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Wiener Nordbahnhofareal: Was für eine Stadt wird das?
Spectrum

Gemäß dem Slogan „Freie Mitte und vielseitiger Rand“ wird auf dem Wiener Nordbahnhofgelände der zentrale Grünraum als Stadtwildnis frei gehalten und die Randzone verdichtet. Die Umsetzung stellt sich komplexer dar als gedacht.

5. Februar 2024 - Christian Kühn
Plötzlich ist sie da, die Zukunft. Vor 15 Jahren war die Bruno-Marek-Allee nicht mehr als zwei Striche auf einem Plan für die Bebauung des ehemaligen Nordbahnhofgeländes. Der Plan von 1992 ging auf ein städtebauliches Leitbild zurück, das Heinz Tesar und Boris Podrecca entworfen hatten. Es sah eine Blockrandbebauung vor, die an den bereits bestehenden großvolumigen Bürobauten in der Lasallestraße Maß nimmt und im Zentrum einen 200 mal 200 Meter großen Park ausspart, den heutigen Rudolf-Bednar-Park.

Auf dem Areal rundherum entstand eine Struktur, die mit dem Begriff „Blockrandbebauung“ nicht ganz korrekt bezeichnet ist. Die Straßen folgen zwar einem orthogonalen Raster, aber für die Bebauung haben sich bis auf wenige Ausnahmen jene Bautypen durchgesetzt, die Wiens Bauträger am liebsten haben: Zeilen und kompakte frei stehende Punkthäuser mit Abstandsgrün und der Aussicht auf maximale Rendite.

Mehr Grün bedeutet Kosten sparen

Es war nicht überraschend, dass die Stadt Wien für das restliche Nordbahnhofareal einen neuerlichen Wettbewerb ausschreiben ließ, bei dem eine Fortsetzung der Blockrandstruktur nicht zwingend vorgeschrieben war. Das Konzept des Siegerprojekts von Bernd Vlay und Lina Streeruwitz lässt sich in einen einfachen Slogan gießen: „Freie Mitte und vielseitiger Rand“. Es sieht vor, die Mittelzone des Areals als „Stadtwildnis“ frei zu halten und dafür die Randzone stark zu verdichten.

In der Gegenüberstellung mit dem Blockraster ist die Idee unmittelbar überzeugend: Es entsteht ein sehr großer zusammenhängender Grünraum, der mit weniger Erschließung auskommt, was Kosten für teure Straßen einspart. Und weil die Häuser in die Höhe wachsen, reduziert sich – bei gleichbleibendem Volumen – das Ausmaß der schwer vermietbaren Erdgeschoßzonen, die gleichzeitig durch die Verdichtung von einer höheren Frequenz profitieren.

Hauptschlagader des Areals

In der Umsetzung stellt sich die Idee komplexer dar. Die hohe Dichte am Rand bedingt Gebäudehöhen, die wegen zusätzlicher bautechnischer Auflagen teurer kommen. Grundeigentümer können damit ein Argument finden, noch ein paar einträgliche Geschoße auf ihr Projekt aufstocken zu lassen, wodurch sich die Dichte weiter erhöht.

Schwierig zu lösen ist auch die Frage, wer für die Pflege des in dieser Dimension nicht geplanten zentralen Freiraums zuständig ist. Im konkreten Fall verfolgten die Architekten gemeinsam mit den französischen Landschaftsplanern Agence Ter den Ansatz, die freie Mitte zur pflegeleichten Stadtwildnis zu erklären, die weiterhin den romantischen Charme des aufgelassenen Bahnhofsareals verströmen soll.

Die Bruno-Marek-Allee, die das Gebiet parallel zur Schnellbahn vom Praterstern bis zur Freien Mitte auf einer Länge von 800 Metern durchzieht, ist die Hauptschlagader des Areals. Stadtauswärts läuft sie auf den Millenniumstower zu, stadteinwärts mündet sie in den Austria Campus, einen gigantischen Bürokomplex, der am Beginn der Allee vier Blockrandfelder beansprucht. Warum diese große Achse dann genau auf die Quadratlochfassade eines Bürohauses zuläuft, die bestenfalls Hinterhofqualität hat, bleibt ein städtebauliches Rätsel.

Schichtung mehrgeschoßiger Baukörper

Das Areal, das jetzt unter dem Namen Freie Mitte Nordbahnhof zusammengefasst wird, gliedert sich in acht Baufelder unterschiedlicher Dichte, worunter die auf einem Baufeld erzielbare Summe der Geschoßflächen dividiert durch die Grundfläche des Baufelds verstanden wird. Sie reicht in diesem Fall von einem Dichtewert von 2,5 nordöstlich der Stadtwildnis bis zu einem Wert von 5,0, der vor allem an der Nordbahnstraße erzielt wird, die jenseits der Stadtbahn parallel zur Marek-Allee verläuft. Möglich wird diese sehr hohe Dichte nicht zuletzt durch Hochhäuser mit Höhen zwischen 60 und 98 Metern, von denen die höchsten direkt an der Stadtwildnis gelegen sind.

Bereits fertiggestellt und bezogen ist ein Hochhaus am anderen Ende der Marek-Allee, das nach einem Entwurf von Querkraft Architekten vom Bauträger Strabag Real Estate errichtet wurde. Mit 60 Meter Höhe gehört das Taborama in eine Kategorie, die vor Jahren in einem Hochhauskonzept für Innsbruck als „Stadtelefant“ bezeichnet wurde. Es ist kein Turm, sondern eine Schichtung von vier mehrgeschoßigen Baukörpern, die locker übereinandergesetzt sind, sodass zwischen ihnen jeweils ein Fugengeschoß verbleibt. In diesen Geschoßen ist die Fassade so weit zurückversetzt, dass durchgehende Balkone entstehen, was es erleichtert, hier nicht nur Wohnungen, sondern auch Büroflächen unterzubringen.

Bibliothek und Boulder-Raum

In den übrigen Geschoßen sind die Balkone zwar individualisiert, aber Teil einer gemeinsamen begrünten Schichte vor der eigentlichen Fassade. Bei genauerer Betrachtung stellt man fest, dass der Vorhang aus Rankgerüsten im ersten und im dritten der gestapelten Blöcke dichter ausfällt als in den beiden anderen. Ursache dafür ist der Brandschutz, der einer durchgehenden Begrünung nicht zustimmte. So gibt es jetzt nur in den „intensiv“ begrünten Etagen Pflanztröge mit automatischer Bewässerung.

Überraschend für ein frei finanziertes Projekt ist das Angebot an gemeinsam genutzten Flächen. Es inkludiert eine kurzzeitig anmietbare Gästewohnung sowie ein Schwimmbecken auf der obersten Etage und in jedem zweiten Geschoß einen doppelt hohen Gemeinschaftsraum mit speziellen Angeboten, die von der Bibliothek bis zum Boulder-Raum reichen. Eine solche Ausstattung findet man in Wien üblicherweise bei Baugruppenprojekten, und es ist erfreulich, dass diese zumindest in Einzelfällen ansteckend auf den Mainstream wirken.

Nahe am Kitsch?

Wer nach innovativen Baugruppenprojekte sucht, findet am Ende der Bruno-Marek-Allee, an der Stadtwildnis gelegen, das Projekt HausWirtschaft des Büros Einszueins („Spectrum“, 25. November 2023): eine Baugruppe, die speziell auf die Interessen von Einpersonen- bzw. Kleinunternehmen zugeschnitten ist. Mit einer Kombination von 50 Prozent Wohn- und 50 Prozent Gewerbefläche mit gemeinsam nutzbarer Infrastruktur ist der Baugruppe ein durchschlagender Erfolg in einem Marktsegment gelungen, das von Bauträgern wegen des im Vergleich zum reinen Wohnbau höheren Vermietungsrisikos eher gemieden wird. Es bleibt zu hoffen, dass sich in den Erdgeschoßzonen im gesamten Areal ähnlich innovative Nutzungsmodelle entwickeln werden.

Ein Besuch im neuen Stadtteil lohnt sich jedenfalls, auch wenn viele Objekte noch in Bau und manche Straßen für Passanten noch nicht zugänglich sind. Die Bebauungsdichte an der Nordbahnstraße wird Anlass zur Diskussion geben, und auch die Stadtwildnis wirft noch Fragen auf: Kann es hier, angesichts des rundum massenhaft vergossenen Betons, wirklich eine Wildnis geben? Und ist eine künstliche Wildnis nicht ein Paradoxon, das gefährlich nahe am Kitsch liegt?

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