fünf Sinne, die wir schon kennen, sondern auch für den sechsten Sinn, der in Zukunft eine noch viel wichtigere Rolle spielen wird als heute – für die Intuition. Denn neben dem Schauen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken ist dies genau das, wie wir uns den Raum erarbeiten – in intuitiven Gedanken. Erst diese Intuition ermöglicht Präsenz.“ Hilfe!

Fassungslosigkeit

Ausstellung und Film bieten einen sehr intimen, sehr künstlerischen, sehr berührenden Einblick in das Leben eines Architekten, der in den letzten Jahren, seit seiner internationalen Erstentdeckung auf der Biennale in Venedig, eine sichtlich große Reise unternommen hat – von einem sensiblen, bauenden, das Handwerk liebenden Architekten zu einem atmenden, von alltäglichen Zwängen befreiten Künstler, fast schon Guru, der sich jedem Konkretisierungsversuch geschickt zu entziehen weiß.

Letztendlich liegt es an uns selbst, wie wir diese buchstäbliche Fassungslosigkeit Bijoy Jains interpretieren. Möglichkeiten gibt es viele. Eine davon ist, seine Position als planetaren Hilfeschrei zu verstehen und zu erkennen, wie wir unsere Baukultur, wie wir unsere Ressourcen, wie wir unseren eigenen Daseinsraum mit einer immer globaleren, immer mehr um sich wütenden Bauindustrie zugrunde richten.

„Es geht um das Bauen im Einklang mit der Natur und den Ressourcen, die uns die Erde zur Verfügung stellt, und nicht um das Ausbeuten“, sagt Bijoy Jain am Ende. „Wir haben verlernt zu atmen, und nun nehmen wir auch der Erde ihren Atem weg. I think it’s time to rest.“

Die Reise nach Paris erfolgte auf Einladung der Fondation Cartier. Die Ausstellung „Breath of an Architect“ ist noch bis 21. April 2024 zu sehen. Empfehlung Buchpublikation: „Le souffle de l’architecte“, Dokumentarfilm „The Sense of Tuning“ von Bêka Lemoine.

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